Schul-debatte
Mischen impossible: Warum Hassan nie neben Annelena sitzen wird
Sollen Schulkinder in den Klassen besser durchmischt werden? Und zwar gezielt? Die FPÖ ortet hier eine gewisse Schieflage, gerade in den Bobo-Bezirken. Hat sie recht? Und ist Durchmischung klug? Experte Niki Glattauer mit den Antworten.
Gar so neu wäre die Idee ja nicht gewesen (darüber später mehr). Doch was Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp wirklich will, liegt auf der Hand: Das Rot-pinke Wien mit seinen Bobo-Bezirken (nicht nur, aber vor allem innerhalb des Gürtels) soll auf's Glatteis geführt werden. Denn der Vorschlag ist, Eltern – vermeintlich im Sinne direkter Demokratie – danach zu befragen, ob sie eine bessere Durchmischung der Wiener Schulklassen befürworten. Und das kann, das weiß man auch bei den Blauen, nur ein Ergebnis bringen: ein empörtes Nein.
Schon für legale Fluchtrouten So formulierte der Wiener Landesparteisekretär der FPÖ, Michael Stumpf, das blaue Motiv dahinter in "Wien heute" zwar sprachlich holprig, dafür umso zynischer: "Interessant ist ja zu beobachten, gerade in den Bezirken sieben, acht, neun, wo es einen entsprechenden Wählerwillen gibt, der sich bei jeder Wahl manifestiert und dort Parteien gewählt werden auf Platz eins und zwei, die für legale Fluchtrouten aus Syrien oder Afghanistan sind, dass man dann davon auch ausgehen kann, dass es entsprechende Wünsche gibt für mehr Diversität" (gemeint: auch in den Klassen ihrer eigenen Kinder).
Aber bitte nicht bis in die Klasse Das Hemd (von Ralph Lauren) war dem gemeinen Bildungsbürger schon immer näher als der Rock (vom KiK). Oder andersherum: Den Hassan aus Favoriten schulbehördlich verordnet zu Annalena auf die Wieden zu chauffieren und umgekehrt Leander aus Mariahilf zu Snezana, Ayse und Nadira nach Margareten, nur damit sich jene besser integrieren können, mit denen man ohnehin nie etwas zu tun hat? Da endet – so das blaue Kalkül – das Verständnis für legale Fluchtrouten. Im Gegenteil:
Pummerin statt Muezzin Mit den Damokles-Schwertern Hassan und Nadira über den Häuptern ihrer blauäugigen Kinder, könnten die Blauen neue Wähler generieren. "Pummerin statt Muezzin" ist die Formel, die auch für die Schulglocke gelten soll …
Ein Blick zurück Ab 2004 war Johannes Hahn – seit wenigen Wochen EU-Kommissar in Ruhe – für einige Jahre Wiener ÖVP-Chef (nebenberuflich war er in dieser Zeit auch Wissenschaftsminister). Schon damals verblüffte Hahn die Rathaus-Regierung mit dem ungewöhnlichen Vorschlag, die Schulklassen gezielt zu mischen. Sein Ansatz: immer noch besser als die Gesamtschule.
Ich war schon damals dafür In meinem Buch "Der engagierte Lehrer und seine Feinde" kommentierte ich das 2010 so: "(…) Um das Problem der "Gettoschulen" zu beseitigen, müsste man, so Johannes Hahn, die Schüler 'von Amts wegen' aufteilen. Und im Bedarfsfall auf das gute alte Schulbussystem umsteigen. Natürlich, das hat Nachteile. Vor allem macht es Umstände, logistischer und finanzieller Natur. Aber es hat einen entscheidenden Vorteil: Nur so werden die Schulen sozial durchmischt."
Mischen für Pink keine Lösung Dafür hatte es von der roten Stadtregierung (Bildungsstadtrat damals Christian Oxonitsch) ebenso reflexartig ein Njet auf den schwarzen Vorschlag gegeben, wie es jetzt vom pinken Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr ein reflexartiges Njet auf den blauen Vorschlag gibt. Der Vize-Bürgermeister schickte dafür eine Kollegin in den öffentlichen Ring. Bettina Emmerling, Klubobfrau der NEOS, in besagtem "Wien heute"-Beitrag wörtlich: "Dass der Schulbus Kinder aus Favoriten, Margareten oder Ottakring abholt und in andere Bezirke schickt, ist keine Lösung."
Ich bin anderer Ansicht Nun, ich hielte es ja nach wie vor durchaus für eine Lösung, Kinder aus Favoriten, Margareten oder Ottakring mit dem Schulbus abzuholen und auf andere Bezirke oder zumindest andere Schulen aufzuteilen (oft spielt sich die Segregation innerhalb von Grätzeln ab). Weil es ums große Ganze geht: Um den Sprachenerwerb, um das Verhindern von Parallelgesellschaften, um Vorbilder. Ab einem gewissen Alter lernt nämlich kein Kind von einem Erwachsenen mehr als von einem anderen Kind. "Peergroup-Education" ist inzwischen nicht umsonst Dünger auf den besten pädagogischen Betätigungsfeldern.
