Matthias strolz
"Die Häme über Schilling hat mich sowas von angewidert"
Zehn Tage war er in Südafrika schweigen, nun redet der Ex-Chef der Neos wieder – und verteidigt Lena Schilling, grüne EU-Spitzenkandidatin für die EU-Wahl.
Als die sozialen Medien über Lena Schilling herfielen, versuchte er der Unmäßigkeit etwas Mäßigung entgegenzusetzen. Und das, obwohl die Spitzenkandidatin der Grünen für die EU-Wahl gar nicht jener Partei angehört, für die er von 2012 bis 2018 den Bundesvorsitzenden gab. Das macht neugierig. "Politiker:innen mit Wissensfragen vorzuführen, halte ich für nicht okay", schrieb der frühere Neos-Chef Matthias Strolz auf Twitter. "Es ist eine Art von öffentlicher Beschämung, die nur niedere Instinkte der Menschen bedient."
Schilling war dem ORF-Satiriker Peter Klien ins offene Mikro gerannt. Für seine Sendung "Gute Nacht Österreich" wollte er von der 23-jährigen Quereinsteigerin wissen, ob Norwegen Teil der EU sei. Schilling wusste die Antwort nicht. "Totales Blackout. Mein Kopf war einfach absolut leer", schrieb sie später auf Instagram. Da hatte das Fallbeil schon seinen Job erledigt. "Der Reflex hat mich angewidert", sagt Strolz im Gespräch mit "Newsflix". Und: Wie Politiker sich in einem solchen Fall verhalten sollten, was EU-Kandidatinnen und Kandidaten wissen sollten, warum er jetzt neun Tage geschwiegen hat.
Warum er das Posting verfasst hat
Die Häme, wie sie ausgelacht wurde, der Reflex, das alles hat mich sowas von angewidert, dass ich mich dazu äußern wollte. Viele Debattenteilnehmer haben allein auf die Herabwürdigung der Person abgezielt.
Woher die heftigste Kritik kam
Es fühlen sich eben viele vor allem ältere Männer von jungen Frauen provoziert. Das ist öfter so, aber das wäre jetzt eine eigene Debatte. Ich finde Frau Schilling erfrischend in diesem Kandidatenfeld.
Ob sie einen Fehler gemacht hat
Natürlich sollte eine Spitzenkandidatin einer Parlamentspartei die Mitgliedsländer der EU parat haben.
Ob Schilling nicht anders behandelt wird, etwa als ein FPÖ-Politiker
Natürlich wäre die Häme riesig, ginge es um den FPÖ-Spitzenkandidaten. Aber sie ist auch so riesig, sie kommt nur eben von einer anderen Community.
Ob das nicht politischer Alltag ist
Da muss man sich selbst an der Nase nehmen, wenn man an Debatten im öffentlichen Raum teilnimmt. Wollen wir jedes Tor schießen, nur weil der Ball gerade gut liegt? Ich glaube, nein. Hilft es dem großen Ganzen? Wenn ja, dann sollte man das Tor schießen. Geht es nur um Beschädigung eines politischen Mitbewerbers, dann nein.
Eigene Kränkungen in der Politik
Die Hemmungslosigkeit ist halt riesig. Und da leide ich als ehemaliger Politiker mit. Jeder von uns wurde schon einmal vorgeführt. Ich habe natürlich auch einige Kränkungen in meinen Knochen, aber die will ich gar nicht alle aufwärmen. Es soll nicht um mich gehen.
Welche Fehler gemacht wurden
Das muss man den Grünen schon auch anlasten. Wenn ich eine Veranstaltung habe und ich weiß, dass der Herr Klien kommt, dann muss ich meine Leute darauf einstellen. Das war kein Ausdruck von Professionalität, dass man sie ins offene Messer hat rennen lassen. Die Grünen waren nicht vorbereitet, das war patschert.
Welche Folgen das für Schilling hat
Sie wird eine steile Lernkurve haben. Die Gratwanderung ist immer, wie viel Authentizität lasse ich jemandem? Will ich die komplett weghaben? Aber die Authentizität ist ihr Ass, die muss sie sich erhalten. Gleichzeitig heißt Idealismus und Frische nicht automatisch Naivität. Man kann Authentizität auch mit Professionalität kombinieren. Ich wünsche, ihr gelingt das.
