Bildungsministerin

"Digitales Lernen hat im Klassenzimmer nichts zu suchen"

Machen Computer und Tablets in den Schulen doch nicht schlau? Dänemark drückt nun die Stopptaste, das PISA-Musterland Estland hat sich eingebremst. Die Hintergründe, und warum gemeinsame Abendessen gut für Mathematik sind.

Digitalisierter Unterricht galt lange als Königsweg, nun kehrt Realismus ein
Digitalisierter Unterricht galt lange als Königsweg, nun kehrt Realismus ein
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Newsflix Redaktion
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Verwirrende Zeiten. Die digitale Ausstattung von Schulen wird vielerorts als Königsweg gepriesen. Tablets und Computer sollen der Schuhlöffel zu Bildung sein. Nun aber zügeln die Vorreiter der Entwicklung die Pferde. In Dänemark, hochgerüstet mit moderner Technik, verkündete Mattias Tesfaye, Minister für Kinder und Bildung, vor wenigen Tagen ein 12-Punkte-Programm, es liest sich wie die Abkehr von einer alten, neuen Idee. Die Schulen hätten sich den großen Tech-Konzernen zu lange unterworfen, man sei als Gesellschaft zu "verliebt" gewesen in die Wunder der Digitalwelt, sagt der Sozialdemokrat.

Die 12 Empfehlungen für Digi-Detox in Schulen

  • Die Schulleitung legt Regeln für die Bildschirmnutzung fest
  • Lassen Sie pädagogisches Personal und Schüler an der Regulierung mitarbeiten
  • Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Bildschirmnutzung in der Schule
  • Erarbeiten Sie attraktive Alternativen zur Bildschirmnutzung
  • Treten Sie mit den Eltern in einen Dialog ein
  • Begrenzen Sie digitale Ablenkungen während der Schulzeit
  • Verbannen Sie Mobiltelefone aus dem Unterricht
  • Blockieren Sie den Zugriff auf nicht relevante Websites
  • Sperren Sie Tablets und Computer weg, wenn sie im Unterricht nicht verwendet werden
  • Sorgen Sie für eine gute Balance zwischen analogem und digitalem Unterricht
  • Setzen Sie Digitalisierung nur ein, wenn es pädagogisch sinnvoll ist
  • Schaffen Sie Raum für analoges Lernen
Kristina Kallas ist seit 2023 Bildungsministerin in Estland
Kristina Kallas ist seit 2023 Bildungsministerin in Estland
Ministerium Estland

Tesfaye ging noch weiter, er entschuldigte sich bei den Jugendlichen, sie zu "Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment" gemacht zu haben. Er reagierte damit auf die Warnungen von Experten, Lehrern, Eltern, die in der Digitalisierung eine zunehmende Sucht sehen, die vom eigentlichen Unterricht ablenke. 72 Prozent der Schülerinnen und Schüler nutzen in so gut wie jeder Unterrichtsstunde in Dänemark digitale Geräte.

Szenenwechsel in ein anderes bildungspolitisches Musterland. In den vergangenen Jahren verfügten sich Dutzendschaften von Politikern nach Estland, dem europäischen Musterland der Digitalisierung. Was in Österreich nun nach und nach eingeführt wird, gibt es hier schon seit 23 Jahren, den digitalen Ausweis etwa. Nahezu 100 Prozent aller Amtswege lassen sich inzwischen digital erledigen, die Datenschutz-Bedenken sind gering. Das liegt auch daran, dass Benutzer von digitalen Konten sehen, wenn Behörden auf Daten zugreifen und auf welche.

Und jetzt steigt ausgerechnet Estland in den Schulen bei der Digitalisierung auf die Bremse?

Das stimmt, stimmt wiederum aber auch nicht. Estland reguliert lediglich klar, welche Technik im Bildungssystem zum Einsatz kommt, wann und wo. Wie in Dänemark soll die Hochheit über die Klassenzimmer zurückgewonnen werden. Tablets an Schüler einfach so zu verschenken, ist nicht Teil des Plans.

