"New York Times"-Chef

"Der Journalismus ist einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt"

"New York Times"-Herausgeber A. G. Sulzberger rüttelt die Welt in einer Rede auf. Was er über Journalismus, soziale Medien und Ukrainekrieg zu sagen hat.

Arthur Gregg Sulzberger aus der Verlegerfamilie ist seit 2018 Herausgeber der "New York Times"
Arthur Gregg Sulzberger aus der Verlegerfamilie ist seit 2018 Herausgeber der "New York Times"
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Newsflix Redaktion
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Arthur Gregg "A. G." Sulzberger ist seit 1. Januar 2018 Herausgeber der "New York Times". Die Zeitung ist seit 1896 im Besitz der Familie Sulzberger-Ochs. Das US-Medienhaus ist ein journalistischer Supertanker. Im 4. Quartal 2023 zählte man weltweit 10,3 Millionen Abonnenten, 9,7 Millionen davon für den Digitalbereich. 300.000 Abonnenten kamen in einem einzigen Quartal hinzu. Die "New York Times" hat 4.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1.700 davon arbeiten journalistisch.

Am 4. März hielt Sulzberger auf Einladung der University of Oxford die "Reuters Memorial Lecture 2024" – Thema: "Journalistische Unabhängigkeit in einer Zeit der Spaltung". Lesen sie hier eine gekürzte Übersetzung seines Vortrags mit den wesentlichsten Passagen. Die Rede ist hier im Video anzusehen. A. G. Sulzberger über:

Wie stark der Journalismus unter Druck steht
In meinem Land ist etwa ein Drittel aller Nachrichten-Jobs in den letzten 15 Jahren verschwunden, mehr als zwei lokale Zeitungen schließen im Schnitt pro Woche. Den Journalisten, die das Glück haben, noch Jobs zu haben, fehlen oft die Mittel, um klassische Berichterstattung zu machen - nicht nur Geld, sondern Zeit, die Anleitung erfahrener Redakteure und die Möglichkeit, an die Orte zu gehen und mit den Menschen zu sprechen, über die sie schreiben.

Das Informations-Ökosystem ist mit Fehlinformationen, Verschwörungstheorien, Propaganda und Clickbait verschmutzt
A. G. Sulzberger, Herausgeber "New York Times"

Was den Job immer brutaler macht
Drohungen, Belästigungen und Angriffe auf Journalisten eskalieren weiter, geschürt von der Anti-Presse-Rhetorik, die den Journalismus "Fake News" nennt und die Reporter als "Feinde der Volkes" bezeichnet. Natürlich ist dies kein Problem, das auf die Vereinigten Staaten oder Großbritannien beschränkt ist. Auf der ganzen Welt werden fast rekordverdächtig viele Journalisten getötet oder inhaftiert. Es gibt immer aggressivere Bemühungen, Journalisten Rechte zu entziehen, die unabhängige Berichterstattung zu untergraben, selbst in Ländern, die historisch die freie Meinungsäußerung und eine freie Presse unterstützt haben.

Warum Medien gegen Facebook & Co chancenlos sind
Nachrichtenorganisationen müssen sich in einem Informations-Ökosystem behaupten, das von einer Handvoll Technologie-Giganten dominiert wird und das mit Fehlinformationen, Verschwörungstheorien, Propaganda und Clickbait verschmutzt ist.

Wieso die KI zum neuen Torpedo wird
Die Ankunft der Künstlichen Intelligenz verspricht, alle diese Herausforderungen noch schlimmer zu machen. Denn diejenigen, die diese leistungsstarke Technologie entwickeln - und die Rahmenbedingungen, um sie zu regulieren - stellen sicher, dass diese KI auch verwendet wird.

Das Verlagsgebäude der New York Times in Manhattan, 4.700 Beschäftigte hat der Konzern
Das Verlagsgebäude der New York Times in Manhattan, 4.700 Beschäftigte hat der Konzern
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Warum journalistische Unabhängigkeit entscheidend ist
Mein Beruf ist mehr existenziellen Bedrohungen ausgesetzt, als in einen Horrorfilm mit großem Budget passen würden. Warum also habe ich mich entschieden, hierher zu kommen, um über das vergleichsweise esoterische Konzept der journalistischen Unabhängigkeit zu sprechen? Weil diese Ära die journalistische Unabhängigkeit mehr bedroht denn je. Journalistische Unabhängigkeit wird seltener und gleichzeitig ist sie – wie ich denke –auch wichtiger als je zuvor.

