"100 Wörter für Schnee"

Hilft uns dieses Buch, Amerikas Grönland-Gier zu verstehen?

Zufall oder kluge Planung? Der neue Franzobel entführt nach Grönland – just als US-Präsident Trump die Insel wieder einmal für die USA beansprucht. Worum es in "100 Wörter für Schnee" geht, was das Buch mit Helmut Qualtinger zu tun hat – Angela Szivatz weiß es.

Donald Trumps Flugzeug mit Sohn Don Jr. an Bord in der grönländischen Hauptstadt Nuuk am 7. Jänner 2025: Die Gier der Amerikaner nach der Eis-Insel hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert – worüber der österreichische Autor Franzobel nun ein Buch geschrieben hat
Donald Trumps Flugzeug mit Sohn Don Jr. an Bord in der grönländischen Hauptstadt Nuuk am 7. Jänner 2025: Die Gier der Amerikaner nach der Eis-Insel hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert – worüber der österreichische Autor Franzobel nun ein Buch geschrieben hat
EMIL STACH / AFP / picturedesk.com
Angela Szivatz
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Auch wenn US-Präsident Donald Trump bereits in seiner ersten Amtszeit 2019 – damals allerdings noch mit etwas mehr Humor und weniger grimmig als heute – Grönland für die USA einforderte: Die Faszination der Amerikaner für die Eisinsel ist wesentlich älter als die politischen Ambitionen des Immobilienhais aus Manhattan. Schon im 19. Jahrhundert gehörte Grönland zu den Sehnsuchtszielen Amerikas – bei gleichzeitiger Ignoranz jeglicher Bedürfnisse und Traditionen seiner urtümlichen Bevölkerung.

Und obwohl sich die Motivation seither in einigen wesentlichen Punkten geändert hat – nicht mehr der Drang nach Ruhm und Ehre steht heute ganz oben, sondern wirtschaftliche und geostrategische Überlegungen – , scheint doch vor allem eins gleichgeblieben zu sein: Was die Bewohner Grönlands möchten, interessiert jenseits des Atlantiks kaum jemanden.

Eine besonders herzzerreißende Geschichte davon erzählt der österreichische Autor Franzobel in seinem neuen historischen Roman "100 Wörter für Schnee". Darin schildert er, wie US-Abenteurer zunächst die Nähe zu den grönländischen Ureinwohnern suchten, um mit ihrer Unterstützung schließlich den Nordpol zu erobern. Und diese dann gnadenlos ausbeuteten – sogar um den Preis ihres Lebens.

Wovon der neue Roman von Franzobel handelt, wie weit die Amerikaner bei ihrer "Eroberung" der Insel bereits gekommen sind und was man über die traditionelle Lebensweise der Grönländer wissen sollte – Angela Szivatz hat nachgelesen:

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf

Worum geht es in "100 Wörter für Schnee"?
Zunächst um Robert Edwin Peary, US-amerikanischer Abenteurer und Entdecker, der nach zahlreichen Grönland-Expeditionen ab dem Jahr 1886 im Jahr 1909 schließlich verkündete, als erster Mensch den Nordpol erreicht zu haben. Beinahe zeitgleich behauptet das aber auch Dr. Frederick Albert Cook, der bei Pearys erster Expedition im Jahr 1891 als Arzt und Ethnologe mit dabei war. Historisch waren beide Versionen Gegenstand heftiger Kontroversen. Der Wettkampf der beiden Männer ist eines der zentralen Elemente des Buches.

Was passiert noch?
Pearys Ehefrau Josephine Cecilia Peary, auch Jo genannt, bestand seinerzeit darauf, die ersten beiden Forschungsreisen mitzumachen. Sie gilt heute als die erste weiße Frau, die in der Arktis überwintert hat. Ihre Erlebnisse hat sie im Buch "My Arctic Journal. A Year among Ice-Fields and Eskimos" 1893 veröffentlicht. Im selben Jahr brachte sie in Nordgrönland ihre Tochter Marie Ahnighito zur Welt.