Die Macht der Kommunikation
Ich komme gerade zurück von einem Schweige-Retreat in Südafrika. Ich war da zur Mediation. Da war "noble silence" die Vorgabe. Ich habe zehn Tage nichts geredet. Wir sollten nicht miteinander sprechen und auch keinen Blickkontakt zueinander aufnehmen. So wie früher im Kloster. In dieser Stille habe ich die machtvolle Dimension der Kommunikation für unser Leben verstanden. Man kann solche Schweige-Retreats auch in Dornbirn machen oder im Waldviertel. Als Person des öffentlichen Lebens macht es für mich Sinn, dass ich aus meinem unmittelbaren Umfeld rausgehe.
Wie man sich in einer Situation wie mit Klien richtig verhält
Ich muss das auf eine andere Ebene bringen. Ein Konter wäre: Aha, sie wollen ein Quiz machen. Das mache ich nur montags. Heute ist nicht Montag, oder? Das Gegenüber versucht mich unter Produktionsdruck zu bringen und in eine möglichst peinliche Lage, also muss ich versuchen, den Ball möglichst rasch wieder von mir wegzubringen und den Produktionsdruck wieder beim Gegenüber aufbauen.
Was Schilling falsch gemacht hat
Sie hat den Ball dankend angenommen und allen Produktionsdruck auf sich geladen. Das war unprofessionell. Jetzt kann man sich fragen, wollen wir alle nur mehr dressierte Affen? Nein, wir wollen natürlich auch Profis, weil davon auszugehen ist, dass solche Manipulationsversuche auch in Verhandlungen angewandt werden. Wir wollen keine Politiker, die jedem Manipulationsversuch aufsitzen. Deshalb wünsche ich ihr einen schnellen Lernfortschritt. Den wird sie haben. Sie bringt alle Grundeignungen mit.
Ob er mit Schilling mitfühlen kann
Als aktiver Politiker wirst du denken: Zum Glück hat es mich nicht erwischt. Wenn wir bei der Millionenshow sitzen würden, hätte jeder von uns Angst, dass es ihn peinlich erwischt. Ich werde Schilling nicht wählen, ich stehe nicht im Verdacht, dass ich für sie Werbung mache. Ich wünsche ihr einfach alles Gute, dass sie sich nicht entmutigen lässt.
Kränkungen in der Politik
Die Politik ist das verletzendste Feld unserer Gesellschaft. Wenn du da neu reinkommst, wie sie, dann heißt das auch, dass ganz viele Kränkungen auf dich einprasseln. Manche legen sich dann einen Schutzpanzer zu, andere wandern in den Zynismus ab, andere greifen zur Bierflasche. Und Lena Schilling ist noch gar keine richtige Politikerin, sie ist noch Aktivistin, sie ist erst am Weg zur Politikerin.
Wie man als Politiker im Lot bleibt
Die allerallermeisten Politiker von den allerallermeisten Parteien haben aus einem inneren Idealismus heraus begonnen, davon bin ich zutiefst überzeugt und davor habe ich auch den größten Respekt. Die Aufgabe in der Selbstführung ist es, diesen inneren Idealismus, diesen Ort, heilig zu halten und für sich selbst offen. Weil jeden Tag Dinge passieren, die diesen Ort verschütten und den Zugang dazu. Und wenn dieser Zugang komplett verlegt ist, dann bin verführbar in alle Himmelsrichtungen.
Ob er die Politik nach dem Ausstieg nun anders sieht
Mein Blick auf die Politik ändert sich laufend, weil ich mich dauernd verändere. Ich bin ein politischer Kopf, das kann ich nicht ablegen, das werde ich immer bleiben. Wenn jemand Herbstblätter sammelt, dann ist das ein Impuls, da kann niemand aus seiner Haut heraus.
Seine persönliche Zukunft
Politik ist meine Leidenschaft. Das bedeutet nicht, dass ich morgen wieder eine Funktion haben muss. Es kommen viele Einladungen, mach hier mit, mach dort mit. Die allermeisten sage ich ab. Aber ich merke, dass ich mich mittelfristig, und das kann gut und gern im nicht-parteipolitischen Kontext sein, wieder in den Dienst stellen will. Es geht um viel in den nächsten Jahren, um Europa, auch um Österreich.