Nach 14 Jahren Krieg
Bringt dieser Islamist Syrien Frieden oder neue Tyrannei?
Die Fakten zum neuen, alten Krisenherd: Was man über den aktuellen Machthaber in Damaskus weiß. Wie in den Terror-Gefängnissen von Assad verzweifelt nach Überlebenden gesucht wird. Was das alles für die Flüchtlinge in Österreich und in der Welt heißt.
Diese Bilder gehen um die Welt. Und sie erschüttern. Am Tag davor war das syrische Regime endgültig kollabiert. Am Montag suchten hunderte Menschen im berüchtigten Folter-Gefängnis von Saidnaja nördlich von Damaskus nach verschollenen Angehörigen.
Mit KI-Stimme Illy: Das müssen Sie über Syrien wissen
Das Gefängnis, das auch den Beinamen "Schlachthaus" trug, war eines von vielen, in denen das Regime seine Gegner für immer weg sperrte, sie folterte und ermordete.
Der Horror im "Schlachthaus" Hunderttausende Menschen verschwanden. Einige von ihnen könnten noch leben. Eingesperrt in den verliesartigen Kerkern der Gefängnisse. Jetzt suchen Soldaten der Rebellen, gemeinsam mit Kräften der privaten Zivilschutzorganisation "Syriah Civil Defense", die als die "Weißhelme" im ganzen Land ein Begriff sind, nach Überlebenden in den Kerkern Assads.
Jahrzehntelange Tortur Viele Menschen, die bisher gefunden wurden, waren seit Jahren, manche seit Jahrzehnten eingekerkert. Einige wussten nicht einmal, dass Staatschef Hafiz al-Assad, der Vater des jetzt geflohenen Baschir al-Assad, tot ist – er starb vor 24 Jahren.
Wettlauf gegen die Zeit Doch den Hilfskräften läuft die Zeit davon. Denn die Gefängnisaufseher haben die Anstalten fluchtartig verlassen – und die elektronischen Codes für viele der Zellen mitgenommen. Andere Zellen wurden einfach zugemauert.
Deshalb gibt es jetzt im Fernsehen Aufrufe an ehemalige Wärter, die Geheimzahlen zu verraten. Und deshalb suchen die "Weißhelme" auch mit Spürhunden nach Gefangenen. Während die Angehörigen der Verschleppten vor den Gefängnismauern warten und hoffen, dass ihre Vermissten doch noch lebend gefunden werden.
Syrien am Tag 1 nach dem Ende der Diktatur
Beinahe 14 Jahre dauerte der Bürgerkrieg in Syrien. Er kostete hunderttausende Menschenleben, trieb Millionen Syrer ins Exil und zerstörte beinahe das gesamte Land. Und am Ende dauerte es keine 14 Tage, um diesen Krieg zu beenden.
Am Sonntag, dem 8. Dezember, übernahmen die Truppen der islamistischen Gruppe HTS die Hauptstadt Damaskus, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Der Anführer der HTS, Abu Muhammad al-Dschawlani, gab sich in der Folge betont sanft. Auch die siegreichen Truppen treten auffallend wenig martialisch auf.
Wie brüchig ist der Friede? Ob das allerdings von Dauer ist, muss sich erst zeigen. Noch ist das Land geeint in der Freude über das Ende der 54 Jahre langen Diktatur des Assad-Clans. Aber schon bald dürften die ersten Bruchlinien in den Reihen der Sieger sichtbar werden. Der Kampf um Macht und Einfluss wird an Intensität zunehmen - und das Land neuerlich auf eine Probe stellen.
Wie stabil die momentane Waffenruhe in Syrien ist, wie die Chancen auf einen echten Frieden stehen und was diesen gefährden könnte –was Sie über die Situation in Syrien wissen müssen:
Wie lange herrschte in Syrien jetzt Bürgerkrieg?
Beinahe 14 Jahre lang. Im März 2011 – dem Jahr des sogenannten "Arabischen Frühlings" – gab es friedliche Proteste in der südsyrischen Stadt Daraā gegen die Verhaftung mehrerer Jugendlicher, die politische Parolen an Wände gesprayt hatten. Diese Proteste wurden von der Regierung blutig niedergeschlagen – der Anfang einer Gewalteskalation, die mit der Zeit zu Kämpfen im ganzen Land führte und Syrien in mehrere, von verschiedenen Parteien kontrollierte Teile zerfallen ließ.
