TAtort Antarktis
Forscher droht mit Mord: Warum Hilfe erst in 10 Monaten kommt
Minus 30 Grad, Orkan-Wind, den ganzen Tag Dunkelheit: In einer Antarktis-Station hat ein Crew-Mitglied gedroht, Kollegen umzubringen. Eine Rettung ist erst in 10 Monaten möglich. Warum das so ist, was ein österreichischer Antarktis-Forscher dazu sagt.

Monatelang eingesperrt mit einer Gruppe Fremder auf engstem Raum, kaum Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen. Das alles in einer lebensfeindlichen Umwelt. Das Überwintern in der Antarktis ist schon für sich genommen eine besondere Herausforderung. Und nicht jeder Mensch kommt damit gleichermaßen gut zurecht.
In einer südafrikanischen Antarktis-Forschungsstation ist es aber nun zu einem Zwischenfall gekommen, der die Besatzung um ihr Leben fürchten lässt. Ein Crewmitglied hat Kollegen sexuell belästigt, körperlich angegriffen, sogar mit dem Umbringen bedroht. Die Crew bat daraufhin in einer E-Mail dringend um Hilfe, weil sie sich von dem Kollegen bedroht fühlt. Der Haken an der Sache: Bis Hilfskräfte bei der Forschungsstation sein können, werden mindestens noch Monate vergehen.

Wie gefährlich die Situation für die Crew derzeit ist, weshalb aktuell keine Rettung möglich ist, wie oft es in der antarktischen Einsamkeit zu derartigen Zwischenfällen kommt und was ein österreichischer Antarktis-Forscher dazu berichten kann - der Überblick:
Was ist geschehen?
Mitglieder des Forschungsteams der südafrikanischen Antarktisforschungsstation SANAE-IV haben in einem offenen E-Mail an die Regierung ihres Landes dringend um Hilfe gebeten. Eines der Teammitglieder sei seinen Kollegen gegenüber aggressiv und zudringlich geworden und habe sogar Todesdrohungen ausgesprochen.
Wie kam das an die Öffentlichkeit?
Das Mail wurde der Zeitung South African Sunday Times zugespielt, die am Sonntag darüber berichtete.
Geht es um einen Mann oder eine Frau?
Das lässt sich aus dem Schreiben nicht ablesen, zumindest nicht aus den veröffentlichten Teilen.

Was weiß man genau über den Verdächtigen bzw. die Verdächtige?
Der Text des Mails, wie er von der Zeitung wiedergegeben wird, ist sehr vage gehalten. Das ist wahrscheinlich geschehen, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Es ist davon auszugehen, dass die verdächtige Person ebenfalls Zugriff auf das Internet hat. Abgesehen davon, handelt es sich um unbestätigte Vorwürfe. Es wird weder geschrieben, wer wen angegriffen und bedroht haben soll, noch wer von den Drohungen betroffen gewesen ist. Alle Personen wurden anonymisiert.
Was soll genau geschehen sein?
Der (nicht namentlich genannte) Verfasser der Mail schreibt: "Bedauerlicherweise hat sich das Verhalten der Person zu einem Punkt gesteigert, der zutiefst beunruhigend ist. Insbesondere hat die Person … körperlich angegriffen (der Name der angegriffenen Person wird von der Zeitung nicht genannt), was einen schwerwiegenden Verstoß gegen die persönliche Sicherheit und die Arbeitsnormen darstellt."
Weiter?
Zudem heißt es in dem Mail: "Außerdem drohte die Person, … zu töten (der Name wird wieder nicht genannt) und schuf so ein Klima der Angst und Einschüchterung. Ich bin weiterhin zutiefst besorgt um meine eigene Sicherheit und frage mich ständig, ob ich das nächste Opfer werden könnte."

