10 Jahre nach Absturz

Germanwings: Wie neue Theorien die Familien der Opfer quälen

Giftige Dämpfe im Cockpit, ein Autopilot, der sich selbständig macht: Eine TV-Doku stellt 10 Jahre nach dem Absturz einer Germanwings-Maschine mit 150 Toten sichere Erkenntnisse in Frage. Bei den Hinterbliebenen reißt das viele Wunden neu auf.

Der gebürtige Österreicher Klaus Radner verlor bei dem Absturz Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind
Der gebürtige Österreicher Klaus Radner verlor bei dem Absturz Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind
Rolf Vennenbernd / dpa / picturedesk.com
Martin Kubesch
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Vor 10 Jahren zerschellte der Germanwings-Flug 9525 in den südfranzösischen Alpen. Dabei starben 150 Menschen. Das Flugzeug vom Typ Airbus A320 war von Barcelona unterwegs nach Düsseldorf. Sehr rasch stand für die Ermittler fest, dass der Copilot den Jet in selbstmörderischer Absicht gegen ein Gebirgsmassiv steuerte und so 149 Passagiere und Besatzungsmitglieder tötete.

Doch just zum 10. Jahrestag der Katastrophe werden Zweifel an der bisherigen Darstellung der Ereignisse laut. Eine mehrteilige TV-Dokumentation bietet alternative Erklärungen für das Geschehen und stellt sogar eine mögliche Verschwörung der Behörden in den Raum – allerdings ohne dafür irgendwelche glaubwürdigen Motive oder gar Beweise vorzulegen.

Ein Gedenkstein in der Nähe des Dorfes Le Vernet in den französischen Alpen erinnert an den Absturz der Germanwings-Maschine vor 10 Jahren mit 150 Todesopfern
Ein Gedenkstein in der Nähe des Dorfes Le Vernet in den französischen Alpen erinnert an den Absturz der Germanwings-Maschine vor 10 Jahren mit 150 Todesopfern
CHRISTOPHE SIMON / AFP / picturedesk.com

Was an den neuen Verschwörungstheorien dran ist, wie die Ermittler die angeblichen neuen Beweise einschätzen und wie sehr die Hinterbliebenen der Opfer unter den neuerlichen Diskussionen leiden – eine Bestandsaufnahme:

Noch einmal kurz zusammengefasst: Was ist damals geschehen?
Am Dienstag, dem 24. März 2015, verschwand Flug 9525 der Lufthansa-Tochter Germanwings von Barcelona nach Düsseldorf 40 Minuten nach dem Start in Spanien, konkret um 10:41 Uhr, bei bestem Flugwetter von den Radarschirmen der Flugsicherung. Nur wenige Minuten später überflog ein Jäger der französischen Luftwaffe, die alarmiert worden war, das Gebiet und entdeckte erste Absturzspuren. Sofort alarmierte Rettungshelikopter erreichten das Gebiet keine 30 Minuten später.

Sammelgrab am Friedhof von Le Vernet: Sämtliche Körperteile, die nicht mehr eindeutig zugeordnet und überführt werden konnten, wurden hier gemeinsam bestattet
Sammelgrab am Friedhof von Le Vernet: Sämtliche Körperteile, die nicht mehr eindeutig zugeordnet und überführt werden konnten, wurden hier gemeinsam bestattet
CHRISTOPHE SIMON / AFP / picturedesk.com

Welches Bild bot sich den Rettungskräften?
Es war rasch klar, dass es keine Überlebenden gibt. Der Airbus war in einer Höhe von etwa 1.600 Metern gegen ein Felsmassiv geprallt, die Trümmerteile der Maschine lagen auf einer etwa 300 mal 400 Meter großen Fläche im unwegsamen Gelände verstreut.

Wie ging es weiter?
Zunächst ging man von einem Absturz aufgrund eines technischen Gebrechens aus. Aber schon bald verdichteten sich die Anzeichen, dass der Airbus absichtlich gegen das Bergmassiv gesteuert worden sein könnte. Der Verdacht richtete sich dabei rasch auf den Copiloten des Fluges, den damals 27-jährigen Andreas Lubitz.

