jetzt reden betroffene
Sind brüllende Kinder nicht genauso putzig wie Feldhamster?
Kindergärtner, Lehrerinnen, Freizeitpädagogen*: Niki Glattauer kommentiert regelmäßig E-Mails der wahren Bildungsexperten. Aber auch für viele andere ist Schule Thema – sobald es sie betrifft. Etwa wenn Anrainer gegen Schulneubauten bürgerinitiativ werden.

Aus der Zeitung Heute: "Ruhig, idyllisch, naturbelassen – so präsentiert sich aktuell den Bewohnerinnen und Bewohnern die Otto-Probst-Siedlung in Wien-Favoriten. Doch im Zuge der Neugestaltung der Siedlung Wienerfeld West soll in der Neilreichgasse 126 eine neue Volksschule mit 17 Ganztagsklassen für rund 500 Schüler gebaut werden. Gebaut wird ab Ende 2027."
Oder doch nicht? Eine Bürgerinitiative aus Anrainern und Naturschützern will diesen Schulbau verhindern. 600 Unterschriften gibt es bereits. Mit einer Petition will man nun auch in den Nationalrat.
Hier nun Auszüge aus vier E-Mails, die mich zu diesem geplanten Schulneubau erreicht haben – und anschließend mein Kommentar dazu.

1. "… ständig schreiende und brüllende Kinder!"
aus einem E-Mail der Anrainer Sabine und Karl Gessl
"Es ist traurig, dass immer damit argumentiert wird, dass Kinder spielen und sich bewegen müssen. Da bin ich der gleichen Meinung! Allerdings spricht niemand davon, dass die heutigen Eltern (und wir wissen, um welche Eltern es geht) ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen und das Lehrpersonal kaum mehr Durchgriffsrechte gegen ständig schreiende und brüllende Kinder hat. Wenn einmal versucht wird, von einem/er Lehrer/in durchzugreifen, stehen am nächsten Tag die Eltern vor der Tür und die Lehrperson muss sich rechtfertigen."
Von "sanft" keine Rede "Es geht bei diesem Schulprojekt (siehe oben) nicht nur um die Schule (6-stöckige Ganztagsschule mit Sportfläche am Dach, 500 Schüler/-innen, 50 Pädagogen), sondern um die gesamte Verbauung der Wienerfeld West Siedlung und Versiegelung von alten, schönen Grünflächen. In den Medien wird ständig von einer "sanften" Neugestaltung und Verbesserung der Wienerfeld West Siedlung geschrieben. Von "sanft" kann allerdings keine Rede sein."
Wir wollen keine Brennpunktschule "Die Siedlung wird komplett nachverdichtet. D.h. Aufstockung und Neubau von Hochhäusern mitten in den Grünraum hinein. Weiters wird eine Tiefgarage für über 200 Autos errichtet, leider gut über die ampelfreie Abkürzung durch unsere Siedlung zu nutzen. Übrigens, auch bei uns wohnen Kinder, die muss man nicht schützen? Warum werden nicht die wirklichen Probleme angesprochen??? Es ist ja abzusehen, dass diese Schule eine weitere Brennpunktschule in Favoriten wird!!!"

