Verfassungs-Experte
"Bundespräsident kann zum Kanzler bestimmen, wen er will"
Nach der Wahl ist vor der Regierung. Clemens Jabloner, Ex-Justizminister, Uni-Professor und Verfassungsexperte, im Interview über die Bestellung des neuen Kanzlers, Tapetentüren und die Schönheit der Verfassung.
Österreich hat gewählt, aber was wird jetzt daraus? Das Land steht vor einer schwierigen Regierungsbildung. Der Bundespräsident und die Verfassung werden dabei in den nächsten Wochen eine Schlüsselrolle spielen.
Universitätsprofessor Dr. Clemens Jabloner kennt die Verfassung vermutlich besser als die Verfassung sich selbst. Er war Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, sieben Monate Vizekanzler in der Expertenregierung Bierlein, seit 2019 ist er Leiter der "Forschungsstelle Hans Kelsen und sein Kreis" an der Universität Wien. Im Newsflix-Podcast erklärt er, wie Österreich zu einer neuen Regierung kommt. Clemens Jabloner über:
Ob er beim Wahlergebnis gedacht hat: Ui, das wird kompliziert
Ja, aber jedes Wahlergebnis hätte zu einer komplizierten Lage geführt, nicht? Wenn keine Partei die absolute Mehrheit hat, dann muss es Koalitionsverhandlungen geben und so wie sich das davor angeschickt hat, war damit zu rechnen, dass es nicht einfach ist.
Aber ob er gedacht hat, das wird ein paar Fragen aufwerfen, die man bisher so noch nicht beantworten musste
Möglicherweise. Für Verfassungsrechtler stellt sich die Situation allerdings nicht so kompliziert dar.
Der Bundespräsident hat sich bereits am Wahlsonntag zu Wort gemeldet. Ob er das ungewöhnlich fand
Das ist ein politischer Vorgang, den ich nicht kommentieren möchte. Verfassungsrechtlich gesehen hat der Bundespräsident einen sehr großen Spielraum. Er muss immer eine Bundesregierung haben, die ihm die Vorschläge erstattet. Und er muss dafür sorgen, dass der Nationalrat zeitgerecht wieder zusammentreten kann. Und das muss er innerhalb von 30 Tagen tun. Ansonsten bietet die Verfassung eine große Fläche an Bewegungsmöglichkeiten für den Bundespräsidenten.
Was die Verfassung dem Bundespräsidenten vorgibt
Er hat wenig Fesseln. Es ist immer die Rede von einem Regierungsauftrag, den er erteilt, der ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen. Es ist vielleicht eine Übung, aber auch von dieser Übung wurde schon abgewichen.
Wann?
Zum Beispiel 1999. Es gibt auch keine klar konturierten Phasen dieses Vorgangs, sodass Sondierungen, Gespräche stattfinden. Der Bundespräsident kann sagen, welche Partei er bevorzugen würde, die die Verhandlungen führt. Er kann sich aber auch nach einer gewissen Zeit informieren lassen, wie die Gespräche laufen. Er hat ein freies Feld.
Sondierungsgespräche oder Regierungsauftrag sind also nicht in der Verfassung festgeschrieben?
Nein, sie sind nicht festgeschrieben. Das sind bestimmte Usancen, die aber eben nicht so verfestigt sind, dass daraus irgendwelche Verfahrensregeln abgeleitet werden könnten.
Ob die Verfassung dem Bundespräsidenten die Gespräche mit den einzelnen Parteichefs vorschreibt
Keineswegs.
Also er muss überhaupt kein Gespräch führen, sondern er ist in seiner Handlung diesbezüglich vorkommen frei?
Ja!
Ob er dem Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei den Regierungsauftrag erteilen muss
Nein! Denn erstens muss er überhaupt keinen Regierungsauftrag erteilen. Und zweitens, wenn er ihn erteilt im politischen Feld, keineswegs der stimmen- oder mandatsstärksten Partei. Das ergibt sich auch nicht aus demokratischen oder gleichheitsrechtlichen Überlegungen. Der Bundespräsident ist hier frei.
Er kann auch zum Stimmenstärksten sagen: Dich mag ich nicht, dich nehme ich nicht?
Gut, es ist eine Frage, wie er dann politisch vorgeht, aber aus verfassungsrechtlicher Sicht könnte er das tun.
Ob es politisch vorstellbar ist, dass der Bundespräsident Herbert Kickl, den er nach dem Ibiza-Video als Innenminister entlassen hat, als Kanzler oder Minister angelobt?
Rechtlich ja.