Geriet 2015 sehr rasch ins Visier der Ermittler: Andreas Lubitz, 27, der Copilot des Airbus. Er sperrte den Kapitän des Fluges aus dem Cockpit aus und steuerte das Flugzeug in den Berg
Geriet 2015 sehr rasch ins Visier der Ermittler: Andreas Lubitz, 27, der Copilot des Airbus. Er sperrte den Kapitän des Fluges aus dem Cockpit aus und steuerte das Flugzeug in den Berg
FOTO-TEAM-MUELLER / EPA / picturedesk.com

Wie kam man auf ihn?
Der Voice Recorder des Flugzeugs konnte noch am Abend des Unglücks geborgen und bereits am nächsten Tag ausgewertet werden. Der Flugdatenschreiber wurde zwar erst 9 Tage nach dem Absturz gefunden, die aufgezeichneten Daten lieferten allerdings in Kombination ein sehr genaues Bild davon, was damals an Bord der Unglücks-Maschine geschehen ist.

Und was ist passiert?
Kurz nach 10.30 Uhr, die Germanwings-Maschine hatte ihre Reiseflughöhe erreicht und befand sich über den südwestlichsten Ausläufern der Alpen, forderte Andreas Lubitz den Piloten der Maschine, den 34-jährigen Patrick Sondenheimer, wiederholt auf, doch die Toilette aufzusuchen: "Du kannst jetzt gehen." Nach etwa 2 Minuten übergab der Kapitän den Airbus an Lubitz und verließ das Cockpit. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss – eine Sicherheitseinrichtung, die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 obligatorisch war.

Die Absturzstelle, einige Tage nach dem Unglück Die Trümmer lagen auf einer Fläche, die etwa 300 mal 400 Meter maß
Die Absturzstelle, einige Tage nach dem Unglück Die Trümmer lagen auf einer Fläche, die etwa 300 mal 400 Meter maß
YVES MALENFER / AFP / picturedesk.com

Was passierte danach?
Auf dem Voice Recorder ist zu hören, wie sich die Türe schließt. 29 Sekunden später änderte Lubitz im Autopilot des Flugzeugs die Flughöhe. Von 38.000 Fuß (knapp 11.600 Meter) auf 100 Fuß (etwa 30 Meter). Das Flugzeug ging daraufhin in den Sinkflug. Der Copilot erhöhte zudem mehrfach die Fluggeschwindigkeit auf zuletzt 323 Knoten (ca. 600 km/h).

Und das fiel keinem auf?
Doch, sowohl den Fluglotsen in Marseille, in deren Zuständigkeit sich der Airbus gerade befand, und wohl auch Flugkapitän Sondenheimer. Die Flugsicherung kontaktierte das Flugzeug sofort und mehrmals, erhielt allerdings keine Antwort, weshalb die Luftwaffe alarmiert wurde, um nach dem Rechten zu sehen.

Der Voice Recorder des abgestürzten Airbus wurde noch am Unglückstag gefunden und konnte rasch ausgewertet werden
Der Voice Recorder des abgestürzten Airbus wurde noch am Unglückstag gefunden und konnte rasch ausgewertet werden
Julian Stratenschulte / dpa / picturedesk.com

Was machte der Pilot?
Er klopfte zunächst an die Cockpittüre und verlangte von Lubitz, ihn wieder einzulassen. Als dieser nicht antwortete, versuchte der Pilot möglicherweise, mit einem schweren Gegenstand, möglicherweise einer Axt das Schloss aufzubrechen. Zumindest sind auf dem Voice Recorder metallische Geräusche zu hören, die darauf hindeuten.

Lässt sich die Türe nicht von außen öffnen?
Grundsätzlich schon, mit einem eigenen Zahlencode. Das ist aber laut Datenaufzeichnung offenbar nicht geschehen. Ob der Mechanismus defekt gewesen ist oder ob es dafür andere Gründe gab, ist bis heute unklar.