2. "Es gibt bestimmt leerstehende Häuser und Fabriksgelände …"
aus einem E-Mail der Anrainerin Gabriele Broser
"Ich war selbst Lehrerin und verstehe daher das Projekt des Schulbaues. Dennoch ist der Artenschutz ein entscheidendes Argument dagegen. In diesem Gebiet leben streng geschützte Feldhamster (rote Liste), was auf der Hamsterkarte der Stadt Wien ersichtlich ist. Auch Igel, Fledermäuse, Mauersegler und Maulwürfe gibt es hier, ebenfalls geschützt."
Hier geht es um Artenschutz "Wie passt das zusammen, dass man Betonflächen, Bäche usw. renaturiert und sich gleichzeitig über geschützte Lebensräume hinwegsetzt? Es gibt bestimmt leerstehende Häuser, ehemalige Fabriksgelände usw., die in Frage kommen, ohne dass viele Tiere und Pflanzen ihren Lebensraum verlieren. Es geht hiermit nicht um die Lebensqualität einzelner Bürger, sondern um Artenschutz."
3. "Wie kann man solch putzigen Wesen den Lebensraum nehmen?"
aus einem E-Mail des Anrainers Thomas Hüller
"Ich beobachte und fotografiere jedes Jahr in Wien Feldhamster. Macht sich die Stadt Wien überhaupt keine Gedanken um diese Tiere? Feldhamster zählen zu den streng geschützten Tierarten. Sie werden in der "Roten Liste" als gefährdet eingestuft. Ich frage mich daher, ob überhaupt solch ein Bauprojekt zulässig ist, wenn eine lebende Feldhamster Kolonie vorhanden ist. Wie kann man solch putzigen Wesen immer mehr Lebensraum nehmen und sie ihrem Schicksal überlassen?"

4. "Eine gemütliche Jause am Balkon ist unmöglich."
aus dem E-Mail von Wolfgang B., der anonym bleiben möchte
"Ich kann verstehen, dass Anrainer gewisse Bedenken gegen manche Schulformen haben. Wir wohnen seit 1989 in unmittelbarer Nähe einer Volksschule. Damals war die 'Marienkäferlschule' mit Respektspersonen besetzt. Seit dem Umbau der Volksschule in eine Ganztagsschule für Integrationskinder ist es allerdings durch den täglichen Lärm kaum möglich, im Sommer bei geöffneten Fenstern in der Wohnung bei Zimmerlautstärke Radio zu hören oder sich verständlich zu unterhalten." (…)
Grundsätzlich toll, ABER … "Eine gemütliche Jause mit Gästen am Balkon ist unmöglich, da man sein eigenes Wort kaum versteht. (…) Da es immer weniger Zeit für Turnstunden an den Schulen gibt, finde ich es grundsätzlich toll, wenn es Lehrkräfte gibt, welche bei schönem Wetter den Kindern ein wenig Freiraum an der frischen Luft geben. Aber während die Kinder schreiend und tobend im Schulgarten herumtollen, sitzen die Aufsichtspersonen abseits des Geschehens, rauchend oder Kaffee bzw. Tee trinkend, und haben Großteils gar keinen Sichtkontakt zu den Schülern."
Früher war das alles anders "Als unsere Kinder zwischen 1991 und 2000 diese Schule besucht haben, war der Respekt der Schüler gegenüber den Lehrkräften noch sehr ausgeprägt, obwohl es schon damals Integrationskinder (entweder ausländischer Herkunft oder Kinder mit gewissen Einschränkungen) gegeben hat. Heute bestimmen die Eltern, was die Lehrkräfte den Kindern sagen dürfen, bzw. greifen sogar in den Lehrstoff ein, wenn dieser nicht den jeweiligen (religiösen) Ansichten der Eltern entspricht. Dies ist z.B. nach Aussage einer der jungen Lehrerinnen ein Grund, weshalb die Kinder oft nicht ermahnt werden, weil es schon oft deshalb Drohungen von (bestimmten) Eltern gegeben hat!"