Welche Parteien waren bzw. sind das?
Zunächst die regierungstreuen Truppen von Diktator Assad, die auch von russischen und iranischen Einheiten unterstützt wurden. Dann kurdische Kämpfer, die vor allem im Norden des Landes Territorien eroberten. Zudem die Kräfte der syrischen Opposition und mehrere islamistische Gruppierungen wie der Islamische Staat und die al-Nusra-Front, die sich später in HTS umbenannte und nun den Sturz des Regimes maßgeblich herbeiführte. Die Türkei und die USA mischten mit eigenen Truppen mit. Dazu kamen Luftangriffe Israels auf vom Iran entsendete Hisbollah-Einheiten auf Seiten Assads.
Und wie konnte das jetzt so rasch beendet werden?
Die islamistische Gruppierung HTS – die Abkürzung steht für Hajat Tahrir al-Scham, was so viel heißt wie "Komitee zur Befreiung der Levante" – und verbündete syrische und kurdische Milizen begannen am 27. November eine Offensive. Den Anfang machte Aleppo. Zunächst leisteten die Regierungstruppen noch Widerstand, auch Russland flog Luftangriffe gegen die Aufständischen. Trotzdem konnten die Koalitionstruppen Syriens zweitgrößte Stadt letztlich binnen zwei Tagen einnehmen.
Was überraschte dabei?
Die Geschwindigkeit. Es folgten Offensiven gegen die Städte Hama und Homs weiter südlich. Auch hier leisteten Assads Truppen kurz Widerstand. Am 7. Dezember rückten die Islamisten in Homs ein. Ihr Anführer Abu Muhammad al-Dschawlani motivierte seine Truppen: "Damaskus wartet auf euch!"
Was war das Ende?
In der 160 Kilometer südlicher gelegenen Hauptstadt lagen die Nerven längst blank. Assad verließ schließlich das Land per Flugzeug. Wer ihn begleitete ist derzeit noch nicht klar. Als die Aufständischen schließlich am 8. Dezember auf Damaskus vorrückten, leistete die Armee keinen Widerstand mehr und nach 12 Tagen Offensive wurde die 4-Millionen-Metropole kampflos übernommen und der Bürgerkrieg damit zunächst einmal beendet.
Wo sind Assad und seine Familie jetzt?
Sie sind nach Moskau geflohen, wo Assad und sein Clan "humanitäres Asyl" erhielten, wie russische Agenturen unter Berufung auf einen Vertreter des russischen Präsidialamts berichteten. Bewilligt habe das Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich, teilte sein Sprecher, Dmitri Peskow, mit. In Moskau besitzt der syrische Diktator laut Medienberichten zahlreiche Luxusimmobilien.
Ob er und seine Familie – Ehefrau Asma und die Kinder Hafez, 23, Karim, 19 und Tochter Zeinep, 21 (siehe Instagram-Bild unten). allerdings wirklich in ihren Moskauer Apartments sind, oder vom Geheimdienst FSB (dem Nachfolger des KGB) versteckt gehalten werden, ist nicht bekannt.
Warum leistete die Armee keinen Widerstand mehr?
Das hat wohl mehrere Gründe. Erstens hatte sie in den Tagen zuvor erlebt, dass sie den Angreifern nur wenig entgegenzusetzen hatte. Zweitens erhielt die keinerlei Unterstützung mehr von russischer Seite. Drittens ist die Flucht des Machthabers natürlich ein fatales Signal an die eigenen Truppen. Und viertens ist davon auszugehen, dass Rebellen-Anführer al-Dschawlani Emissäre zur Armeeführung schickte und ihnen Zusagen gegen Einstellung der Kämpfe machte. Es gibt allerdings auch Berichte von tausenden syrischen Regierungssoldaten, die sich ins Nachbarland Irak abgesetzt hätten.
Das erinnert alles an den rasend schnellen Vormarsch der Taliban in Afghanistan, oder?
Ja, dort war die Situation zumindest ähnlich. Die westlichen Koalitionstruppen unter Führung der USA zogen überstürzt ab und die afghanische Armee konnte sich den Taliban gar nicht schnell genug ergeben bzw. überlaufen. Hier war es zwar nicht ganz so offensichtlich, aber am Ende war das Ergebnis ähnlich.
Weshalb hat Russland Assad nicht mehr unterstützt?