Vor welchen Prüfungen moderner Journalismus steht
Die Welt kämpft mit riesigen Herausforderungen, von der Beschleunigung des Klimawandels über anhaltende Ungleichheit und  technologische Störungen bis hin zu demokratischer Erosion und scheinbar unlösbaren globalen Konflikten. Gleichzeitig machen regelrechte Epidemien an Fehlinformationen und Polarisierung die Suche nach Lösungen immer schwieriger. Um diese negativen Kräfte überwinden zu können, braucht es die Bildung von Gemeinschaften, die schwierige Entscheidungen treffen und Maßnahmen ergreifen können, doch das erfordert vertrauenswürdige Fakten und gegenseitiges Verständnis. Und Fakten und Verständnis sind genau das, was unabhängiger Journalismus der Gesellschaft bietet.

Was mich als Herausgeber der New York Times erschreckt
Vor nicht allzu langer Zeit beobachtete ich von meinem Bürofenster in Midtown Manhattan aus eine Masse von Menschen, die gegen unsere angebliche anti-palästinensische Voreingenommenheit protestierte, während sie direkt unter einer Plakatwand standen, die unsere angebliche anti-israelische Voreingenommenheit anprangerte. Das ließ mich mit der nervenaufreibenden Erkenntnis zurück, dass ein zunehmend polarisiertes Publikum vielleicht am ehesten in der Überzeugung vereint ist, dass jeder Journalist, der die Erzählung seiner Seite in Frage stellt, die Geschichte falsch versteht.

Journalistische Unabhängigkeit erfordert die Bereitschaft, den Fakten zu folgen, auch wenn diese von dem wegführen, von dem man angenommen hat, dass es wahr wäre
A. G. Sulzberger, Herausgeber "New York Times"

Was das für heute relevante Themen – den Krieg in der Ukraine, die Debatte über Transrechte, den Konflikt im Nahen Osten – bedeutet
Ich spreche diese Themen an, weil sie uns am meisten spalten. Gleichzeitig sind es auch jene Themen, bei denen wir am meisten von einer unabhängigen Presse profitieren können. Einer Presse, die sich verpflichtet hat, die Fakten zu sammeln, Kontext zu schaffen und das Verständnis zu fördern, das für Lösungen erforderlich ist. Es sind gleichzeitig auch die Themen, bei denen eine Haltung der Unabhängigkeit am ehesten als amoralisch, ja sogar als gefährlich betrachtet wird.

Was journalistische Unabhängigkeit wirklich bedeutet
Journalistische Unabhängigkeit erfordert die Bereitschaft, den Fakten zu folgen, auch wenn diese von dem wegführen, von dem man angenommen hat, dass es wahr wäre. Journalistische Unabhängigkeit ist eine Haltung der Neugier statt der Überzeugung, eine Haltung der Demut statt der Rechtschaffenheit.

Unabhängigkeit bedeutet nicht falsche Ausgewogenheit
Unabhängigkeit meint nicht Zentrismus oder Neoliberalismus oder eine Verteidigung des Status quo. Es ist eine professionelle Disziplin, zu der sich Journalisten jeden Tag erneut verpflichten müssen.

Warum das Mut erfordert
Sie müssen bereit sein, konventionelle Weisheit und Gruppendenken in Frage zu stellen. Sie müssen bereit sein, eine einfache oder bequeme Geschichte zu nehmen und sie mit Wahrheiten zu verkomplizieren, die die Leute nicht hören wollen.

Goldene Zeiten? Der Newsroom der "New York Times" in einer Aufnahme aus 1942, als es noch recht entspannt zugegangen sein scheint
Goldene Zeiten? Der Newsroom der "New York Times" in einer Aufnahme aus 1942, als es noch recht entspannt zugegangen sein scheint
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Weshalb Scheitern zum Beruf gehört
Wir müssen bereit sein zu erkennen, dass wir es nicht immer richtig machen. Dass die Kritiker manchmal recht haben. Unabhängigkeit sollte nicht als Schutzschild verwendet werden, um legitime Beschwerden abzuwehren oder sich dahinter vor seinen Fehlern zu verstecken. Wie jede Nachrichtenorganisation macht die "New York Times" Dinge falsch - manchmal sehr falsch. Unsere vergangenen Misserfolge bei wichtigen Geschichten wie dem Irakkrieg oder der Aids-Krise geben uns viele Gründe für Demut.