Zu diesen vier Stellungnahmen mein Kommentar:
Von Hamstern und 1,172.406 Schülern Ich will die Für und Wider zu diesem geplanten Schulbau gar nicht beurteilen, denn dafür fehlt mir die Expertise (auch, was die "putzigen Wesen" mit der Bezeichnung "Feldhamster" angeht). Aber ich kann – aus Sicht der "Fraktion Schulneubau" die Lage skizzieren. Fakt ist nämlich: Wir haben österreichweit von diesen nicht immer ganz so putzigen Wesen mit der Bezeichnung "Schüler" mehr als je zuvor, Stand Schuljahr 2024/25 auf den Kopf genau 1,172.406.
920.000 österreichische Kinder … Im Zehnjahresvergleich gab es an den Volksschulen einem Anstieg um 12,6 Prozent – ein Plus von 41.000 Kindern –, in den AHS-Unterstufen einen um 12 Prozent. Das ist nicht Resultat hausgemachter demographischer Entwicklung, sondern liegt an Zuzug aus anderen Ländern durch Vertreibung und Flucht, sowie an inner- und außereuropäischer Wirtschafts-Migration. Österreichweit sitzen in unseren Schulklassen rund 920.000 österreichische Kinder …
… und immer mehr nicht-österreichische, nämlich:
- 20.500 rumänische
- 20.000 deutsche
- 18.000 syrische
- 15.000 türkische
- 13.800 serbische
- 13.300 ukrainische
- 12.500 ungarische
- 11.200 kroatische
- 10.500 afghanische
- 9.500 bosnische
- 7.800 russische (zu 99 Prozent aus Tschetschenien)
- 7.500 polnische
- 6.700 slowakische und …
- jeweils zwischen 4.000 und 5.000 slowenische, nordmazedonische, bulgarische und kosovarische Kinder
- dazu noch rund 60.000 italienische, spanische, amerikanische, chinesische, somalische, nigerianische , usw. (sogar ein paar finnische sind dabei)

Woher nehmen, wenn nicht stehlen Die Klassen mit diesen Schülerinnen befinden sich aktuell in 5.920 öffentlichen und privaten Schulen – und das sind nun wieder leider um knapp 100 weniger als vor 10 Jahren. Wir brauchen und bräuchten also einen Schulneubau-Turbo. Aber woher den Platz nehmen, wenn nicht stehlen (den Feldhamstern zum Beispiel)?
Es wird eh auf Teufel komm raus zugebaut In Wien rechnet man mir vor: Allein in den letzten drei Jahren habe man pro Jahrgang (!) für 4.000 zusätzliche Pflichtschulkinder Schulplätze finden müssen. Resultat waren unter anderem die als "Container-Klassen" verunglimpften Mobilklassen. Drei Schulzubauten mit rund 25 neuen Klassen werden noch heuer fertig werden; auch für 2026 seien bereits 190 Millionen veranschlagt.
Und noch einmal 53 Klassen dazu An 6 Schulstandorten werde zu- und ausgebaut werden (Anbau, Dachgeschoß, etc.), dadurch sollen in Favoriten, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing 53 neue Unterrichtsräume entstehen. Aber nicht überall kann ausgebaut werden. Und nicht überall kann neu gebaut werden. Passend dazu eine Befragung im Auftrag des Wiener Bildungsstadtrats, die den Zufriedenheitsfaktor unserer Schüler abgefragt hat …

Mehr sichere Schulwege bitte Für diese Studie wurden von "Wienxtra" und dem IFES-Institut die Bedürfnisse von rund 2.000 Kindern und Jugendlichen erhoben. Thema Nr. 1: Sicherheit. Den schlechtesten Wert hatte diese bei den 16- und 17-Jährigen. 52 Prozent gaben an, sich "gar nicht sicher" oder "eher nicht sicher" zu fühlen. Typisch zwei Antworten: "Mehr Beleuchtung in Hauseingängen, damit sich da niemand verstecken kann, der einen überfällt" oder: "Mehr Straßenlaternen in Parks, damit meine Schwester am Heimweg sicher ist". So viel zu den "leerstehenden Häusern und ehemaligen Fabriksgeländen" für Volksschüler aus Mail Nr. 2 (okay, das war polemisch).
Ein Drittel fühlt sich nicht wohl Und dann doch überraschend: Während die Zufriedenheit unserer Kinder und Jugendlichen mit ihrem Freundeskreis (85 Prozent) und ihrer Familie (84 Prozent) besonders hoch ist, ist sie mit der Schule besonders gering: 30 Prozent fühlt sich dort definitiv "nicht wohl". 31 Prozent "nicht gehört".
Schulen komplett neu denken Kann es sein, frage ich mich da, dass man das Konzept von Schulen radikal überdenken muss? Nämlich eben nicht nur von Schule, sondern auch von den Schulgebäuden. Seit je her heißt Schule, möglichst viele Kinder in möglichst großen Häusern für neun Monate im Jahr zusammenzutrommeln, um dort – in Klassenräumen parzelliert – die Füllhörner des lexikalen Wissens über sie zu ergießen. In einer Art Mikrokosmos. Vom "großen" Leben abgeschnitten.