Estland ist mit 45.300 Quadratkilometern Fläche etwa doppelt so groß wie Niederösterreich und hat etwas weniger Einwohner als Oberösterreich. Kristina Kallas ist seit 2023 Bildungsministerin. sie hat 2018 die sozialliberale Partei Eesti 200 mitbegründet, so etwas wie eine baltische Ausgabe der NEOS, beide Parteien gehören der Renew Europe-Fraktion im EU-Parlament an. Kristina Kallas ist studierte Historikerin und Politikwissenschafterin, mit Kaja Kallas, bis vor kurzem estnische Premierministerin und nun designierte EU-Außenbeauftragte, ist sie nicht verwandt.

Mattias Tesfaye, früher Justizminister und Integrationsminister, nun in Dänemark für Bildung zuständig
Mattias Tesfaye, früher Justizminister und Integrationsminister, nun in Dänemark für Bildung zuständig
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In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erklärte Kristina Kallas nun die Grundzüge des estischen Bildungssystems und wie sie die Digitalisierung sieht. Die wesentlichsten Passagen:

Wie erfolgreich war Estland in der PISA-Studie?
Ziemlich! Die letzte Testung erfolgt 2022 unter 15- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern und das weltweit in 81 Ländern. 690.000 Jugendliche nahmen teil. In allen drei Kategorien, Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften, lag Singapur voran. In Mathematik und Naturwissenschaft war Estland das beste europäische Land. Im Lesen lag lediglich Irland besser. Weltweit gesehen landete Estland in Mathematik auf Platz 7 (Österreich auf Platz  16), im Lesen auf Platz 6 (Österreich 21) und in Naturwissenschaft auf Platz 6 (Österreich  23).

Wie erklärt sich Kallas das Ergebnis?
Im grundsätzlichen Zugang des Landes. "Bildung wurde immer als etwas betrachtet, das Türen öffnet und einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg ermöglicht", sagt sie in der "FAZ".

Was ist von der Denkweise her anders?
Estland erklärte sich am 20. August 1991 für unabhängig von der Sowjetunion. 25 Prozent der Bevölkerung sind nach wie vor russischsprachig. "Das estnische Bildungssystem ist älter als der Staat", sagt Kristina Kallas. "Eine Folge daraus ist heute, dass die Schulen von den lokalen Gemeinschaften und nicht vom Staat betrieben werden. Die Schulgemeinschaft ist sehr stark, das Engagement der Eltern ist hoch. Das ist so ähnlich wie in asiatischen Ländern.

Digitaler Unterricht auf die Spitze getrieben, nun keine Zukunftsvision mehr
Digitaler Unterricht auf die Spitze getrieben, nun keine Zukunftsvision mehr
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Wie engagieren sich Eltern in der Schule?
In Estland gibt es seit 2002 das digitale Mitteilungsheft "eKool", das viel stärker genutzt wird als vergleichbare Produkte in Österreich. Hier können Eltern Einblick in die Hausaufgaben, Noten (und zwar täglich, nicht nur bei Schularbeiten und Zeugnissen), Abwesenheit nehmen, den Unterrichtsstoff für die nächsten Wochen abfragen und mit der Schule in Kontakt treten und umgekehrt. Die Eltern "sind in Schulaktivitäten involviert und achten auf den Lernfortschritt ihrer Kinder. Das ist wichtig", sagt Kallas. "In den PISA-Tests sieht man, dass es eine Korrelation zwischen den Leistungen in Mathematik und der Anzahl der gemeinsamen Abendessen mit den Kindern gibt.

Wie viel Geld investiert Estland in Bildung?
Das Land gibt 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Bildung aus, im Detail ergeben sich allerdings deutliche Unterschiede zu Österreich. Laut OECD wendet Estland pro Schülerin oder Schüler 9.226 Dollar auf, Österreich 15.423 Dollar. Das Geld bleibt also bei uns irgendwo im System hängen.