Angehörige der Opfer des Crashs anlässlich des 10. Jahrestages am Unglücksort in den französischen Alpen
Angehörige der Opfer des Crashs anlässlich des 10. Jahrestages am Unglücksort in den französischen Alpen
Picturedesk

Was tat der Copilot währenddessen?
Offenbar gar nichts. Auf dem Stimmenrekorder ist nur sein ruhiges Atmen zu hören, während draußen die Felsengipfel der Alpen immer näher kamen und die Alarmsysteme im Cockpit versuchten, das Schlimmste zu verhindern.

Was ist noch zu hören?
Verschiedene Stufen des Kollisions-Alarms. Um 10:41 Minuten und 6 Sekunden verstummt schließlich die Aufzeichnung, das Flugzeug zerschellte in 1.600 Metern Höhe an einem Gipfel des Bergmassivs Trois-Êvêchés (drei Bistümer.)

Mehr als 1.000 Mann suchten den Berg ab, um nur ja kein Stück zu übersehen
Mehr als 1.000 Mann suchten den Berg ab, um nur ja kein Stück zu übersehen
YVES MALENFER / AFP / picturedesk.com

Haben die Passagiere an Bord das Drama mitbekommen?
Davon ist wohl auszugehen, auf dem Voice Recorder sind auch vereinzelte Schreie zu hören, berichten deutsche Medien. Zudem erfolgte der Sinkflug sehr schnell und steil, was sich in jedem Fall gespenstisch angefühlt haben muss. Es ist daher kaum davon auszugehen, dass in der Passagierkabine vollkommen unbemerkt blieb, welches Drama sich im Cockpit abspielte. Auch wenn der Mutterkonzern Lufthansa später im Zuge eines Prozesses behaupten sollte, dass die Passagiere von der sich anbahnenden Katastrophe nichts mitbekommen hätten.

Gibt es Erklärungen, weshalb der Copilot diese Tat verübt hat?
Copilot Andreas Lubitz war offenbar ein psychisch schwerkranker Mann – darauf lässt zumindest seine Krankengeschichte schließen, die im Zuge der Ermittlungen bereits 2015 publik wurde. Fliegen war immer seine große Leidenschaft. Aber bereits während seiner Ausbildung zum Berufspiloten war er demnach wegen einer Depression in Behandlung und musste diese zeitweilig unterbrechen.

Ein Wrackteil der am 24. März 2015 in den französischen Alpen abgestürzten Germanwings-Maschine
Ein Wrackteil der am 24. März 2015 in den französischen Alpen abgestürzten Germanwings-Maschine
SEBASTIEN NOGIER / EPA / picturedesk.com

Das war's schon?
Nein, auch als er 2009 seine Ausbildung weiterführen und später abschließen konnte, besserte sich sein Gesundheitszustand nur vorübergehend. Die Ermittler fanden heraus, dass er in den 5 Jahren vor dem Absturz bei mehr als 40 Ärzten wegen unterschiedlicher Symptome in Behandlung gewesen ist. Er hatte Schlafstörungen, Depressionen, Sehstörungen, fürchtete fälschlicherweise, sein Augenlicht zu verlieren – die Ärzte fanden allerdings keinerlei organische Gründe dafür.

Und niemand zog die Notbremse?
14 Tage vor der Katastrophe überwies eine Ärztin Lubitz in eine psychiatrische Klinik, da sie eine Psychose befürchtete, schrieb der Stern 2015. Doch Lubitz ignorierte die Überweisung ebenso wie seine Krankschreibung. Die Ermittler fanden das zerrissene Dokument später im Abfalleimer in seiner Wohnung.

Die "Sonnenkugel" des deutschen Künstlers Jürgen Batschneider wurde an der Absturzstelle errichtet, besteht aus 149 Elementen und jedes davon steht für eines der Absturz-Opfer
Die "Sonnenkugel" des deutschen Künstlers Jürgen Batschneider wurde an der Absturzstelle errichtet, besteht aus 149 Elementen und jedes davon steht für eines der Absturz-Opfer
BORIS HORVAT / AFP / picturedesk.com

Aber hätten die Ärzte nicht Alarm schreien müssen, angesichts seines Zustands? Immerhin war er Pilot?
Er nannte den Ärzten schon lange nicht mehr seinen wahren Beruf. Und anstatt, wie verschrieben, in eine Klinik zu gehen, verheimlichte Lubitz seinem Arbeitgeber seinen Zustand und ging zur Arbeit. Die Obduktion seiner sterblichen Überreste ergab, dass er zum Zeitpunkt des Absturzes unter dem Einfluss von mehreren Antidepressiva und Schlafmitteln stand, so die F.A.Z.