Psssscht, der Mund ist zu! Und nun behaupte ich, dass das meiste von dem, was Schülern und Lehrerinnen das Leben vergällt, damit zu tun hat, dass Schule von 8 bis 3 in Schulhäusern passiert. Sitzen. Zweierreihen. Gangpausen. Sitzpausen. Hausschuhgebot. Sitzen. Kaugummiverbot. Sitzen. Mütze runter, Kopftuch ab. Und Ruhe, zum Kuckuck, es hat noch nicht geläutet! Also setz dich! Und rede gefälligst Deutsch! Und, nein, keine Fragen mehr, es läutet gleich. Und pssssscht!, Unterricht ist in den anderen Klassen, der Mund ist also zu beim Runtergehen!
Schule in der Wohnung An der "Universitat de les Illes Balears" auf Mallorca, an der ich seinerzeit im Rahmen meiner Ausbildung ein Semester lang inskribiert war, wurde an Alternativen zu Schul-Burgen geforscht. Einer der diskutierten Pläne: In den städtischen Ballungsräumen Spaniens könnte man ganz normale Wohnungen zu Unterrichtsstätten umfunktionieren. Zu "Colegios pequeños", zu kleinen Schulen.
Von Wohnung zu Wohnung Jede dieser "Colegios" hätte einen anderen (Aus-)Bildungsschwerpunkt. Eine wäre mehr Werkstatt, eine andere mehr Bibliothek, eine dritte die "Außenstelle" Bio oder GW, in der vierten lägen Zirkel, Lineale und die Laptops mit der Mathe-Software bereit. Der Großteil des Unterrichts würde demnach modular erfolgen müssen, die Schüler tages- oder wochenweise, mitunter vielleicht auch im Stundenrythmus von Modul zu Modul pendeln.

Die Lehrer hätten Arbeitsplätze Schule würde damit zumindest teilweise im "richtigen" Leben stattfinden; Lehrer würden mit Gruppen arbeiten, hätten in diesen "Studios" eigene Arbeitsplätze. Die Schüler kämen zum Lehrer, nicht der Lehrer zum Schüler. Die Gruppen könnten flexibel geformt und immer wieder verändert werden: je nach Erfordernis geschlechts-, alters- und leistungshomogen, dann wieder -heterogen.
Völkerball in der Schule Die Schulhäuser von heute hätten nur noch die Funktion von "Mutterschiffen". Mit Aula, Lernräumen, Konferenzräumen. Und Turnsälen, in denen man sogar noch Völkerball spielen könnte …
Letzteres ist eine Bemerkung, die einer Erklärung bedarf: Auf die Frage, warum die Regierung nicht endlich in Kleinklassen investiere, meinte vor gefühlt 30 Jahren die damalige "Zukunftsministerin" Elisabeth Gehrer: Zu kleine Gruppen seien pädagogisch schon deswegen nix, weil die Kinder dann nicht mehr Völkerball spielen könnten …

Ob die dislozierte Schule je Praxis wird? Für viele nicht vorstellbar: Wie sollen Hunderttausende von Kindern täglich durch die Stadt … und die Aufsichtspflicht … und "Klassen" ohne Tafel und Katheter …? usw. Aber anno Neunzehnhundert verzweifelte man im Wiener Gemeinderat noch angesichts der Frage, was denn künftig mit den Unmengen an Pferdemist geschehen sollte, der infolge des explodierenden Kutschenverkehrs ein nicht bewältigbares Ausmaß erreichen würde, und fand keine Lösung.
Dann erfand einer das Auto …
* Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mit gemeint
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010