Und die sexuelle Belästigung?
Die anonyme Person soll außerdem ein Teammitglied sexuell belästigt haben, steht in dem Mail: "Das Verhalten der Person ist immer ungeheuerlicher geworden, und ich habe große Schwierigkeiten, mich in seiner Gegenwart sicher zu fühlen", heißt es darin. "Es ist zwingend erforderlich, dass sofort Maßnahmen ergriffen werden, um meine Sicherheit und die aller Mitarbeiter zu gewährleisten."
Weiß man, wer derzeit in SANAE-IV stationiert ist?
Das Team der Basis besteht laut dem südafrikanischen Nationalen Antarktisprogramm aus Experten für Meteorologie, Medizin und Ingenieurwesen. Sie führen Klimabeobachtungen, Atmosphärenstudien und geologische Untersuchungen durch. Auf der Homepage der Station sind Fotos aller Crews veröffentlicht, die in den vergangenen Jahrzehnten in SANAE-IV gearbeitet haben. Allerdings ist das neueste Foto aus dem Jahr 2023. Ob das Zufall ist, oder das Bild der aktuellsten Crew entfernt worden ist, lässt sich nicht feststellen.
Wie geht es jetzt weiter?
Das Hilferuf-Mail ging offenbar zunächst an das südafrikanische Umweltministerium, da dieses das Antarktisforschungsprogramm des Landes leitet. Umweltminister Dion George sagte, von der Zeitung mit dem Mail konfrontiert, er werde mit den Teammitgliedern sprechen, "um mir selbst ein Urteil zu bilden".

Wurde der Minister konkreter?
Ein wenig. Er sagte demnach: "Es gab eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Teamleiter und dieser Person. Dann eskalierte die Situation, und diese Person griff den Leiter körperlich an. Sie können sich vorstellen, wie das ist: Es ist eng, und die Leute bekommen Lagerkoller. Das kann sehr verwirrend sein."
Also viel Lärm um nichts?
Das kann man so nicht sagen. Die Vorwürfe sind schwerwiegend, und der zuständige Minister ist offenbar im Besitz weiterer Informationen. Es scheint ihm zunächst wichtig, Klarheit in die Sache zu bekommen, eine Risikoeinschätzung vorzunehmen und dann weitere Entscheidungen zu treffen.
Welche Möglichkeiten gibt es denn für die Regierung, zu helfen?
Derzeit so gut wie keine, und das ist der springende Punkt. Denn die Station liegt etwa 4.000 Kilometer von der Südspitze Südafrikas entfernt auf dem antarktischen Festland. Dort bricht jetzt der Winter an, mit Durchschnittstemperaturen zwischen minus 20 und minus 30 Grad, Stürmen mit mehr als 200 km/h Spitzengeschwindigkeit und nahezu 24 Stunden vollständiger Dunkelheit. Unter diesen Umständen ist die Station weder mit dem Schiff, noch per Flugzeug erreichbar.
Wie lange bleibt das so?
Etwa die nächsten 10 Monate. Erst dann, wenn der antarktische Winter vorüber ist, werden sich die Wetterbedingungen wieder so weit verbessert haben, dass es gefahrlos möglich sein wird, die Station zu erreichen.

Und was könnte die Regierung notfalls tun, wenn Gefahr in Verzug ist?
Umweltminister Dion George erklärte laut South African Sunday Times, eine erste Untersuchung habe ergeben, dass die betreffende Person keine unmittelbaren "gefährlichen Absichten" hege. Sein Ministerium habe zudem mit Kollegen in Norwegen und Deutschland gesprochen, "für den Fall, dass wir dringend eingreifen müssen". Denn diese Länder haben die nächstgelegenen Stützpunkte zu SANAE-IV. Der nächste ist die deutsche Neumeyer-Station III, sie liegt etwa 320 Kilometer von der südafrikanischen entfernt.
Warum kommt es überhaupt zu solchen Aussetzern?
"Die Antarktis ist aus psychologischer Sicht es ein sehr, sehr einsamer Ort", sagt der britische Abenteurer Alan Chambers in der Londoner Times. Er hat unter anderem eine 1.125 Kilometer lange Skiexpedition zum Südpol absolviert. "Es gibt kaum Kontakt, wenn man also in einem Lager oder Forschungszentrum ist, ist man sechs Monate, wenn nicht sogar ein Jahr, mit diesen Menschen zusammen."
Was heißt das?
Aus psychologischer Sicht führe das dazu, dass alles überbewertet wird. Alan Chambers: "Alles ist weiß – es gibt keine Farben, keinen Lärm und nichts, was man als normal ansehen würde. Das Verhalten aller – auch das eigene – wird dadurch verstärkt, und die kleinen Dinge werden zu großen Dingen."