Wie ist die Schule in Estland organisiert?
"Kinder von eineinhalb bis sieben Jahren gehen in den Kindergarten", so die Bildungsministerin. "Die Gebühren sind gering, es gibt ein Ganztagsprogramm, von 7.30 Uhr bis 18 Uhr abends ist geöffnet." Wer in diesen Vorschulen unterrichten will, braucht ein Hochschuldiplom, der Andrang ist groß. Laut Kallas kommen auf einen Studienplatz neun Bewerberinnen oder Bewerber. Sie verdienen 90 Prozent des Gehalts eines Grundschullehrers.

Bildungsminister Martin Polaschek bekommt in einer Schule in Wien-Döbling digitales Lernen präsentiert
Bildungsminister Martin Polaschek bekommt in einer Schule in Wien-Döbling digitales Lernen präsentiert
Sabine Hertel

Wie lange gehen die Kinder gemeinsam in die Schule?
Getrennt wird nicht nach der vierten Klasse Volksschule wie in Österreich, sondern es gibt einen gemeinsamen Unterricht bis zum Ende der neunten Klasse. "Das ist eine unserer Stärken, dass wir die Kinder in keiner Form trennen", sagt Kallas in der "FAZ". "Das ist wichtig, weil sich die akademischen Fähigkeiten der Kinder in sehr unterschiedlichen Stadien ihres Lebens entwickeln."

Warum Digitalisierung oft falsch verstanden wird?
Besucher wundern sich zumeist: Nanu, überall liest man darüber, wie gut die Schulen in Estland mit elektronischen Geräten ausgerüstet sind, aber im Unterricht ist davon relativ wenig zu bemerken. "In Estland glauben wir: Digitales Lernen hat im Klassenzimmer nichts zu suchen, weil der Lehrer dort ist, um eine soziale Interaktion mit den Kindern zu haben", erklärt Kallas. Digitale Geräte werden sehr wohl eingesetzt, aber außerhalb des klassischen Unterrichts.

Was heißt das für den Alltag in den Schulen?
In vielen Ländern wurden, wie in Österreich, in den letzten Jahren Notebooks und Tablets flächendeckend an Schülerinnen und Schüler ausgegeben, oft fehlt ein Plan, was sie mit den Gerätschaften anfangen sollten. Estland machte da nicht mit. Die Kinder bekommen keine Tablets, die Schulen sehr wohl. "Die Fähigkeiten der Schüler müssen im Unterricht entwickelt werden, das ist seit 2011 Teil des Lehrplans", sagt Kallas. "Ein Kind, das Papier und Notizbuch verwendet, lernt ganz anders als durch das iPad. Das Gehirn arbeitet anders, wenn auf Papier gelernt wird."

Die frühere estnische Premierministerin Kaja Kallas (r.), nicht verwandt mit Bildungsministerin   Kristina Kallas (l.)
Die frühere estnische Premierministerin Kaja Kallas (r.), nicht verwandt mit Bildungsministerin Kristina Kallas (l.)
Reuters

Setzt Estland Künstliche Intelligenz ein?
Ja, aber nicht im klassischen Unterricht, sondern die Schülerinnen und Schüler schreiben Texte und korrigieren sie dann mit KI. "Wir haben mit vielen Wissenschaftlern gesprochen, und ich glaube, dass das Erlernen von Sprachen mithilfe von Künstlicher Intelligenz sehr effizient ist. Das muss dann nicht im Klassenzimmer stattfinden", so die Ministerin.

Ist die Digitalisierung nun nützlich oder schädlich?
Wohl beides ein bisschen. "Als ich aufwuchs, wurde der Fernseher als das Böse betrachtet. Jeder dachte, meine Generation würde die dümmste sein, weil wir nicht lesen, sondern nur fernsehen. Zum Glück ist das nicht passiert", sagt Kallas. "Dasselbe gilt für digitale Werkzeuge und soziale Medien. Auf TikTok lernen Kinder viel Gutes. 12-Jäh­rige kennen heute den Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie wissen, wer Donald Trump ist und wer Wladimir Putin. Was wir tun müssen, ist: ihnen helfen, mit dieser Informationsflut umzugehen."

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