Wien prescht vor
Löst das Handy-Verbot wirklich unsere Schul-Probleme?
Immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen Symptome schwerer psychischer Beeinträchtigungen. Ärzte und Lehrerinnen* glauben zu wissen, warum: Sie hängen zu viel am Handy – und haben die "falschen" Eltern, erklärt Niki Glattauer. Helfen strenge Regeln?

Es sorgt inzwischen für Schlagzeilen, wie das Dürer-Gymnasium im bayrischen Nürnberg seit Mai notorisches Zuspätkommen ahndet: mit Geldstrafen – verhängt durch den Magistrat. Kommt ein (Oberstufen-)Schüler zu spät, muss er sich zunächst im Sekretariat melden, dort wird ihm ein Verzugsschein ausgestellt.
5 Euro Strafe Passiert das mehrmals, wird der Schüler zunächst verwarnt, dann übergibt die Schule den Fall an die Bußgeldstelle der Stadt. Der Magistrat verhängt dann ein Bußgeld: 5 Euro pro Tag, den der Schüler unentschuldigt gefehlt hat oder zu spät gekommen ist.
Es geht nicht nur um Disziplin Was wirkt, wie das Herstellen von Disziplin à la Blau-Schwarz (das ja jetzt doch nicht passieren wird), hat in Wahrheit einen anderen Hintergrund: Dem Dürer-Gymnasium geht es um die psychische Verfassung seiner (Problem-)Schüler.

Es ist die Psyche, Dummkopf! Schulleiter Reiner Geißdörfer auf spiegel.de: Ursprünglich habe man mit dem Bußgeld Schüler erreichen wollen, bei denen sich eine Art "Hop on, hop off"-Mentalität breitgemacht habe, und "denen man für ihren späteren Lebensweg mitgeben" wolle, "dass es so nicht geht". Tatsächlich stellte sich aber schnell heraus, dass meistens sozio-emotionale Störungen bis hin zu ernsten psychischen Problemen verantwortlich sind, dass es Jugendliche nicht oder nur erheblich verspätet zum Unterricht schaffen.
Corona war eine Zäsur Depressiv, verängstigt, permanent unausgeschlafen der eine; aggressiv, überdreht, permanent provozierend die andere – kein Lehrer, wie ich behaupte, der solche Schüler nicht in seinen Klassen hat, und sich fragt: warum? Im Falter widmete sich dem Thema unlängst die Wissenschafts-Redakteurin Anna Goldenberg, die den "Pre-print" der noch nicht veröffentlichten deutschen "Copsy-Studie" gelesen hatte. "Copsy" steht für Corona und Psyche und erhebt seit 2021, wie es Kindern und Jugendlichen psychisch so geht. Und zwar ausgehend von Corona, zeitlich in beide Richtungen.

Das Sample ist repräsentativ Erhoben wurde bei 2.800 deutschen Familien, die die aktuellen Gesellschaftsstrukturen weitgehend widerspiegeln. So entsprechen die Befragten prozentuell der tatsächlichen Stadt-Land-Verteilung in Deutschland, sie stammen aus verschiedenen Alterskohorten, haben zu einem Fünftel Migrationshintergrund, sind zu ebenso einem Fünftel alleinerziehend, usw. Für die Vergleiche mit den 10er-Jahren dieses Jahrhunderts wurden die Werte anderer kanonisierter Studien herangezogen.
Das Ergebnis ist ernüchternd Die psychischen Probleme sind im Vergleich mit den drei "harten" Corona-Jahren inzwischen zwar wieder leicht rückläufig, verglichen mit den Jahren davor aber signifikant gestiegen. Das äußert sich in Angstsymptomen und Depressionen, aber auch in einer Reihe spezifischer Verhaltensweisen wie Wutanfällen, Konzentrationsschwierigkeiten, Lügen oder Stehlen. Zwei Zahlen: Fast jedes vierte Kind (23 Prozent) beschreibt selbst Angstsymptome, bei mehr als jedem fünften (22 Prozent) "diagnostizieren" Eltern bei ihren Kindern "psychische Auffälligkeiten".