Ob er sich einen Kanzler wünschen kann
Der Bundespräsident kann zum Bundeskanzler bestimmen, wen er will. Er muss nur jeweils darauf schauen, dass diese Bundesregierung nicht bei erster Gelegenheit durch ein Misstrauensvotum im Nationalrat beseitigt wird und dass er dann wieder vor der Situation steht, eine Bundesregierung bilden zu müssen.
Also kann jeder der fünf Spitzenkandidaten bei ihm auftauchen und sagen: Mir ist es gelungen, eine Regierung zu bilden. Ich hätte sie gleich mitgebracht, wir können sie angeloben?
Ja, das wäre möglich. So ungefähr war das im Jahr 1999. Wenn ich mich richtig erinnere, war da eine längere Phase der Sondierungen, dann hat Bundespräsident Klestil Viktor Klima den Auftrag erteilt, der aber erfolglos geblieben ist. Dann hat sich im freien politischen Feld die Koalition zwischen der FPÖ und der ÖVP gebildet.
1999 gab es das erste Mal Sondierungsgespräche, sie kommen in der Verfassung aber gar nicht vor, oder?
Nein, und sie haben auch keine feste Kontur. Es finden Gespräche statt und die werden vielleicht halt Sondierungsgespräche genannt, weil das ist ein bisschen ein alter österreichischer Ausdruck für ein verbales Abtasten, wo man noch nicht tief genug hineingeht. Aber das ist reine politische Umgangssprache.
Ob das entstanden ist, um Koalitionsverhandlungen nicht scheitern zu lassen
Ja, das ist, wenn sie so wollen, politische Beziehungsarbeit, die wir ja auch aus dem privaten Bereich kennen. Bevor man in ein tieferes Gespräch mit jemandem einsteigt, schaut man, ob der überhaupt bereit ist, mit einem zu kommunizieren.
Ob der Bundespräsident dem Verhandler ein Pflichtenheft mitgeben kann
Im politischen Bereich kann er das.
Aber rechtlich ist das nicht geboten?
Nein! Es ist im freien politischen Spiel.
Ob der Bundespräsident Regierungsmitglieder ablehnen kann
Das kann er machen. Das ist hin und wieder auch passiert, dass er Personen, die ins Gespräch gebracht wurden, abgelehnt hat. Wenn ich mich erinnere, war das bei Prinzhorn so (Thomas Klestil hat Wolfgang Schüssel und Jörg Haider 2000 signalisiert, dass er Thomas Prinzhorn und Hilmar Kabas nicht angeloben werde, Anm.). Das ist eine Möglichkeit einer Kompromissbildung mit einer im Entstehen begriffenen Bundesregierung.
Ob so etwas ein offizieller Akt ist, oder hinter der Tapetentür stattfindet
Es ist Politik.
Ob der Bundespräsident auf bestimmten Kandidaten beharren kann
Das ist eben diese Phase politischer Gespräche, die der Bundespräsident mit dem dann schon in Aussicht stehenden Bundeskanzler oder einer Bundeskanzlerin führen muss. Man muss sich dann sozusagen auf ein Kabinett einigen. Aber darüber kann man nicht sehr viel sagen, weil sich das wahrscheinlich jedes Mal anders gestaltet.
Ob der Bundespräsident terminlich in Entscheidungen gebunden ist
Das Einzige ist, dass er dafür sorgen muss, dass der Nationalrat rechtzeitig zusammentritt. Das muss er innerhalb von 30 Tagen bewerkstelligen, sodass nach dem Ende der Legislaturperiode sofort die nächste beginnen kann. Dafür braucht er eine Bundesregierung. Er braucht immer eine Bundesregierung, die ihm diesen Vorschlag macht. Ansonsten gibt es keine zeitlichen Vorgaben.
Er kann also Gespräche mit den Spitzenkandidaten auch über Wochen und Monate ziehen, wenn er den Eindruck hat, das ist notwendig?
Ja! Gefährlich wird das erst, oder brisant, wenn die Bundesregierung, die der Bundespräsident zur Verfügung hat, mit einem Misstrauensvotum im Nationalrat abgeschossen wird. Daraus kann sich ein problematisches Ping-Pong entwickeln zwischen Bundesregierungen, die der Bundespräsident bestellt, und die sofort einem Misstrauensvotum zum Opfer fallen und daher abberufen werden müssen, und so weiter.
Der neue Nationalrat wird am 24. Oktober eingesetzt. Er ist ab da voll handlungsfähig, es können Gesetze eingebracht und beschlossen werden. Wozu braucht der Nationalrat dann noch eine Regierung?
Weil die Regierung verfassungsrechtlich umschriebene Aufgaben hat und an der Spitze der Verwaltung steht.