Werden die Crew-Mitglieder denn vor so einer Mission nicht überprüft?
Üblicherweise schon, deshalb ist die aktuelle Situation auch außergewöhnlich. Laut Umweltminister Dion George werden die Forscher vor ihrer Entsendung in die Antarktis neben einer eingehenden körperlichen auch einer psychologischen Untersuchung unterzogen, da die Bedingungen in der abgelegenen, rauen Landschaft mit dem Weltraum vergleichbar und sehr anstrengend seien.
Was passiert, wenn tatsächlich jemand in einer Station schwer krank wird?
"Es gibt natürlich in jeder Station ärztliche Versorgung. Sollte allerdings wirklich jemand schwer erkranken, gibt es so gut wie keine Möglichkeit, ihn rauszubringen", erklärt der Wiener Universitätsprofessor Andreas Richter. Er ist einer der beiden Gründer des Austrian Polar Research Institute, arbeitet am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemforschung und verbrachte selbst schon mehrere Monate in der Antarktis.
Aber weshalb ist es nicht möglich jemanden einfach auszufliegen?
"Wegen der Stürme und der andauernden Dunkelheit können keine Flugzeuge landen", so Professor Richter. "Manche Stationen auf der antarktischen Halbinsel sind auch im Winter erreichbar, weil dort die Wetterbedingungen nicht ganz so extrem sind." Aber die Stationen auf dem antarktischen Kontinentalsockel sind tatsächlich die meiste Zeit des Jahres über vom Rest der Welt ausgeschlossen.


Und warum werden die Stationen dann im antarktischen Winter überhaupt besetzt?
Andreas Richter: "Einerseits, weil auch im Winter Forschung betrieben wird. Und die dafür nötigen Geräte müssen betrieben und gewartet werden." Zudem hätten viele Länder auch ein politisches Interesse daran, ihre Polarstationen ganzjährig zu betreiben, um Flagge zu zeigen, so der Wissenschafter.
Weshalb?
Weil in der Antarktis riesige Rohstoffvorkommen vermutet werden, die allerdings unter kilometerdicken Eisschichten verborgen liegen. Viele Bereiche der Antarktis waren zuletzt vor vielen Millionen Jahren eisfrei. Da möchten viele Länder ihre Besitzansprüche geltend machen, und eine Möglichkeit dafür ist, Präsenz zu zeigen.
Von wie vielen Ländern reden wir da?
Das gilt für die Antarktis-Anrainerstaaten wie eben Südafrika ebenso wie für die Supermächte und weitere Industrienationen. Insgesamt haben 57 Staaten einen Antarktis-Vertrag unterzeichnet, von denen 55 mindestens eine Forschungsstation betreiben.