600 Kinder waren in Wien stationär Tatsächlich zeigen auch andere Untersuchungen – und damit Blickwechsel nach Österreich –, dass der Anteil psychisch belasteter Schüler mit Schulängsten, die bis zur Schulverweigerung führen, seit Jahren zunimmt. Und zwar gewaltig: Anna Goldenberg zitiert in Zusammenhang mit der "Copsy-Studie" den Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner: Der spricht, was die stationären Aufenthalte auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie angeht, von einer Verdoppelung der Fälle in den letzten sieben Jahren. Im Vorjahr betraf das 600 Kinder und Jugendliche – nicht wenige mehrmals.
Dr. Med. bestätigt "Die Belastung ist über dem Niveau vor der Pandemie", bestätigt Paul Plener, der die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien leitet und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. "Die 'Copsy'-Ergebnisse passen ganz gut mit dem klinischen Eindruck zusammen."
Zu wenig Kliniken, zu wenig Psychiater Für nachhaltige Hilfe fehle es an allen Ecken und Enden: An manchen Kliniken gebe es zu wenig Pflegepersonal, an anderen nicht genügend Ärzte. Dazu komme der Mangel an Kassenstellen. Nur 14 Kinder- und Jugendpsychiater in Wien hätten Ordinationen mit Kassenverträgen, hingegen 40 einen Wahlarztvertrag. Dort heißt es aber für die Patienten, selbst zu zahlen. Was gerade Jugendliche meistens nicht könnten.

Fast 10 Prozent denken an Selbstmord** Erst im Dezember veröffentlichte die Zeitung Heute die alarmierenden Ergebnisse einer Studie des ärztlichen Direktors der Barmherzigen Brüder Salzburg, Primarius Friedrich Hoppichler. Demnach zeige jedes 5. Mädchen und jeder 10. Bursch Anzeichen einer "seelischen Verstimmung" bis hin zur Depression. "Das sind mehr als Hunderttausend Heranwachsende", so Hoppichler. Eine Erhebung von Uni und MedUni Wien, die Anfang des Jahres präsentiert wurde, bestätigt den Befund: 9 Prozent aller Jugendlichen in Österreich denken regelmäßig an Suizid.
Sozial schwach macht krank Ein nicht ganz unerwartetes Phänomen zeigt die "Copsy-Studie" auch auf: Kinder sozial benachteiligter und bildungsferner Eltern sind besonders gefährdet. So besteht die Risikogruppe mehrheitlich aus Kindern, deren Eltern 1.) Geldsorgen haben und ihnen von diesen erzählen, 2.) in räumlich beengten Verhältnissen leben, 3.) keine höhere Bildung haben, 4.) selbst an psychischen Problemen leiden – und/oder 5.) zugewandert sind.
5.000 in der "Spezialschule" Genau mit Kindern und Jugendlichen dieses Zuschnitts ist Schuldirektorin Daniela Jagsch Tag für Tag konfrontiert. Meine Kollegin von früher, ausgebildete Sonderpädagogin wie ich, leitet seit mehreren Jahren die Heilstättenschule in Wien. Ihre Klassen – eigentlich Gruppen, nicht Klassen – sind nicht nur ausgebucht, sie sind überbucht – mit Kindern und Jugendlichen, die schulpflichtig sind, aber aus gesundheitlichen Gründen in keine "normale" Schule gehen können.

Drogenentzug mit 13 Es sind Heranwachsende, die morgens wegen Depressionen nicht aus dem Bett kommen, Teens, die bereits mit 13, 14 Jahren Drogenentzüge hinter sich haben, Kinder, die im Volksschulalter Sessel durchs Klassenzimmer schleudern. Alle sechs Wochen erarbeitet eine "Förderkommission" eine Liste mit neuen Anwärtern. Bis zu 100 Namen stehen da jedes Mal drauf.
Kratzen, spucken, beißen Daniela Jagsch weist inzwischen auch in den Medien auf einen absoluten Notstand hin. In einem Interview mit Falter-Chefreporterin Nina Horaczek: "Die Folgeerscheinungen unbehandelter psychischer Erkrankungen sind teilweise so massiv, dass an Unterricht nicht zu denken ist. Kratzen, Haare reißen, Spucken, Beißen sind an der Tagesordnung, Prostitution, sexuelle Gewalt und Drogenkonsum keine Seltenheit mehr."
Schule? Interessiert meine Mutter nicht "Vor kurzem", erzählt Daniela Jagsch, "wurde ein 14-jähriges Mädchen wegen einer Überdosis ins Spital eingeliefert. Als meine zuständige Lehrerin gefragt hat, wo sie in die Schule geht, um dort Kontakt aufzunehmen, hat die Schülerin geantwortet: 'Sie brauchen dort nicht anrufen. Ich gehe seit September nicht mehr hin. Das interessiert dort niemanden. Auch meine Mutter nicht – sie ist selber nie zur Schule gegangen.'"