Gab es noch weitere Indizien, die gegen Lubitz sprachen?
Auf seinem Tablet, das die Ermittler beschlagnahmten und auswerteten, googelte er laut Ermittlern nach verschiedenen Selbstmordmethoden und nach den Verschlussmechanismen von Cockpittüren. Auch kündigte er seinen Lebensgefährtin (einer Lehrerin) an, bald schon "etwas Großes" tun zu wollen, nach dem ihn alle kennen würden.

Gedenken im Joseph König Gymnasium in Haltern: 16 Schüler und zwei Lehrkräfte des Gymnasiums kamen bei dem Absturz ums Leben
Gedenken im Joseph König Gymnasium in Haltern: 16 Schüler und zwei Lehrkräfte des Gymnasiums kamen bei dem Absturz ums Leben
Martin Meissner / AP / picturedesk.com

Kurz gesagt: Die Behörden sind sicher, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zu Absturz gebracht und in Kauf genommen hat, dass mit ihm noch 149 weitere Menschen sterben werden.
Genau, zu diesem Schluss kam die deutsch Staatsanwaltschaft in Düsseldorf, die französische Staatsanwaltschaft in Marseille sowie die unabhängige französische Untersuchungsbehörde BEA.

Und warum soll jetzt doch alles anders sein?
Es gibt seit Jahren den Versuch der Eltern von Andreas Lubitz, ihn von der Schuld an dem absichtlich herbeigeführten Absturz rein zu waschen. Dazu haben diese bereits 2017 ein Privatgutachten erstellen lassen, in dem sie die Schlüsse der Behörden in Frage stellen. Außerdem betreiben sie eine Internetseite, auf der die Vorwürfe gegen ihren Sohn entkräftet werden sollen.

Was kam nun dazu?
Der Streaming-Anbieter Sky ließ eine 3-teilige Dokumentation produzieren, in der eine "alternative Version" des offiziellen Unfallhergangs angeboten wird, die auf den teils bereits bekannten Argumentationen der Familie von Andreas Lubitz basiert.

Wie sieht diese Version aus?
Es wird spekuliert, dass Andreas Lubitz im Cockpit ohnmächtig geworden sein könnte, während der Pilot auf der Toilette gewesen ist. Diese Ohnmacht könnte eventuell aufgrund giftiger Dämpfe oder Gase entstanden sein, die irgendwo ausgetreten sein könnten. Deshalb habe das Flugzeug automatisch den Sinkflug eingeleitet, wobei die Höhe von 100 Fuß vorab einprogrammiert gewesen sein könnte. Und dem Kapitän gelang es deshalb nicht, die Cockpittüre zu öffnen, weil diese defekt gewesen ist.

Gibt es für diese Theorien irgendwelche Beweise?
Nein, sie sind reine Spekulation. Diese werden allerdings sehr vehement vorgebracht. Der maßgebliche Experte hinter diesen Theorien ist der Salzburger Simon Hradecky, der auch das Flugunfall-Portal Aviation Herald betreibt. Er vermutet demnach einen Konstruktionsfehler bei Airbus und warnt vor weiteren Abstürzen, sollte diesen Vermutungen nicht nachgegangen werden.

Bemüht sich seit 10 Jahren, den Namen seines Sohnes reinzuwaschen: Günter Lubitz, Vater des Germanwings-Copiloten Andreas Lubitz
Bemüht sich seit 10 Jahren, den Namen seines Sohnes reinzuwaschen: Günter Lubitz, Vater des Germanwings-Copiloten Andreas Lubitz
Kay Nietfeld / dpa / picturedesk.com

Und wo wird die Verschwörung geortet?
Die Handys der Opfer, die nach dem Absturz noch funktionsfähig gewesen sind, wurden von den französischen Ermittlern ausgelesen und offensichtlich danach gelöscht. Denn als diese an die Angehörigen übergeben wurden, waren sie allesamt leer. Eine vernünftige Erklärung dafür blieben bislang allerdings die deutsche, als auch die französische Staatsanwaltschaft schuldig.

