"Im Schnee"

Ist Leben am Land doch besser, oder bilden wir uns das ein?

Ungeschminkt, rau, ohne verzärtelnden Kitsch: So zeigt Tommie Goerz das Landleben. Mit 71 legte der Deutsche nun seinen zweiten Roman vor, verzaubert seine Leserschaft und klettert die Bestsellerlisten nach oben. Angela Szivatz ergründet das Phänomen.

Ist das Leben am Land schön, oder reden wie es uns nur schön?
Ist das Leben am Land schön, oder reden wie es uns nur schön?
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Angela Szivatz
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Früher, als man noch zur Sommerfrische etwa nach Niederösterreich oder in die Steiermark fuhr, gab es sie noch in jedem Ort: Den Greißler, den Fleischhauer und mindestens ein Wirtshaus. Heute findet man oft nur noch alte Schilder und es bleiben die Erinnerungen der Dorfbewohner. Davon malt auch der neue Roman von Tommie Goerz ein eindrückliches Bild. Das müssen Sie zu "Im Schnee" wissen:

Was gibt es über den Autor zu erzählen?
So einiges. Tommie Goerz kann auf ein (Berufs-)leben wie ein bunter Hund zurückschauen: Er war Langzeitstudent, promovierte nach 28 Semestern in Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft, das aber Summa cum laude. Hüttenwirt, Schallplattenvertreter, Lehrbeauftragter, Wahlkampfmanager, Knecht auf der Alm, Werber.

Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf

Heißt Tommie Goerz wirklich Tommie Goerz?
Nein, sein richtiger Name ist Dr. Marius Kliesch. Er stammt aus Erlangen, 190 Kilometer nördlich von München, und ist 71 Jahre alt.

Wie kam er zum Schreiben?
Jedenfalls spät. Ab 2010 verfasste er Krimis. Hauptfigur war der urfränkische Kommissar Friedemann "Friedo" Behütuns. Die Bücher erwirtschafteten einige Preise. 2023 erschien sein erster Literaturroman "Im Tal". Die Kritiken fielen fast hymnisch aus.

Wie kam es zum neuen Buch "Im Schnee"?
Er habe jüngst einen Sommer auf einer Alm verbracht, "als Knecht, ein lange gehegter Traum", erzählte Goerz dem Buchmagazin. "Ich musste dort melken, käsen, buttern, Käselaibe pflegen, Weidezäune versetzen, die Kühe auf die Weiden treiben und, und, und – jeden Tag, bei jedem Wetter, von früh um fünf bis abends um zehn. Ein komplett anderes Leben als in der Stadt." Hart sei das, kein bisschen romantisch und habe doch unglaublich schöne Seiten.

Tommie Goerz fand spät zur Schriftstellerei, "Im Schnee" ist sein zweiter Roman
Tommie Goerz fand spät zur Schriftstellerei, "Im Schnee" ist sein zweiter Roman
Piper-Verlag

Wovon handelt das Buch?
Vom alten Bauern Max, der um seinen eben verstorbenen Freund Schorsch trauert. Von einer Freundschaft, die für Max von Kindesbeinen an stärker war als alles andere. Der Schorsch hatte immerhin noch seine Frau, die Maicherd. Sie hätte dem Max auch gefallen, aber der Schorsch war schneller.

Am Todestag seines vertrautesten Menschen blickt Max zurück, erinnert sich daran, wie sie gemeinsam gearbeitet, auf seiner Chaiselongue oder im Garten gesessen und den Vögeln zugehört hatten. Und wie sehr der Schorsch die Apfelsorten von Max geliebt hat. Zwei wird Max für die letzte Reise des frisch Verstorbenen mitbringen.

Warum ist die Totenwache ein prägender Moment im Buch?
Weil sie uns in eine andere Zeit versetzt. Wer von uns hat denn noch aufgebahrte Großeltern gesehen? Für den Schorsch jedoch sitzen wieder beinahe alle zusammen wie früher. Zuerst bis Mitternacht die Männer. Sie beratschlagen und stimmen, wie bei jeder Totenwache, ab, ob der Verstorbene im Himmel oder in der Hölle gelandet ist.

Dann erzählen sie einander Anekdoten aus dem Leben des Toten, die ohnehin fast alle kennen. Aber so ist es Brauch, die gemeinsame Erzählung ist wichtig für die Dorfgemeinschaft. Auch wenn einer nur kommt, um Würstel und Bier zu bekommen. Ein anderer kommt, obwohl er ein Neubürger ist. Aber eben einer, der sich anstrengt.

Welche wichtige Rolle fällt den Frauen zu?
Sie übernehmen um Mitternacht die Wache, so war es immer, und Max bleibt ebenfalls. Er und der Schorsch, resümiert er im Inneren, haben sich mit den Frauen ohnehin immer wohler gefühlt. Haben mitgekocht und mitgebacken, haben Reisigbesen gebunden und die feinere, weniger rohe Art im Umgang unter den Frauen genossen.

Zur Totenwache bringen die Frauen Grab-Beigaben wie Wiesenkräuter und Blumen. Sie singen, essen Mon Chéri oder Weinbrandbohnen und werden allmählich lustiger, genau wie bei der Feldarbeit früher, bevor die Vollernte-Maschinen kamen. Damals war noch das ganze Dorf bei der Erdäpfelernte dabei. Die Männer an den Ackergeräten, die Frauen beinahe auf allen Vieren hinterher beim Aufklauben. "Den Brauch mit ihren Mon Chéri aber pflegten sie weiter und liebten ihn auch. Er schweißte die Frauen zusammen und hielt das Lachen im Dorf."

Wo findet die Handlung statt?
Der Autor hat sie im Dorf "Austhal" angesiedelt.

