höchstgericht
Diese 9 Seniorinnen machten Klimaschutz zum Menschenrecht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte die Schweiz, weil sie zu wenig für den Klimaschutz tut. Das Urteil, die Folgen für alle, und wer die Klägerinnen sind.
Am Ende recken sie die Arme in die Höhe, jubeln wie Teenager, denen eben Taylor Swift erschienen ist. Auch Greta Thunberg ist da, feiert mit, im Klimaschutz scheint sie besser aufgehoben zu sein als in ihren sonstigen politischen Betätigungen.
Am Dienstag ging ein Kampf zu Ende, der fast acht Jahre gedauert hatte und der in die Geschichte eingehen wird. Nicht nur, aber auch, weil der erste Klimaprozess, der je vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhandelt worden war, mit einem Sieg für die Klägerinnen endete.
Die Klägerinnen, das ist der Verein "KlimaSeniorinnen Schweiz", gegründet 2016 von einer Runde älterer Damen, die nicht zum alten Eisen gehören wollen. "Wir sind auch auf Facebook", schreiben sie stolz auf ihrer Webseite. Es ist ein bunter Haufen, ehemalige Politikerinnen, aber auch mit Rosmarie Wydler-Wälti gehört als Co-Präsidentin dazu, sie ist Beziehungsweise- und Paartherapeutin.
Alter spielt eine Rolle, auch im Verfahren. Was 2016 begann, fand am Dienstag seinen Abschluss im historischen Urteil des EGMR. Ja, der Klimawandel ist menschengemacht. Ja, Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Und ja, es wird zu wenig dagegen unternommen, urteilten die Richterinnen und Richter, auch eine Österreicherin sitzt im Gremium. Die "KlimaSeniorinnen" hatten argumentiert, dass die Klimakrise vor allem ältere Frauen besonders beträfe, und sie bekamen Recht. Das müssen Sie zum Urteil wissen:
Wer sind die "KlimaSeniorinnen Schweiz"?
Laut Eigenangaben handelt es sich um einen Verein mit "über 2.500 Frauen im Pensionsalter" als Mitgliederinnen und 1.200 Menschen als Unterstützer. Das Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre.
Wann wurde der Verein gegründet?
Am 23. August 2016 von 150 Seniorinnen in GenerationenHaus in Bern. 40 Frauen waren anwesend, die Statuten wurden verabschiedet, der Vorstand gewählt.
Wer gehört nun zur Kerngruppe der KlimaSeniorinnen?
Neun Personen, natürlich lauter Frauen, alle beseelt. Wie Co-Präsidentin Rosmarie Wydler-Wälti. Sie hat vier erwachsene Kinder, lebt seit ihrer Jugend ohne Auto. Die Eltern hatten einfach keines. Oder Anne Mahrer, ebenfalls Co-Präsidentin. Sie war 60, als sie 2007 wegen eines hartnäckigen Hustens zum Arzt ging. Der stellte bei der grünen Ex-Abgeordneten eine Asbesterkrankung fest. Sie hatte 30 Jahre als Bibliothekarin an einer Schule gearbeitet, bei der oft umgebaut werden musste. Oder Oda Ursula Müller, ebenso Co-Präsidentin. Sie hat ihr Auto verkauft und fliegt nicht mehr.
Was waren die ersten Aktivitäten?
Am 25. Oktober 2016 stellte der Verein seine "Klimaklage" vor. Sie nahm Bezug auf die Europäische Menschenrechtskommission und kritisierte die zu tief angesetzten Ziele bei der Emissionsreduktion in der Schweiz. Thematisiert wurden vor allem "die gravierenden Auswirkungen der Klimaerwärmung für ältere Frauen".
Wer war das Vorbild?
Die Niederlande. Dort wurde 2015 von der Stiftung Urgenda ein Gerichts-Urteil erwirkt, das den Staat zu einem wirksameren Klimaschutz verpflichtet.
Warum betrifft der Klimawandel ältere Frauen besonders?
Frauen und Kleinkinder gehören bei Hitze zur Risikogruppe. Greenpeace spricht von rund 1.000 zusätzlichen Todesfällen durch die Hitze in der Schweiz im Rekordsommer 2003 und rund 800 zusätzlichen Todesfällen 2015, dem nach 2003 zweitwärmsten je gemessenen Sommer. Hier geht es zum Factsheet.