Robert und Josephine Peary mit ihrem Sohn Robert Jr. um 1910 in Berlin: Die Grönland-Expeditionen der Pearys waren der Ursprung der Grönland-Fixierung in den USA
Robert und Josephine Peary mit ihrem Sohn Robert Jr. um 1910 in Berlin: Die Grönland-Expeditionen der Pearys waren der Ursprung der Grönland-Fixierung in den USA
Haeckel Archiv / Ullstein Bild / picturedesk.com

Und die Einheimischen?
Sind die eigentlichen Stars des Buches - und werden von den Amerikanern dennoch die meiste Zeit über wie Wilde behandelt. Denn ohne ihre Unterstützung würden sich die amerikanischen Gäste kaum in der lebensfeindlichen Umwelt halten können. Die Inuit – die sich übrigens selbst auch als Eskimos bezeichnen – begleiten Robert Peary und sein Team bei ihren Vorstößen Richtung Nordpol, sie nähen ihnen Schutzanzüge aus Tierfellen, bauen für sie Schneeschuhe geben ihnen ihre Schlitten samt Schlittenhunden. Und sie beschenken sie mit Elfenbein, das sie von Narwalen und Walrossen gewinnen, sowie wertvollen Fellen.

Was bekommen sie dafür?
Nadeln und Werkzeuge, aber auch Tabak und Alkohol sowie – später – Schusswaffen. Für ein Gewehr – die Inuit nennen es "Wolkenwaffe" – wird Expeditionleiter Peary jener geheime Platz verraten, an dem die "Himmelssteine", drei Meteoriten aus Eisenerz, liegen, aus denen die Einheimischen seit Generationen ihr Metall gewinnen. Der Boden ist ja meterdick gefroren. Und obwohl den Inuit dieser Ort heilig ist, wird Peary später zwei der drei riesigen Gesteinsblöcke auf sein Boot bringen und in die USA mitnehmen.

Einer von zwei heiligen Meteoriten, den Robert Peary den Inuit wegnahm und in die USA verschiffte
Einer von zwei heiligen Meteoriten, den Robert Peary den Inuit wegnahm und in die USA verschiffte
SCIENCE PHOTO LIBRARY / Science Photo Library / picturedesk.com

Aber der Abenteurer Peary bringt nicht nur Meteoriten mit zurück nach Amerika …
Nein, er hat auch lebende "Fracht" mit dabei. Als "Mitbringsel" für einen reichen Investor in New York, der seine nächste Expedition finanzieren soll, lockt Peary den neunjährigen Inuit-Buben Minik und seinen Vater Qissuk unter falschen Versprechungen mit nach Amerika. Als sie zustimmen, besteht Peary darauf, noch weitere Inuit mit in die USA zu nehmen. Und so gehen 1897 schließlich 6 Inuit an Bord von Pearys Schiff, wo es rasch zu ersten "Culture Clashes", etwa weil ihnen niemand den Gebrauch einer Toilette erklärt hat.

Was passierte in den USA mit den Inuit?
Grönland-Forscher Peary gab sie förmlich im Naturkunde-Museum von New York ab und kümmerte sich fortan nicht mehr um sie. Im Museum wurden sie in einem feuchten Keller einquartiert, biometrisch vermessen und fotografiert. Gegen Eintrittsgeld durften Besucher ihnen beim Essen zuzusehen, wobei sich die Menschen vor allem darüber empörten, dass die fremden Menschen rülpsten, schmatzten, schlürften und mit den Fingern aßen. Und auch ihre Jagdgewohnheiten bereiteten den New Yorkern bald Kopfzerbrechen.

Welche Jagdgewohnheiten?
Auf Grönland wurden damals fast alle Tiere roh gegessen. Das vermissten die 6 Inuit, die im Keller des Museums hausen mussten. Also fingen sie streunende Hunde und Katzen, um endlich wieder rohes Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen.

Ein 10-jähriger Inuit-Bub verspeist einen rohen Fisch, den er kurz zuvor gefangen hat: Bei weitem nicht alle Lebensmittel werden auf Grönland gekocht
Ein 10-jähriger Inuit-Bub verspeist einen rohen Fisch, den er kurz zuvor gefangen hat: Bei weitem nicht alle Lebensmittel werden auf Grönland gekocht
Science Photo Library / picturedesk.com

Wie lange ging das gut?
Nicht sonderlich lange. Vier der sechs Inuit starben relativ bald nach ihrer Ankunft in den USA an Tuberkulose – ihr jungfräuliches Immunsystem hatte den Bakterien in der Millionenmetropole nicht das Geringste entgegen zu setzen. Doch statt sie ehrenvoll und nach den Ritualen der Inuit zu begraben, ließ das Museum die Leichen heimlich zerteilen und ihre Knochen auskochen. Danach wurden ihre Skelette im Museum ausgestellt. Ein Inuit forderte, dass man ihn nach Grönland zurückbringt. Nur der kleine Minik blieb in den USA.

