True crime-hype
Bringt Netflix-Serie mörderischen Brüdern die Freiheit?
True Crime-Serien wie "Monster: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez" liegen im Trend. Neben der Frage nach dem "Wer" und "Wie" macht vor allem die Suche nach dem "Warum" das Genre so reizvoll. Aktuell auf Netflix.
"Das Böse" boomt - und damit ist an dieser Stelle nicht die Realität, sondern ein Trend in der Unterhaltungsbranche gemeint: Podcasts, Filme und Serien, die sich dem Genre "True Crime" zuordnen lassen, sich also mit realen Kriminalfällen beschäftigen und diese auf unterschiedliche Weise dem Publikum näher bringen, schossen und schießen seit geraumer Zeit nur so aus dem Boden.
Morbide Faszination Dabei macht es inzwischen keinen Unterschied mehr, ob die Stoffe dokumentarisch oder fiktional aufbereitet werden. Manchmal geht das auch Hand in Hand: Egal ob "Tiger King" (Netflix) als Porträt der verrückten und gefährlichen Raubkatzenzüchter-Subkultur, "Only Murders in the Building" als Meta-Serie über die Faszination True Crime oder diverse Netflix-Dokus über aufsehenerregende Kriminalfälle und Serienmörder: Das Publikum verschlingt Dinge, die eigentlich recht geschmacklos sind.
Der Beginn der True Crime-Welle
"Nach einer wahren Geschichte …" Während "Making a Murderer" (Netflix) den Trend Doku-Serien mitbegründet hatte, war es die Anthologie-Serie "American Crime Story" (Disney+) des Regisseurs und Produzenten Ryan Murphy, die die fiktionale filmische Verarbeitung realer Kriminalfälle trenden ließ.
Vom fiktiven zum echten Horror Murphy war davor mit seiner Reihe "American Horror Story" äußerst erfolgreich gewesen und setzte seinen Run fort: Die erste Staffel von "American Crime Story" – "The People vs. O.J. Simpson" – aus dem Jahr 2016, die sich mit dem Mordprozess gegen den Ex-Football-Star und Schauspieler O.J. Simpson beschäftigt, ist immer noch ein atemberaubendes Serien-Meisterwerk, das auch für Fans von Justiz-Thrillern ein echtes Erlebnis ist.
Serien-Mastermind Eben jener Ryan Murphy war 2022 auch für den Netflix-Hit "Dahmer" verantwortlich, der sich – als fiktionale Mini-Serie – mit den realen und grausamen Verbrechen des Serienmörders Jeffrey Dahmer befasste. Ursprünglich als Mini-Serie geplant, überzeugte der Erfolg bei Publikum und Kritik den Streamingdienst, daraus ebenfalls eine Anthologie-Serie unter dem Übertitel "Monster" zu machen. Diesen September wurde Staffel 2 mit dem Namen "Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez" veröffentlicht.
Brutales Brüderpaar … Sie schildert den Fall von Lyle und Erik Menendez, ein versnobtes Brüderpaar, das durch den brutalen Mord an ihren reichen Eltern Jose und Kitty Menendez im Jahr 1989 zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Durch eine Verkettung (un)glücklicher Umstände konnten die beiden schließlich überführt werden. Ihr Plan, den Mord der Mafia anzuhängen, ging nicht auf, Tonbänder ihres Psychiaters überführten sie, in denen Erik den Mord gestand.
… oder Missbrauchs-Opfer? Klar war in diesem Fall also bald das "Was" und das "Wer", offen blieb die Frage nach dem "Warum": Handelte es sich bei dem Doppelmord um die grausame Gewalttat zweier junger Psychopathen, die hinter dem Geld ihres reichen Vaters her waren, dem erfolgreichen Manager eines Video-Konzerns? Oder lag da doch mehr dahinter? Gab es nachvollziehbare Motive und Gründe für die Tat und wenn ja, was würde das für die Schuldfrage bedeuten?
Der Medien-Fall Menendez
Ein Mord aus Notwehr? Leslie Abramson, die Anwältin von Erik Menendez präsentierte ihren Mandaten beim Prozess, der im TV übertragen wurde, als Opfer eines bösartigen und herrschsüchtigen Mannes, seines Vaters Jose, der ihn jahrelang verbal, körperlich und sexuell missbraucht hatte. Die Tat der Brüder wäre also "Notwehr" gewesen, da sie um ihr Leben fürchteten.
"Männer können keine Opfer sein!" Anfang und Mitte der 1990er, als die Prozesse stattfanden, hatten die Menendez-Brüder einen Großteil der Medienwelt gegen sich. Das hatte auch damit zu tun, dass sexueller Missbrauch an Burschen oder Männern als etwas betrachtet wurde, das es nicht geben kann, das Thema war noch tabuisierter als heute.