Wie begründeten die KlimaSeniorinnen ihre Betroffenheit?
Vier Mitglieder des Vereins, alle über 80 Jahre alt und mit Vorerkrankungen, konnten dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegenüber glaubhaft machen, dass Hitzewellen ihre Gesundheitsprobleme verschärfen. Eine Frau, Geburtsjahr 1931, starb während des Verfahrens.
Warum landete das Verfahren in Straßburg?
Die KlimaSeniorinnen reichten ihre Klage zunächst in der Schweiz ein. Im Frühling 2020 lehnte das Bundesgericht die Beschwerde ab. Deshalb zog der Verein im November 2020 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Ziel: Einen Präzedenzfall für ganz Europa zu schaffen.
Gibt es mehrere ähnliche Klagen?
Ja, am 30. November 2020 etwa nahm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klage von sechs jungen Portugiesinnen gegen 33 Länder an.
Wie ging es mit der Schweizer Klage weiter?
Am 26. März 2021 räumte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Verfahren Priorität ein. Das Bundesamt der Justiz der Schweiz wurde ersucht, bis 16. Juli 2021 eine Stellungnahme einzureichen. Das Bundesamt forderte in seiner Eingabe, dass der Gerichtshof gar nicht erst inhaltlich über die Klimaklage befinden solle. Das Gegenteil passierte. In Straßburg übernahm die Große Kammer den Fall, sie besteht aus 17 Richterinnen und Richtern. Sie erklärt sich nur in schwerwiegenden Fragen für zuständig.
Was passierte aktuell?
Am 29. März 2023 war es zu einer Anhörung vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gekommen. Am 9. April 2024, also rund ein Jahr später, verurteilte der EGMR nun die Schweiz, weil sie zu wenig für den Klimaschutz tue. Zwei weitere Klagen, darunter jene erwähnte aus Portugal, wurden abgelehnt. Hier sei der Gerichtsweg im Heimatland nicht ausgeschöpft worden. Bei der zweiten Klage eines ehemaligen Bürgermeisters einer französischen Küstenortes befand das Gericht, dass dem Betroffenen die "Opfereigenschaft" fehle, also der Grund, warum gerade er besonders betroffen sein soll.
Wie fiel das Urteil für die Schweiz aus?
16 der 17 Richterinnen und Richter stimmten dafür, eine(r) dagegen. Für Österreich sitzt Gabriele Kucsko-Stadlmayer in dem Gremium. Sie ist seit 2011 Universitätsprofessorin für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Uni Wien und seit 2015 als Richterin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entsandt.
Was steht im Urteil nun drinnen?
Es liege ein Verstoß gegen Artikel 6, Ziffer 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, also dem "Recht auf ein faires Verfahren", und ein Verstoß gegen Artikel 8 ("Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens").
Was sagte der EGMR konkret?
Der Gerichtshof stellte fest, "dass der von Menschen verursachte Klimawandel eine Tatsache ist". Und: "Dass er eine ernsthafte gegenwärtige und zukünftige Bedrohung für die in der Konvention garantierten Menschenrechte darstellt." Außerdem: "Dass die Staaten Maßnahmen zur wirksamen Bewältigung des Problems ergreifen müssen." Er machte auch klar, "dass die derzeitigen globalen Klimaschutzbemühungen nicht ausreichen".
Bekamen die KlimaSeniorinnen Schadenersatz?
Nein, sie hatten keinen Schadenersatz geltend gemacht. Aber das Gericht entschied, dass die Schweiz dem beschwerdeführenden Verein 80.000 Euro für Kosten und Auslagen zahlen müsse.
Hat das Urteil Auswirkungen?
Davon ist auszugehen. Direkt betroffen ist zwar vorerst nur die Schweiz. Das Urteil dürfte aber zu einem Präzedenzfall für weitere Klimaklagen vor dem EGMR, aber auch vor nationalen Gerichten werden.
Auch auf Österreich?
Ja, Österreich trat 1958 der (Europäischen) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei. Es ist schwer vorstellbar, dass ein heimisches (Höchst-)gericht im Fall einer ähnlichen Klage wie nun für die Schweiz, anders entscheiden würde.
Ist das Urteil rechtswirksam?
Ja, es ist keine Berufung dagegen mehr zulässig.