Wurde er dort glücklich?
Nein, er war mittlerweile Waise – sein Vater war einer der Verstorbenen –  und wurde zwar von einer Familie aufgenommen, musste aber noch zahlreiche weitere Schicksalsschläge einstecken. Er kehrte kurzfristig nach Grönland zurück, war aber inzwischen vollkommen entwurzelt, ging wieder zurück in die USA und starb hier schließlich mit 28 Jahren an der spanischen Grippe.

Ist das ganze Buch so tragisch?
Durchaus nicht, es gibt auch viele humorvolle und skurrile Passagen. Vor allem das Thema Sex und den sehr freien Umgang der Inuit damit verwendet Autor Franzobel immer wieder für diverse Anekdoten. Etwa, dass Frauentausch unter den Inuit üblich war und der Vielfalt des Genpools diente. Oder als sich einmal Pearys Frau Josephine im Eis verirrt und von einem Inuit-Jäger gerettet wird und dieser von da an restlos davon überzeugt ist, dass ihm dafür ein Schäferstündchen mit der Frau zusteht.

In seinem neuen historischen Roman "100 Wörter für Schnee" berichtet der Autor Franzobel über die ambivalente Grönland-"Liebe" der Amerikaner
In seinem neuen historischen Roman "100 Wörter für Schnee" berichtet der Autor Franzobel über die ambivalente Grönland-"Liebe" der Amerikaner
Julia Haimburger

Und wird Mrs. Peary von ihrem Mann "verborgt"?
Nein, dazu kommt es nicht. Aber ungeachtet der ungewohnten erotischen Freizügigkeit, erweist sich Josephine Peary als einzige, die sich wirklich völlig auf die Lebensgewohnheiten und Gebräuche der Inuit einlässt. Sie isst Transuppe aus Tierfett und knorpelige Narwalhaut, die für sie "nach Nüssen und Austern schmeckt", halbvergorene Muscheln aus Robbenmägen und den Mageninhalt von Karibus oder Schneehühnern, der die einzige Form von Gemüse ist, die die Inuit essen. Nur als ihr und ihrem Mann verfaulte Seehundköpfe zum Verzehr angeboten werden, streikt sie wohlweislich.

Sie bekommt sogar ein Kind in der Arktis?
Ja, und das ganz und gar nicht zufällig. Sie wird in den USA schwanger, möchte aber unbedingt mit ihrem Mann zurück nach Grönland. Also wird eine Hebamme gesucht, die bereit ist, mitzukommen – ein gewisses Fräulein Cross. Am 12. September 1893 wird das "Schneebaby" geboren, eine "Panik", wie die Inuit sie nennen - also eine Tochter. Sie wurde 85 Jahre alt, starb 1978.

Wer hat schließlich den Wettlauf zum Pol gewonnen, Peary oder Cook?
Im April 1909 verkündete Frederick Cook der mittlerweile zu Pearys Konkurrenten avanciert war, über Telegramme nach Dänemark und an den New York Herald, er wäre der erste Mensch am Pol gewesen. Zunächst wird er als Held gefeiert, doch nur wenige Tage später verkündet unabhängig davon auch Peary, seine Mission endlich erfüllt zu haben. Sein Telegramm kommt fünf Tage später, die New York Times schlägt sich schließlich auf Pearys Seite.

Der Wettlauf der beiden Amerikaner Robert Edwin Peary (1856-1920) und Frederick Albert Cook (1865-1940, r.) zum Nordpol in einer satirischen Darstellung der französischen Zeitung "Le Petit Journal
Der Wettlauf der beiden Amerikaner Robert Edwin Peary (1856-1920) und Frederick Albert Cook (1865-1940, r.) zum Nordpol in einer satirischen Darstellung der französischen Zeitung "Le Petit Journal
Universal History Archive / Science Photo Library / picturedesk.com

Und wer war jetzt wirklich Erster?
Einen klaren Sieger gibt es bis heute nicht. In der Folge begann eine Lobbyismus-Kampagne und als weitere Folge eine Medienschlacht, die Autor Franzobel sehr glaubhaft darstellt.