Was das für die "New York Times" bedeutet
Fünf Generationen meiner Familie haben es zu ihrer Lebensarbeit gemacht, dieses journalistische Engagement zu ehren und zu verbreiten. Aber die jüngste Dynamik ist, dass unsere Haltung der journalistischen Unabhängigkeit von fast jeder Gruppe, deren Thema wird behandeln, in Frage gestellt wird. In den letzten Jahren wurde die "New York Times" als Anti-Weiß, Anti-Asiatisch, Anti-Inuit bezeichnet. Als Anti-Hindu, anti-katholisch, anti-chassidisch. Anti-Afrika und Anti-Europa. Wir wurden Anti-öffentliche Schulen und Anti-Harvard genannt. Anti-Fracking und Anti-Umwelt. Anti-CEO und Anti-Gewerkschaft. Anti-Elon Musk und Anti-Queen Elizabeth. Anti-Krypto- und Anti-Yoga-Hose. Und leider ist das bei weitem noch nicht die vollständige Liste.

Warum Social Media toxisch ist
Wie nie zuvor ermutigt das Zeitalter der sozialen Medien die Öffentlichkeit, sich selbst in Gemeinschaften zu sortieren, die durch eine gemeinsame Identität, Interesse oder Weltanschauung vereint sind. Diese Gruppen bilden ihre eigenen Erzählungen, die sich verhärten und extremer werden. Die kräftigeren, lauteren Stimmen steigen an die Spitze, wie sie es unweigerlich in digitalen Umgebungen tun. Diese Echokammern feiern alles, was ihren Erzählungen entspricht, und protestieren gegen alles, was sie herausfordert.

Wir sind falsch informiert, weil wir die Fehlinformationen, die wir erhalten, mögen und erpicht sind auf mehr
David French, "New York Times"-Kolumnist

Wieso das zu einem Problem geworden ist
Viele dieser Ansichten werden oft aufrichtig vertreten. Aber das grundlegende Ziel von Jubel und Spott ist es, die Berichterstattung zu ändern. Eine Studie zeigte, dass die meisten Menschen einen Artikel nicht einmal ganz lesen, ehe sie darüber in den sozialen Medien posten.

Wieso Social Media wie eine Droge wirkt
David French, Kolumnist der "New York Times", schrieb: "Wir sind falsch informiert, nicht weil die Regierung systematisch lügt oder die Wahrheit unterdrückt. Wir sind falsch informiert, weil wir die Fehlinformationen, die wir erhalten, mögen und erpicht sind auf mehr.“

Weshalb ist das so
Egal worüber sich Gruppen definieren, über politische Orientierung, Nationalität, Rasse, Geschlecht, Religion oder Beruf – die überwiegende Mehrheit dieser Gruppen, denke ich, ist im Wesentlichen von demselben Gefühl beseelt: einem tiefen, vielleicht sogar existenziellen Gefühl der Verletzlichkeit. In vielen Fällen ist dieses Gefühl der Verletzlichkeit verständlich. Aber die Geschichte zeigt, dass Tribalismus, Polarisierung und Erzählungen von Verletzlichkeit eine gefährliche Mischung sind. In Kombination schüren sie Absolutismus und Intoleranz. "Sind Sie für uns oder gegen uns?" – immer öfter wird diese Frage an Journalisten gerichtet.

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Was das etwa für die Berichterstattung über die Ukraine bedeutet
Wir haben Russlands Gräueltaten dokumentiert. Aber manchmal finden unsere Journalisten auch eine Geschichte, die die ukrainischen Führer nicht erzählen wollen. Wir berichteten etwa, dass das ukrainische Militär international verbotene Streumunition verwendet hatte. Die Ukrainer versuchen verständlicherweise, alles zu vermeiden, was ihr Land gefährdet. Aber unabhängige Berichterstattung ist unerlässlich, wenn die Öffentlichkeit - einschließlich der ukrainischen Öffentlichkeit - die Realität der Situation vor Ort verstehen soll.