Was passiert, wenn alle mit einer Regierungsbildung scheitern? Kann der Bundespräsident dann seinen Hund fragen, ob er Lust hätte, Kanzler zu werden?
Nein, für diesen Fall sorgt die Verfassung in der Fassung von 1929 insoweit vor, als der Bundespräsident dann den Nationalrat auflösen kann. Wenn die Kräfte im Nationalrat nicht fähig sind, eine tragfähige Bundesregierung zu bilden, gleichzeitig aber zu schwach sind, um sich selbst aufzulösen, weil sie auch dafür nicht die Mehrheit haben, kann der Bundespräsidenten den Nationalrat auflösen. Das hat es nur einmal gegeben, im Jahr 1930, Miklas gegenüber der Bundesregierung Vaugoin. In der Zweiten Republik niemals.
Ob sich der Nationalrat eine Regierung wünschen kann
Der Nationalrat als solcher nicht, aber der Nationalrat agiert ja über die in ihm vertretenen Fraktionen und die sind ja diejenigen, die mit dem Bundespräsidenten das Spiel spielen.
Ob die Verfassung vorgibt, wer Nationalratspräsident wird
Nein, das ist im politischen Feld. Der Nationalrat wird gemäß der Geschäftsordnung einen ersten, zweiten und dritten Präsidenten zu bestellen haben.
Ob er es vernünftig findet, von den bisherigen Usancen abzugehen
Das ist eine rein politische Frage. Man muss bedenken, dass der Nationalratspräsident nicht abberufbar ist. Wenn man keine Person findet, die das Vertrauen aller Fraktionen hat, dann wird man möglicherweise nicht den Anführer der stärksten Fraktion wählen, sondern vielleicht jemanden anderen. Das ist dann aber eine Mehrheitsentscheidung.
Ob Österreichs Verfassung noch zeitgemäß ist
Gewiss.
Warum er Anfang des Jahres die Initiative "Bessere Verwaltung" gegründet hat, damit die Verwaltung nicht verblödet
Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung gehabt, die den Einfluss der Kabinette und zuletzt der Generalsekretäre sehr erhöht hat. Damit gab es eine sehr scharfe parteipolitische Durchdringung der Fachapparate und dadurch ist viel Expertise verloren gegangen in der Verwaltung. Teilweise musste dieses Wissen dann von außen relativ teuer immer wieder eingeführt werden. Jetzt gibt es keinen idealen Zustand und ich bin kein Nostalgiker von irgendeinem Beamtenstaat, aber man muss die Dinge hier wieder ein bisschen ins Lot drücken, denke ich.
Was eine künftige Regierung tun müsste, um die Verblödung nicht weiter fortschreiten zu lassen
Erstens einmal müsste man die Kabinette verkleinern. Man müsste die Generalsekretäre neuen Typs, die in der Regierung Kurz I eingeführt wurden und die über den Beamten stehen, wieder abschaffen und auf reine Koordinationsbefugnisse beschränken. Man müsste dem Leistungsprinzip mehr zum Durchbruch verhelfen. Man darf nicht naiv sein, es wird immer einen politischen Einfluss geben, aber man soll es nicht übertreiben und man soll nicht ganz unfähige Leute in Positionen setzen.
Warum er parteipolitische Besetzungen im Vergleich zu früher jetzt "unerbittlich" genannt hat
Früher war auch der vielleicht parteipolitisch begünstigte Zweitqualifizierte immer noch sehr gut. Das ist das eine. Und das Zweite ist, dass nach meiner Erfahrung wirklich begabten Leuten, auch wenn sie bei keiner Partei waren oder bei der falschen Partei waren, nicht der Weg endgültig versperrt wurde. Also es gab schon ein gewisses Empfinden für die Qualität des Fachapparates. Und da scheinen mir die Zügel doch viel stärker angezogen zu sein.
Ob er an seine Zeit als Vizekanzler und Justizminister positive Erinnerung hat
Ich habe eine sehr positive Erinnerung. In gewisser Weise ist es im Leben immer irgendwie ganz schön, wenn was vorbei ist. Andererseits, nachher kam die Pandemie und wie es mir da ergangen wäre, will ich mir nicht vorstellen. Aber die Zeit, die ich gehabt habe, habe ich als eine fordernde, anstrengende, aber auch sehr schöne Zeit empfunden.
Ob er die Verfassung wie der Bundespräsident auch "schön" findet
Naja, im Sinn der österreichischen Moderne, der Wiener Moderne, der Verzicht auf Schnörksel und Deklarationen, Wunschvorstellungen, also dieses ganze lehrhafte Element: Die Schönheit besteht darin, dass die Verfassung funktional ist.