Noch weitere Ideen?
Es wird auch spekuliert, dass gar nicht Lubitz im Cockpit gesessen sein könnte, sondern Kapitän Patrick Sondenheimer. Das kann allerdings bereits jetzt als reine Spekulation abgetan werden, denn laut Ermittlern würden forensische DNA-Beweise vorliegen, wer auf welcher Seite der Cockpittüre gewesen ist, als der Airbus zerschellte.

Gedenkstein am Friedhof von  Le Vernet
Gedenkstein am Friedhof von  Le Vernet
CHRISTOPHE SIMON / AFP / picturedesk.com

Wie glaubwürdig sind diese "alternativen" Theorien?
Für die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf jedenfalls gar nicht. Staatsanwalt Christoph Kumpa, der im Zuge seiner Ermittlungen auch den kompletten Ermittlungsakte der Franzosen mit 21.000 Seiten gelesen hat, sieht im Interview mit dem zweiten österreichischen Aviation-Portal Austrian Wings jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte dafür, die Untersuchung des Absturzes neu aufzurollen.

Das heißt, die Verantwortung für den Absturz liegt juristisch alleine bei Andreas Lubitz?
Genau so ist es: "An der Verantwortlichkeit des Copiloten für den Absturz bestehen juristisch nicht die geringsten Zweifel. Das haben die Ermittlungen ganz klar ergeben", so Staatsanwalt Kumpa auf Austrian Wings.

"Die juristische Verantwortung für den Absturz des Airbus lim März 2015 iegt ganz alleine beim Copiloten Andres Lubitz", so der Düsseldorfer Staatsanwalt Christoph Kumpa
"Die juristische Verantwortung für den Absturz des Airbus lim März 2015 iegt ganz alleine beim Copiloten Andres Lubitz", so der Düsseldorfer Staatsanwalt Christoph Kumpa
Xinhua / Action Press / picturedesk.com

Aber hätten Ärzte und Arbeitgeber Lufthansa nichts unternehmen müssen?
Aus der Emotion heraus, würden viele Menschen diese Fragen vermutlich mit Ja beantworten. Juristisch sieht die Sachlage allerdings anders aus, so Staatsanwalt Christoph Kumpa, diesmal bei einem Interview im Stern: "Ein Arzt darf erst dann aktiv werden, wenn er für sich zu dem Ergebnis kommt, dass hier eine akute Gefahr für andere besteht." Dass diese hier tatsächlich bestanden hat, hätte aber kein Arzt ahnen können, zumal wenn er nicht wusste, welchen Beruf sein Patient ausübt.

Und wie sieht es mit der Verantwortung der Lufthansa aus?
Es wurden dazu mehrere Prozesse geführt, aber sämtliche damit befassten Gerichte sahen keine Verantwortung beim Mutterkonzern von Germanwings. Allerdings wurden die Kläger in der Frage der Haftung jetzt ans deutsche Luftfahrtbundesamt verwiesen. Dort soll schon demnächst ein weiterer Prozess beginnen, um die Verantwortungsfrage zu klären.

Juristisch unbehelligt, aber in Sachen Germanwings dennoch in der Kritik: Lufthansa-Chef Carsten Spohr
Juristisch unbehelligt, aber in Sachen Germanwings dennoch in der Kritik: Lufthansa-Chef Carsten Spohr
Roberto Monaldo / LaPresse / picturedesk.com

Ist denn zu erwarten, dass hier eine andere Entscheidung gefällt werden könnte?
Allzu große Hoffnungen sollten sich die Angehörigen nicht machen. Juristische Experten erwarten sich von diesem Prozess nur sehr wenig

Und wie kommen die Hinterbliebenen mit dieser Situation klar?
Die Betroffenheit ist nach wie vor groß, die Erzählungen dazu erschüttern. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Wunden jeden Jahr neu aufgerissen werden.