Dazu gibt es nur Spekulationen. Russland war bereits seit den 1970er-Jahren die militärische Schutzmacht des Assad-Clans und bekam dafür einen Mittelmeer-Hafen für seine Marine sowie weitere militärische Einrichtungen zur Verfügung gestellt.
Angenommen wird, dass Russland seine militärischen Anstrengungen auf den Ukraine-Krieg konzentriert und schlicht nicht genügend Mann und Material für Syrien übrig hatte. Möglich wäre auch, dass Putin und seine Berater die ausweglose Lage Assads erkannt haben und deshalb beschlossen, nicht mehr in den Konflikt einzugreifen.
Was wird jetzt mit den russischen Militärbasen geschehen?
Die möchte Putin vorerst (?) weiterhin behalten. Schließlich ist der Marinehafen mittlerweile der einzige direkte Zugang Russlands zum Mittelmeer, nachdem es ja die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten nicht mehr gibt. Man werde mit der künftigen Regierung Syriens über den Weiterbetrieb der Militärbasen "ein ernsthaftes Gespräch" führen, kündigte der russische Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow am Montag an. Bis dahin ergreife man "Vorsichtsmaßnahmen".
Und der Iran?
Der ist vor allem mit der von ihm finanzierten Hisbollah-Miliz in Syrien präsent gewesen und leistete Unterstützung für Assads Truppen. Doch die Hisbollah ist seit mehr als einem Jahr (nach dem Massaker von 7. Oktober 2023) in einen zermürbenden Krieg mit Israel verstrickt und hat durch zahllose israelische Luftschläge schwerste Verluste hinnehmen müssen. Offenbar ist die Hisbollah schlicht nicht mehr in der Lage gewesen, entscheidend in den Konflikt einzugreifen.
Was bedeutet das für den Mullah-Staat?
Das ist eine entscheidende Schwächung, denn der Iran kann die von ihm unterstützten Milizen (eben die Hisbollah sowie die Hamas in den von den Palästinensern geführten Gebieten) auf dem Landweg nur über Syrien versorgen. Diese Route fällt jetzt einmal weg.
Wie reagierte die syrische Bevölkerung auf den Sturz Assads?
Mit Begeisterung – zumindest jener Teil der Bevölkerung, der seine Meinung auf der Straße lautstark kundtat. Viele schienen es am Montag noch gar nicht richtig glauben zu können. Darauf lassen jedenfalls die Bilder von staunenden Menschen schließen, die in der Hauptstadt zwischen verlassenem Militärgerät herumstreiften und Selfies machten.
Und die Syrer im Ausland?
Unter den knapp 7 Millionen ins Ausland geflohenen Syrern herrschte grenzenlose Begeisterung. In zahlreichen Ländern kam es am Sonntag zu spontanen Freudenkundgebungen – so auch in Wien, wo sich bis zu 30.000 Syrer in der Innenstadt versammelten und jubelten.
Wie funktioniert das öffentliche Leben in Syrien derzeit?
Die Geschäfte haben laut Berichten geöffnet, die Lage auf den Straßen sei normal, heißt es. Allerdings sind unzählige Staatsbedienstete nicht zur Arbeit erschienen, darunter auch Polizei, Grenzschutz und Zoll, was vieles verzögert und erschwert.
Weshalb das?
Vor allem Hilfslieferungen der UNO für die hungerleidende Bevölkerung – aufgrund der desaströsen Wirtschaftslage sind geschätzte 16 Millionen Syrer auf Hilfe angewiesen – werden erschwert, weil es derzeit keine Beamten gibt, die diese abfertigen könnten. "Die bewaffneten Kämpfer in den Straßen verängstigen die Bevölkerung", konstatierte der UN-Koordinator , Adam Abdelmoula.
Zeigen sich die siegreichen Truppen übergriffig?
Davon ist jedenfalls nichts zu hören. Im Gegenteil. Ihr Anführer, Abu Muhammad al-Dschawlani, gibt sich alle Mühe, den vernünftigen und moderaten Staatsmann herauszukehren. So hat er seinen Kämpfern u.a. verboten, in die Luft zu schießen (eine in der Region beliebte Form, seine Begeisterung über einen Triumph zu zeigen). Auch dürften Frauen keine Vorschriften bezüglich ihrer Kleidung gemacht werden. Und er verkündete eine Generalamnestie für alle Wehrpflichtigen, sprich Regierungssoldaten.