Ein Einzelfall? Nein, sagt die Direktorin. "Wir erleben zunehmend, dass Schulen aus nachvollziehbaren Gründen die Herausforderungen nicht mehr schaffen und manchmal erleichtert sind, wenn schwierige Schülerinnen und Schüler nicht kommen. Die Probleme erfordern sonderpädagogisches Know-how und medizinische Unterstützung. Dafür werden Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr ausgebildet."
Früher wurde man damit fertig Sei das früher anders gewesen? "Ja. Heute gibt es aufgrund des Ärztemangels kaum noch vollstationären Betrieb in den Kinder- und Jugendpsychiatrien. Auch schulisch gelang es uns früher, die besonders schwierigen Fälle in einer Förderklasse innerhalb von ein bis zwei Jahren zu stabilisieren und danach in eine normale Klasse zurückzuführen. Heute schaffen wir das nicht mehr. Die Verhaltensauffälligkeiten sind zu groß und würden eine Klasse mit 25-30 Schülerinnen und Schülern sprengen."
Eltern haben Bauchgefühl verloren In den vergangenen 10, 15 Jahren habe sich der familiäre Umgang verändert. Eltern seien verunsichert, überfordert, hätten Ängste, wodurch eine klare Linie in der Erziehung verloren gehe. Einerseits würden viele Eltern ihren Kindern immer weniger zumuten, jeden ihrer Schritte per Handy überwachen, andererseits tolerierten sie Dinge und Verhaltensweisen, die früher verboten oder tabu gewesen wären – und überforderten die Kinder damit. Daniela Jagsch: "Heute haben immer weniger Eltern dieses sogenannte Bauchgefühl dafür, was in der Kindererziehung richtig oder falsch ist."
Und dann: das Handy.

Die Kinder hängen am Smartphone "Wir sehen mittlerweile auch die negativen Auswirkungen von Smartphones in der Kindheit", so Daniela Jagsch: "Kinder verbringen unglaublich viel Zeit am Handy, holen sich Bestätigung und Aufmerksamkeit aus den sozialen Medien und haben keine sozialen Kontakte mehr. Manche dieser Kinder entwickeln eine Handys-Sucht und brauchen einen Entzug. Schon in den Kindergärten gibt es zunehmend Kinder, die keine altersentsprechende Sprache haben, weil ihre Eltern kaum mit ihnen sprechen und das Smartphone 'Hauptbezugsperson' ist."
Handy-Studie mit klarem Ergebnis Geht es "digital addicts" psychisch nun tatsächlich schlechter? Christoph Pieh, Professor für Psychosomatik und Gesundheitsforschung an der Donau-Universität Krems, versuchte diese Frage zu klären. Er führte an 120 psychisch beeingträchtigten jungen Erwachsenen einen Langzeitversuch mit Handyentzug durch. Auch diese Studie ist noch im Begutachtungsstadium und unveröffentlicht.
Runter vom Display … Vor Beginn der Studie hatten die Testpersonen, die zu ihrer Befindlichkeit befragt und getestet wurden, ihr Smartphone im Schnitt viereinhalb Stunden am Tag genutzt. Innerhalb von drei Wochen mussten sie den Konsum unter Anleitung auf weniger als zwei Stunden hinunterschrauben. Am Ende dieser Phase 1 wurden sie zum zweiten Mal befragt und getestet.