Gibt es den Ort tatsächlich?
Nein, er ist erfunden und zwar ins Oberfränkische hinein, ins nördliche Bayern also. Austhal könnte aber genauso gut im Waldviertel liegen. Da gibt es ein ganz ähnliches Dorfgebilde, wo einem ein oft hermetischer Lebensstil, die gleiche Schweigsamkeit begegnet.

Wodurch wird man noch darauf gestoßen?
Der Einband erinnert an die Landschaftsbilder des Waldviertler Malers Karl Korab. In Austhal – einem Ort, der buchstäblich seinem eigenen Aus entgegen geht – hält der Zug nur noch, wenn man auf den Knopf drückt, oder jemand am Bahnsteig wartet.

Täuscht der Eindruck, dass die Zeit stillsteht?
Manchmal tut sie das, dann wieder nicht. Sachte und leise, wie in einer frischbeschneiten Landschaft, erzählt das Buch vom Sterben der Dörfer, in unaufgeregter, unsentimentaler Art.

„Im Schnee“ von Tommie Goerz, Roman, 172 Seiten, ET 10.1.25 Piper-Verlag, € 23,50
„Im Schnee“ von Tommie Goerz, Roman, 172 Seiten, ET 10.1.25 Piper-Verlag, € 23,50
Piper

Die Alteingesessenen scheinen diese Veränderungen in aller Ruhe hinzunehmen und halten an ihren Traditionen fest. Die sogenannten Neubürger wohnen in einem anderen Teil des Dorfes und finden, bis auf ein, zwei Hartnäckige keinen Anschluss. Zu rätselhaft sind die unausgesprochenen Regeln – Schweigen statt reden, nicht nachfragen, im Zweifelsfall eher weg- als hinschauen.

Wie erlebte das der Autor selbst?
"Es gibt eine eherne Regel auf dem Dorf, die ich von meinem Schwiegervater habe, der selber Landwirt war: Mit Nachbarn streite nicht! Denn im Streit ist man schnell, aber er vergiftet das Zusammenleben oft über sehr lange Zeit. In der Enge des Dorfes aber musst du mit deinem Nachbar leben, du kannst ja mit deinem Hof nicht einfach wegziehen", so der Autor im Buchmagazin.

Und was ist mit dem Rest der Welt?
Ab und zu klingt im Protagnisten Max eine Sehnsucht und ein Gefühl nach Weite an. Wenn Hunde von einem Ortsende zum anderen bellen, oder die Hähne krähen. Wenn jemand aus dem Zug aussteigt, so wie es Janis, ein zufälliger Wanderer, eines Tages macht.

Janis, der ihn gegen Ende noch einmal besucht, hunderte Fotos von Max schießt, von seiner Stube, von den Apfelbäumen und den Schneefeldern. Der Max um die Ruhe, den Frieden, die Idylle des Dorfes beneidet. "Da wohnen Leute, und da gibt es Misthaufen", erwidert Max. "Und je näher man herankommt, desto mehr stinkt es."

Harte Arbeit statt Hüttenzauber: Tommie Goerz arbeitete jüngst auf einer Alm, "ein lange gehegter Traum"
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Warum wird Janis zum Schicksal von Max?
Der teure Cognac, den Janis mitbringt, wird Max zum Verhängnis. Denn als Janis über alle Berge ist, sitzt Max immer noch am Waldrand und trinkt die Flasche leer, bis ihn der Schnee einhüllt. Für Max wird der Cognac vielleicht auch die Erlösung vom Abschied und von der drohenden Einsamkeit.

Am Begräbnis von Schorsch kann er jedenfalls nicht mehr teilnehmen, obwohl die Maicherd den Pfarrer, immer wieder zum Warten auffordert. Der Geistliche will nicht länger aufschieben. Schließlich ist er für vier Gemeinden zuständig. "Ich habe eine Hochzeit nachher und am Nachmittag noch eine Taufe." Beinahe das ganze Leben an einem Tag.

Was sagt Tommie Goerz noch über sein Buch?
"Austhal ist eigentlich wie viele Dörfer heute. Ein Dorfkern, ein paar alte Gehöfte, ein Neubaugebiet. Das 'Dorf' in dem Sinn ist längst tot oder liegt seit Jahren im Sterben. Ich bin vor nicht allzu langer Zeit den 'Fränkischen Gebirgsweg' gelaufen, über 400 Kilometer, und habe diese Orte zuhauf erlebt."

"Aber die letzten Alten sind noch da und leben auf ihren Höfen ihr Leben weiter. 'Zu Ende' hätte ich fast gesagt. Klar, Veränderungen und Fortschritt leben vom Versprechen hin zum Besseren, Neues heißt aber auch immer Verlust und Abschied. In diesem Spannungsfeld leben die Menschen, die die Zeit dort zurückgelassen hat – die Protagonisten von 'Im Schnee'."

Stecken auch eigene Erfahrungen in dem Roman?
"Ich selbst bin in einem Dorf großgeworden und meine Frau kommt von einem Hof", sagt Goerz. "Ich habe das Leben auf dem Land immer geliebt und viel vom Leben dort mitgekriegt, mit all seinen Untiefen und Verschwiegenheiten. Daraus, gar keine Frage, speist sich mein Roman."

"Im Schnee" ist zu Recht inzwischen in den Spiegel Bestseller-Rang aufgestiegen, liegt auf Platz 16. Das Buch ist eine Erinnerung daran, wie kostbar innige Freundschaft sein kann, auch ohne große Worte. Und wie verschieden dieselbe Welt für uns ist.

"Im Schnee" von Tommie Goerz, Roman, 172 Seiten, Piper-Verlag, € 23,50

Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien. Ihr erster Krimi "Tödliches Gspusi" erscheint am 12. März und ist bereits vorbestellbar.

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