… oder über Trans-Themen
Mein zweites Beispiel betrifft eine Gruppe, die guten Grund hat, sich gefährdet zu fühlen. In den letzten Jahren hat die "New York Times" umfassend über den Anstieg von Anti-Trans-Maßnahmen durch die Gesetzgeber in den USA berichtet. Wir haben auch - fair und einfühlsam - Debatten über medizinische Interventionen für Trans-Kinder behandelt, ein Thema, bei dem es sogar zwischen der Trans-Gemeinschaft, Eltern und medizinischen Anbietern, die sich auf eine solche Versorgung spezialisiert haben, Meinungsverschiedenheiten gibt. Das macht nur einen kleinen Prozentsatz der Berichterstattung aus, aber die Artikel wurden ständig von Trans-Aktivisten als Beleg dafür vorgelegt, dass die "New York Times" als Ganzes "das Existenzrecht der Trans-Menschen in Frage stellt". Nach der Untersuchung von Beschwerden über unsere Berichterstattung kam ein Medienkritiker zu dem Schluss: "Der eigentliche Zweck der Beschwerden ist es, einer solchen Berichterstattung ein Ende zu setzen."

… oder über den israelisch-palästinensischen Konflikt
Kritiker unserer Berichterstattung über den Nahen Osten werfen uns Voreingenommenheit vor – welche Geschichten wir veröffentlichen, den Kontext, den wir zur Verfügung stellen oder auch weglassen. Sie stellen die Fotos, die wir bringen, die Sprache, die wir verwenden, die Quellen, die wir zitieren, in Frage. Eines Morgens im November erhielt ich einen Brief von einem US-Senator, der uns unterstellte, die "New York Times" hätte den Hamas-Terroristen "materielle Unterstützung" gewährt. Am nächsten Tag marschierten pro-palästinensische Demonstranten zum Hauptquartier der "New York Times" und verschütteten Kunstblut. Sie bestanden auf dem genauen Gegenteil - dass wir an der Tötung von Palästinensern mitschuldig wären.

Welche Bilder, welche Geschichten transportieren? Ein zerstörtes Haus im Gazastreifen nach einem Raketenangriff Israel
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Wie der Konflikt in den höchstpersönlichen Bereich ausstrahlt
Haben Journalisten eine geheime Agenda, wie Kritiker behaupten? Sind sie voreingenommen? Beide Seiten haben Theorien darüber vorgebracht, warum die Führung der "New York Times" durch meine Familie Ungerechtigkeit geschürt hat. Entweder, weil unsere jüdischen Wurzeln uns natürlich zugunsten Israels voreingenommen machen. Oder, weil sie uns dazu bringen, uns zu weit in die andere Richtung zu beugen.

Wo die Wahrheit zu finden ist
Um absolut klar zu sein, ich sage nicht, dass die Wahrheit unbedingt in der Mitte liegt, nicht in diesem Konflikt. Nicht bei einem anderen Thema. In der Tat gibt es in der Regel viele Seiten, nicht nur zwei. Nein, ich glaube auch nicht, dass ein Medium etwas richtig macht, wenn die Menschen auf allen Seiten wütend auf dieses Medium sind. Aber es ist auch kein Zeichen dafür, dass ein Medium etwas falsch macht.

Warum Offenheit für Kritik wichtig ist
Eine Nachrichtenorganisation, die sich von Feedback abschneidet, ist dazu bestimmt, immer größere Fehler zu machen. Wenn wir Fehler machen, korrigieren wir sie schnell und offen und bemühen uns dann, in Zukunft daraus zu lernen. Ein robustes Korrekturressort sollte mit Stolz betrachtet werden und nicht mit Verlegenheit.

Worum es wirklich geht
Es wird uns oft gesagt, dass eine Haltung der Unabhängigkeit eine Art moralische Abdankung darstellt. Ich betrachte diese Haltung als den besseren, optimistischeren Weg. Als unabhängige Journalisten versorgen wir unsere Mitbürger mit den Informationen, die sie benötigen, um Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Das ist ein tiefgreifender Akt des Vertrauens. Journalisten haben eine bescheidene Mission zu erfüllen: Die Wahrheit zu suchen und den Menschen zu helfen, die Welt zu verstehen.

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