Apropos, wie recherchierte der Autor eigentlich für das Buch?
Franzobel hat dafür Nordgrönland bereist und sich in den USA und Kanada auf die Suche nach Spuren des Inuit-Buben Minik begeben. "Nordgrönland war gewaltig", berichtet der 58-Jährige. Die Leute dort jagen noch immer auf traditionelle Art. Ich habe zugesehen, wie man Narwale und Walrösser zerteilt, zum Geburtstagsfest eines Kindes gab es rohe Robbe, der man den Bauch aufgeschnitten hat."

Wer ist Franzobel eigentlich?
Der Autor wurde 1967 als Franz Stefan Griebl in Vöcklabruck in Oberösterreich geboren. Er absolvierte ein Studium der Germanistik und Geschichte in Wien und arbeitete nebenbei als Statist am Burgtheater. Unter dem Pseudonym "Franz Zobl" war er bis 1991 auch als bildender Künstler tätig. Der Name war eine Kombination aus dem Vornamen seines Vaters und dem Geburtsnamen seiner Mutter.

DiIe überwiegende Mehrheit der Grönländer steht dem "Liebeswerben" der Amerikaner ablehnend gegenüber
DiIe überwiegende Mehrheit der Grönländer steht dem "Liebeswerben" der Amerikaner ablehnend gegenüber
Zhang Yuliangtonglian Xinhua / Eyevine / picturedesk.com

Wofür sollte man den Autor kennen?
Der erste große Preis für sein literarisches Wirken war der Ingeborg-Bachmann-Preis 1995. Er erhielt weiters den Arthur-Schnitzler-Preis, die Bert Brecht Medaille, den Nestroy Theaterpreis und einige mehr. Mit seinen historischen Romanen "Das Floß der Medusa" und "Die Eroberung Amerikas" war Franzobel in den letzten Jahren auf der Long- und Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden.

Lohnt sich "100 Wörter für Schnee"?
Auf jeden Fall! Besonders für Liebhaber von Abenteuergeschichten und ganz besonders wegen der mutigen Josephine Peary! Neben den vielen belegten historischen Fakten und den opulenten Naturschilderungen, die Franzobel eingebaut hat, sind es auch die fiktionalen Momente und Passagen wert: Die sprachliche Zeichnung der Hauptfiguren, die skurrilen Begegnungen mit Geisterwesen und der "Blick von außen" auf unsere westliche Gesellschaft.

Was hat das alles mit Helmut Qualtinger zu tun?
Die zunehmende geopolitische Bedeutung Grönlands durch das Hegemonialstreben der USA findet ebenfalls Platz im Buch. Und vermittelt dadurch eine Eindruck von der Bedrohung für diese Region und ihre Bewohner durch die aktuelle Situation. Und anders als im Jahr 1951 bei Helmut Qualtinger ist die Bedrohung derzeit leider sehr real.

Hielt als vermeintlicher "Eskimo-Dichter" Kobuk halb Österreich zum Narren: Legende Helmut Qualtinger
Hielt als vermeintlicher "Eskimo-Dichter" Kobuk halb Österreich zum Narren: Legende Helmut Qualtinger
Heinz Köster / Ullstein Bild / picturedesk.com

Wovon sprechen wir hier?
Der große österreichische Kabarettist der Nachkriegszeit hatte im Jahr 1951 auf gestohlenem Briefpapier des PEN-Clubs den Besuch des "Eskimo-Dichters Kobuk" in Wien angekündigt – und war dann selbst, im Pelzmantel und mit Pelzmütze verkleidet, aus einem Zug am Wiener Westbahnhof gestiegen. Und als der falsche Eskimo-Dichter schließlich hehauptete, er wolle die Wiener Eisrevue nach Grönland engagieren, wurden das damals von der gesamten Journaille geglaubt.

Letzte Frage: Haben die Inuit jetzt wirklich "100 Wörter für Schnee"?
Nein, das ist ein Mythos, eine "Urban Legend". Einige Wörter bezeichnen die verschiedene Schnee-Formen. Aber es sind letztlich nicht mehr unterschiedliche Wörter als in anderen Sprachen auch.

"Hundert Wörter für Schnee", Franzobel, Zsolnay Verlag, 28,80 Euro
"Hundert Wörter für Schnee", Franzobel, Zsolnay Verlag, 28,80 Euro
Zsolnay Verlag

"Hundert Wörter für Schnee" von Franzobel, Historischer Roman, 528 Seiten, Zsolnay Verlag, 28,80 Euro

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