Klaus Radner verlor Tochter, Schwiegersohn, Enkelkind: "Natürlich ist immer dieser Herzschmerz da. Jeden Tag."
Klaus Radner verlor Tochter, Schwiegersohn, Enkelkind: "Natürlich ist immer dieser Herzschmerz da. Jeden Tag."
Picturedesk

Wie ist das gemeint?
Alljährlich findet auf Einladung der Lufthansa ein Totengedenken am Absturzort in Südfrankreich statt, so auch heuer wieder am Montag im engsten Kreis - nur Angehörige der Absturzopfer sind dabei willkommen. Einer ihrer Wortführer ist der gebürtige Österreicher Klaus Radner. Er hat seine Tochter Maria, seinen Schwiegersohn Sascha und das Enkelkind verloren.

Stimmt es, dass Maria Opernsängerin war?
Ja, und trotz ihrer Jugend – Maria Radner war 33 Jahre alt – bereits eine gefeierte Wagner-Interpretin. Sie sang bei den Salzburger Festspielen. Und bei einer DVD-Aufnahme an der Met in New York mit, die danach mit einem Classic-Grammy ausgezeichnet wurde. Im Sommer 2015 hätte sie erstmals in Bayreuth singen sollen.

Maria Radner (ganz rechts) mit Daniela Denschlag und Miranda
Keys (v. r.) bei einer Probe für Richard Wagners "Götterdämmerung" im Rahmen der Salzburger Osterfestspiele 2010
Maria Radner (ganz rechts) mit Daniela Denschlag und Miranda Keys (v. r.) bei einer Probe für Richard Wagners "Götterdämmerung" im Rahmen der Salzburger Osterfestspiele 2010
BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com

Wie kommt Klaus Radner mit seiner Situation zurecht?
Im Interview mit dem Stern sagt er: "Ich habe gelernt, damit zu leben. Aber ich denke mehrmals am Tag an meine Tochter, meinen Enkel und an Sascha, den Partner meiner Tochter. Das tut schon sehr weh." Er habe mehrfach daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. "Eine Therapie hat mir geholfen. Ich würde das meiner Familie und meiner Frau auch nicht antun. Aber es ist natürlich immer dieser Herzschmerz da. Jeden Tag."*

Was er sich wünschen würde
Vor allem, dass endlich jemand bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was geschehen ist. Es seien Menschen gewesen, die entschieden hätten, dass Andreas Lubitz ins Cockpit durfte, so Radner. Er sei entsetzt gewesen, als er erfahren habe, dass Lubitz bei 40 Ärzten in Behandlung war. "Ich gehe davon aus, dass einige der Ärzte wussten, dass er Pilot war. Keiner hat dafür gesorgt, dass er aus dem Verkehr gezogen wurde."

Ein Arzt hätte nach dem Absturz bei der Kripo ausgesagt, dass er gedacht habe: Oh Mann, kein Bock, dass der eine Kiste fliegt. Radner: Warum hat er nichts getan? Auch die Eltern von Andreas Lubitz, die ja von seiner Depression gewusst hätten, müssten Verantwortung übernehmen.

"Das Netz für Piloten ist seit der Germanwings-Katastrophe noch enger geworden", sagt Luftfahrtexperte Patrick Huber
"Das Netz für Piloten ist seit der Germanwings-Katastrophe noch enger geworden", sagt Luftfahrtexperte Patrick Huber
URS FLUEELER / Keystone / picturedesk.com

Wurden aus der Katastrophe Lehren gezogen?
Laut dem österreichischen Luftfahrtjournalisten Patrick Huber, der auch ein Buch über die Germanwings-Katastrophe geschrieben hat, sei das sehr wohl der Fall: "Nicht nur die Lufthansa, die gesamte Luftfahrtindustrie hat ihre Lehren daraus gezogen", so Huber im Stern. Das Netz sei noch engmaschiger gezogen worden, um psychisch kranke Piloten herauszufiltern, die Branche habe die psychologischen Kriterien nachjustiert und würde bei den Medizin-Check-Ups noch stärker darauf zu achten, ob Piloten psychisch auffällig sind.

* Sollten Sie Suizid-Gedanken haben, dann holen Sie sich bitte Hilfe. Der Notruf 142 steht rund um die Uhr zur Verfügung.

Akt. Uhr
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