Ist Abu Muhammad al-Dschawlani vertrauenswürdig?
Man sollte dabei nicht übertreiben. Er hat eine Vergangenheit als Al-Kaida- und IS-Kämpfer, gründete zu Beginn des Bürgerkrieges die islamistische al-Nusra-Front und wandelte diese später in die heutige HTS um. Aufgrund seiner radikalen Vergangenheit haben ihn die USA am 16. Mai 2013 zum Terroristen erklärt und ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt.
Ob er sich gewandelt hat und das auch bleibt? Man wird es sehen.
Wie geht es in Syrien jetzt weiter?
Al-Dschawlani hat angekündigt, den bisherigen Ministerpräsidenten Mohammad Ghazi al-Dschalali interimsmäßig weiter im Amt zu belassen, bis freie Wahlen durchgeführt werden können. Auch 18 der bisherigen Minister des Landes haben daraufhin erklärt, die Amtsgeschäfte weiter durchführen zu wollen. Ob dieser Plan allerdings realistisch ist, wird von vielen Experten wie dem deutschen Terrorismusforscher Peter Neumann jedoch bezweifelt.
Weshalb wird das bezweifelt?
Aufgrund der Vielschichtigkeit der Lage im Land. Derzeit seien so gut wie alle möglichen Szenarien für die Zukunft Syriens vorstellbar und es wäre noch nicht abzusehen, welches davon wirklich eintreten werde, so Terrorismusforscher Peter Neumann im ORF. "Man darf nicht vergessen, dass al-Dschawlani immer noch ein Islamist ist und es im Land viele Gruppen gibt, die mit anderen Gruppen eine Rechnung offen haben." Diese Dynamik zu verhindern werde besonders schwierig, so der Forscher.
Besteht die Gefahr, dass der Bürgerkrieg weitergeht?
Das ist nicht vollkommen auszuschließen. "Ob es zu einem neuerlichen Bürgerkrieg kommt, hängt vom Verhalten der siegreichen Oppositionsgruppen ab", sagt dazu Bundesheer-Oberst und Militaranalyst Markus Reisner. "Die Gemengelage aus Sunniten, Alewiten, Kurden, Christen und Drusen müsste nun eine Einigung finden, die alle Interessen abdeckt. Ob das gelingt und vor allem, ob die Akteure im Hintergrund, also der Iran, Russland, die USA, Israel und vor allem die Türkei dies zulassen, bleibt abzuwarten."
Weiß man, für welche Art Islam al-Dschawlani steht?
Nein, und das macht es auch so kompliziert, Voraussagen zu treffen. Seine Vergangenheit ist radikal islamistisch, derzeit gibt er sich moderat, lässt aber auch Sympathien für die Taliban in Afghanistan durchblicken.
Was wird jetzt mit den Millionen Flüchtlingen aus Syrien passieren?
Insgesamt haben mehr als 6,8 Millionen Syrer ihr Land verlassen. Die Mehrheit davon ist in die Türkei, nach Jordanien und den Libanon geflohen. Aber auch etwa nach Deutschland (ca. 1 Million) und Österreich mit etwa 100.000 syrischen Flüchtlingen. Wie rasch die Menschen allerdings in ihre alte Heimat zurückkehren können – vorausgesetzt, dass sie es überhaupt möchten, ist noch nicht absehbar.
Aber es kehren ja bereits erste Flüchtlinge aus dem Libanon und der Türkei zurück?
Ja, es gibt einige Syrer, die das bereits getan haben oder noch tun möchten. Jene, die nach Europa geflüchtet sind, werden allerdings zunächst abwarten und sich genau anschauen, welchen politischen Weg ihr Heimatland einschlägt, ehe sie sich eventuell für eine Rückkehr entscheiden, sind sich Migrationsexperten einig.
Was macht Österreichs Politik?
Innenminister Gerald Karner hat am Montag angekündigt, alle offenen Asylverfahren für Syrer (wie Deutschland) vorerst einmal auszusetzen. Das heißt, diese werden bis auf Weiteres nicht weiter behandelt. Auch der Familiennachzug für Syrer wird zunächst einmal ausgesetzt. Und es soll ein "geordnetes Rückführungs- und Abschiebeprogramm nach Syrien vorbereitet werden", so der Innenminister. Ob und ab wann dieses schlagend wird, hängt allerdings vor allem davon ab, wie sich die Lage in Syrien entwickelt.