Alles nur erfunden? Sprich: Für viele Beobachter des Prozesses – auch für die Staatsanwältin Pam Bozanich – war klar, die beiden hatten sich die Geschichte nur ausgedacht, um ihre Tat zu rechtfertigen und frei zu kommen. Dass das Gesamtbild jedoch nicht so einfach war und ist, belegt inzwischen auch die Netflix-Doku "Die Brüder Menendez", die nach der fiktionalen Serien-Adaption veröffentlicht wurde, als "Ergänzung" dient und Lyle und Erik selbst zu Wort kommen lässt.
Wer ist hier das Monster? "Monster: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez" wählt nun einen anspruchsvollen, für das Publikum fordernden Zugang, um der Komplexität und Ambivalenz dieses Falles gerecht zu werden: Sie nähert sich der Wahrheit, die am Ende doch nur Lyle und Erik kennen, aus unterschiedlichen Perspektiven an, über Erzählungen aus verschiedenen Quellen, und zwingt das Publikum dazu, sich sein eigenes Bild zu machen.
Die Suche nach der Wahrheit Wer das "Monster" der Geschichte ist – Lyle und Erik, ihr Vater oder alle drei –, muss man als Zuschauer selbst entscheiden. Die Serie ist so nicht nur eine komplexe filmische Auseinandersetzung mit dem Begriff Wahrheit, sie illustriert auch, wie Stimmungen entstehen und aus Geschichten und Wahrnehmungen eine (empfundene) Wirklichkeit wird, an die Menschen glauben.
Ambivalente Charaktere "Monster: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez" thematisiert aber auch sexuellen Missbrauch und die Frage, wem man glauben kann, darf oder soll. Die Art dieser Darstellung ist eine subtile Provokation, gerade nach "#metoo", da die Protagonisten nicht klar als "Täter" oder "Opfer" zu identifizieren sind: Lyle und Erik Menendez sind vermutlich beides, ambivalente Charaktere, in der Wirklichkeit und in der Serien-Fiktion.
Neben dem "Wer" und "Wie" ist vor allem das "Warum" packend
Glaubwürdige Darsteller Dass der Fall des Brüderpaares so sehenswert umgesetzt wurde, liegt aber auch an den Darstellern: Nicholas Alexander Chavez als Lyle und Cooper Koch als Erik machen ihre Sache sehr gut, wobei besonders Koch eine wahre Entdeckung ist, seine Figur äußerst sensibel und nuanciert darstellt, trotz der brutalen Tat oft sogar sympathisch. In der bemerkenswerten Episode 5, die aus einer einzigen Einstellung besteht - die Kamera nur auf Erik gerichtet, ohne Schnitt - legt er eine meisterhafte Performance hin.
Banalität des Bösen Für beide Schauspieler sind es die bisher größten Rollen ihren jungen Karrieren, sie sollten sie sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Hollywood-Star Javier Bardem muss das sowieso nicht, spielt aber Jose Menendez, Vater von Lyle und Erik, trotzdem erschreckend gut: Die Gewalt wird nie konkret gezeigt, doch hinter der "Normalität" der Fassade eines gnadenlosen Erfolgsmenschen werden die Abgründe in jeder Einstellung spürbar. Bardem vermittelt diese "Banalität des Bösen" eindrücklich.
Frei dank Netflix? Inzwischen wurde übrigens die Fiktion von der Realität eingeholt: George Gascon, der Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles, wo die Brüder immer noch in Haft sitzen, macht sich für einen neuen Prozess stark. Dort soll das Strafmaß, derzeit lebenslänglich, reduziert werden, mit dem Ziel, sie in die Freiheit zu entlassen. Unterstützung erhalten die beiden dabei übrigens von Kim Kardashian. Ob die Netflix-Serie über zwei verlorene Leben am Ende zwei Leben retten wird, werden die kommenden Monate zeigen.
Staffel 3 bereits angekündigt Eine Fortsetzung der "Monster"-Anthologiereihe ist bereits geplant: Darin geht es um den 50er-Jahre-Serienkiller Ed Gein, dessen Leben und Taten Vorbild waren für Hitchcocks Film-Klassiker "Psycho", für den 70er-Jahre-Horrorfilm "Texas Chainsaw Massacre" und die Figur des Mörders Jame Gumb in "Das Schweigen der Lämmer".
Fazit "Monster: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez" ist schwere Kost: Unangenehm, schockierend, fordernd, klug, ambivalent. Nach kleinen Anlaufschwierigkeiten entwickelt sich die Serie zu einer abgründigen, psychologisch anspruchsvollen Parabel über das Böse. Und über die Wahrheit und ihr Zustandekommen.
"Monster: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez", USA 2024, 9 Episoden à 35 - 65 Minuten, auf Netflix abrufbar