Wie groß ist die Antarktis eigentlich?
Das weiß man nicht so genau, weil die feste Landmasse komplett von Eis überzogen ist und viele Bereiche, etwa Meeresbuchten, ebenfalls zugefroren sind. Aber wenn man den gesamten Bereich, also Festland und gefrorenes Meer, zusammenzählt, ist der Kontinent etwa 13,62 Millionen Quadratkilometer groß.
Was heißt das im Vergleich?
Das sind um 3,1 Millionen Quadratkilometer mehr als Europa groß ist und etwas mehr als die Hälfte von Nordamerika (24,9 Millionen Quadratkilometer).
Und wie viele Forschungsstationen gibt es?
Derzeit sind es laut offizieller Zählung 86 Stationen, verteilt über den ganzen Kontinent, wovon 56 Stationen ganzjährig oder überhaupt nur im Winter betrieben werden. Während der Sommermonate befinden sich etw 5.000 Menschen in der Antarktis, im Winter geht diese Zahl auf etwa 1.000 zurück.
Das sind alles Wissenschafter?
Nein, es gibt auch zahlreiches technisches Personal, das einerseits die Fahrzeuge, die Geräte und die Stationen wartet. Und es gibt auch Personen, die für die Sicherheit der Anlagen zuständig sind. Aber laut Professor Richter sind vor allem die Nicht-Wissenschafter das größte Problem für die Sicherheit in den Stationen.

Wie das?
"Diese sogenannten Systemerhalter lassen sich meist nur deshalb auf diese Jobs ein, weil sie verhältnismäßig gut bezahlt werden", so Andreas Richter. "Wenn man aber wirklich nur das Geld als Motivation hat und keine Forschung hat, die man weiterbringen möchte, dann ist die Chance, in eine psychische Ausnahmesituation zu kommen, weitaus größer."
Ob er selbst schon so etwas erlebt hat?
"Nein, bei meinen beiden Aufenthalten in der Antarktis 2017 und 2019 habe ich ausnahmslos gute Erfahrungen gemacht und sehr viel Kameradschaft erlebt", so Andreas Richter. "Aber auf der russischen Station Bellingshausen, wo ich einmal war, hat einige Zeit vorher ein russisches Crew-Mitglied einen chilenischen Wissenschafter niedergestochen."
Weshalb er in der Antarktis gewesen ist?
"Ich forsche einerseits daran, wie Böden gebildet werden, also was es braucht, damit auf einem ursprünglich kahlen und unfruchtbaren Boden eine Schicht entsteht, auf der etwas wachsen kann", so der Wissenschafter. "Und ich untersuche die Rolle von Böden für den Klimawandel."

Solche Böden, wo etwas wächst, gibt es in der Antarktis?
Ja, an den Küsten, hier ist das Wetter vergleichsweise mild gegenüber dem Inneren des Kontinents. Professor Richter: "Das heißt, hier wird es auch im Winter nicht kälter als minus 20 bis minus 30 Grad, weil das Meer die Kälte puffert." Dadurch könnten sich primitive Böden entwickeln, auf denen etwa Moose gedeihen, die die Kälte überstehen.
Wie kalt wird es im Inneren der Antarktis?
Die Durchschnittstemperatur im Winter kann minus 50 Grad betragen. Die tiefste jemals auf der Erde gemessene Temperatur war ebenfalls in der Antarktis: minus 93 Grad in der Ostantarktis – damit ist der größere Teil des Kontinents gemeint, der sich etwa zwischen der westlichsten Spitze Afrikas und den Balleny Inseln südlich von Neuseeland erstreckt. Als Westantarktis wird der kleinere Bereich zwischen dem Ronne- und dem Ross-Schelfeis bezeichnet.
Aber zurück zum Thema: Wie geht es jetzt mit dem Gefährder in der Forschungsstation weiter?
Vorläufig gehe von dem Mann keine Gefahr aus, so Südafrikas Umweltminister, in dessen Zuständigkeit das Antarktis-Forschungsprogramm des Landes fällt.
Und wenn sich die Situation ändert?
Dann besteht allerdings keine Möglichkeit, rasch einzugreifen. Mit einem Motorschlitten dauert es Stunden oder Tage, die südafrikanische Station zu erreichen – meist ist es von den Wetterbedingungen her aber ohnehin nicht machbar.