… dann wieder rauf Zwei Wochen nach Ende der "Detox"-(= Entgiftungs-)Intervention – Phase 2 – befragten Pieh und sein Team die jungen Menschen ein drittes Mal. Sie waren inzwischen wieder zu ihrem gewohnten Handy-Gebrauch zurückgekehrt.
Und siehe da! Nach Phase 1 waren die depressiven Symptome gegenüber der Zeit vor dem Entzug um 27 Prozent zurückgegangen. Die Probanden schliefen besser, ihr allgemeines Wohlbefinden war angestiegen. Doch nach Phase 2 ging es allmählich wieder bergab. Sein Fazit formulierte Professor Pieh wissenschaftlich vorsichtig: "Man könnte einen kausalen Zusammenhang vermuten."
Digitaler Autismus Heilstätten-Schulleiterin Daniela Jagsch verzichtet auf den Konjunktiv und spricht sogar von "digital autism": "Die Autismus-Diagnosen in den Schulen gehen mittlerweile durch die Decke. Mindestens jedes zweite Kind, das wir in der Förderkommission besprechen, hat eine Diagnose im Autismus-Spektrum. Ich fürchte, dass das in vielen Fällen eine Art 'digital autism' ist, also ein durch die Digitalisierung ausgelöstes Verhaltensmuster, das dem Autismus sehr ähnlich ist."
Ursache oder Wirkung? Diese Frage ist freilich ungeklärt. Greifen Jugendliche, die psychisch labil und eventuell bereits beeinträchtigt sind, eher zu Smartphones als "gesunde"? Oder werden sie erst an der "digitalen Leine" krank? Faktum ist, dass der Digital-Konsum Einfluss auf das Befinden hat. In der "Copsy-Studie" gab immerhin ein Drittel der Befragten an, sich von den Algorithmen-gesteuerten Inhalten "oft belastet zu fühlen".

213 Minuten täglich online Bei der Gelegenheit noch eine Zahl: Ein Team um den Journalisten Golli Marboe, Initiator des Mental Health Days, befragte 15.000 Schüler nach ihrem Handy-Konsum. Ergebnis: Im Schnitt werden täglich 213 Minuten am Handy verbracht …
Wien setzt jetzt auf ambulant In Österreichs Gesundheitsbehörden scheint man – das ist die gute Nachricht – langsam in die Gänge zu kommen. Vorreiter ist einmal mehr Wien. Noch diesen Winter wird in Wien 9 die fünfte Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie eröffnet. Laut Koordinator Ewald Lochner werde man damit 3.000 junge Menschen ambulant "auf hohem Niveau" betreuen können.

Für Schulleiter gibt es eine Hotline In ein neues Projekt der Stadt Wien fließt auch die Expertise aus dem Pilotprojekt "Klipsy School" des Psychosozialen Dienstes (PSD) ein, im Zuge dessen Pflichtschüler in Favoriten betreut wurden. Bis Ende des ersten Quartals 2025 sollen 15 Schulen in Favoriten und Margareten durch multiprofessionelle Teams, bestehend aus klinischen Psychologen, Sozialpädagogen, Sozialarbeitern und bei Bedarf Ergotherapeuten, betreut werden, Einrichtung einer Hotline für die Schulleitungen inklusive. Im Endausbau werden wienweit 17 multiprofessionelle Teams an 52 Pflichtschulstandorten für 15.000 Schüler im Einsatz sein.
20.000 sind zu krank für Schule Ja, und dann sind da noch die, die trotz Schulpflicht unter dem Radar der Schule bleiben, Kinder und Jugendliche, an die keiner denkt. 20.000 "Schüler", schätzt Daniela Jagsch, würden auf Grund schwerer chronischer Erkrankungen – zuletzt sei auch noch Long Covid dazugekommen – in keiner Schule und nur in Ausnahmefällen zuhause unterrichtet werden.
20.000 Kinder, deren Eltern wohl gern 5 Euro Bußgeld zahlen würden, kämen ihre Kinder dann und wann unpünktlich zum Unterricht …
* Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mit gemeint
** Sie denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in Ihrem Bundesland.
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010