Dort braucht es Role Models Das Jugendrotkreuz beispielsweise hat sie seit Jahrzehnten im Programm; Schulen praktizieren nach diesem Konzept Gewalt- und Suchtgiftprävention, und das auch nicht erfolgloser, als wenn Polizeiinspektorinnen oder Drogenkoordinatoren Vorträge halten. Oder wieder anders herum: Was den Kindern in den städtischen Rest- und Gettoschulen fehlt, die quasi am laufenden Band Österreichs AMS-Klientel produzieren, ist genau das: deutschsprachige Kinder in der Klasse.
Die davon ebenso profitieren Und es ist nicht einmal eine Einbahn. Als Lehrer habe ich regelmäßig AHS-Aussteiger aus bildungsnahen Häusern in unsere MS-Klassen gesetzt bekommen. Man kann sich gar nicht vorstellen, was die alles NICHT konnten, ehe es ihnen von Ali & Co. beigebracht wurde. Und nein, da ging es nicht um Anleitungen zum richtigen Umgang mit dem Butterfly-Messer (auch wenn diese türkis-blaue Erzählung in Teilen der Bevölkerung gut gegriffen hat), sondern um jenen mit Schrauben und Dübeln, Hammer und Nagel, Stromkabeln und Erdung; und ums Kicken ging es, ums Tanzen, Kochen, Musizieren.
Und gilt auch für Kopf-Bildung Nicht einmal die sogenannte kognitive Bildung ist nur dort vorhanden, wo ordentlich Deutsch gesprochen wird. Ich hatte einmal eine Madina in meiner Klasse, die mit 13 Jahren mehr über "seltene Erden" wusste als ich, ihr Geographielehrer. Aber halt nicht auf Deutsch. Ihr Vater war in Syrien Geologe gewesen. Kaum hatte Madina ihre ersten Brocken Deutsch beisammen, kam sie zu mir, sinngemäß: Solle ihr Vater einmal für eine Stunde kommen und "es" der Klasse erklären? Auf meinen verdutzen Gesichtsausdruck hin kam der Nachsatz: "Ich glaube, er weiß es besser als Sie."
Natürlich können zu viele kein Deutsch Jedenfalls sind die eklatanten Sprachdefizite von Kindern mit Migrationsvordergrund seit Monaten Anlass für politischen und medialen Alarmismus. Stimmt schon, in unseren Schulen haben es Lehrerinnen inzwischen mit zu vielen zu tun, die zu wenig Deutsch können und damit "normalen" Unterricht, wie wir ihn vor 20 Jahren noch hatten, unmöglich machen.
Zum Nachteil derer, die es können Und natürlich benachteiligen wir damit jene, die ihr Deutsch in die Wiege gelegt bekamen und jetzt in Klassen, in denen drei von vier Kindern mühsam "Mimi sagt Mami" beigebracht werden muss, um ihr Recht auf bestmögliche Förderung durch fordernde Beschulung umfallen.
Aber nicht überall Alarmismus nenne ich es trotzdem, denn da geht es in Wahrheit immer um die gleichen paar (hundert) Schulen: die Pflichtschulen in einigen unserer großen Städte (Wien, Wr. Neustadt, Graz, Linz, Wels, Bregenz). Und dort oft auch nur in bestimmten Bezirken und Grätzeln. Differenzierung wäre also angebracht.
Nehmen wir Wien In den Wiener Bezirken konnten, mit Stand Anfang Oktober, 44,6 Prozent der Erstklässler in den öffentlichen Volksschulen so wenig Deutsch, dass sie, wie es so schön heißt, "dem Unterricht nicht folgen" und ergo dessen heuer nicht beurteilt / benotet werden können. Die Zahl dieser als "außerordentlich" geführten Schüler (a.o.-Schüler) ist somit signifikant gestiegen. Zu Beginn des Schuljahrs 2022/23 lag der Anteil noch bei 36 Prozent.
Auch hier muss man differenzieren In Beantwortung einer (freilich darauf abzielenden) Anfrage des türkisen Wiener Gemeinderatsabgeordneten Harald Zierfuß, erklärte Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr, dass die Werte sehr divergierten und in Bezirken mit hohem Migrantenanteil deutlich über dem städtischen Durchschnitt lägen. An der Spitze Margareten mit 73,8 Prozent, gefolgt von Favoriten, der Brigittenau, Ottakring und Rudolfsheim-Fünfhaus (jeweils rund 62 bis 63 Prozent).
Hier sprechen sie (noch) Deutsch Vergleichsweise niedrig sind sie hingegen in Hietzing und der Josefstadt (mit jeweils 31,5 Prozent), Währing (31 Prozent), der Inneren Stadt (29,2 Prozent), Wieden (27,4 Prozent) und in Mariahilf, wo nur jeder fünfte Tafelklässler nicht ausreichend Deutsch spricht bzw. versteht (18,9 Prozent). Das sind 5 von 25 Kindern in der Klasse, und da handelt es sich großteils um "Ausländer" der anderen Art – um Deutsche (Scherz!), Ukrainer oder Sprösslinge von Eltern im diplomatischen Dienst.
Schon hier geboren Was freilich erschreckt: 61 Prozent dieser – um auch einmal eine konkrete Zahl zu nennen - 8.342 an mangelndem Deutsch laborierenden Erstklässler sind in Österreich geboren, 24 Prozent haben die österreichische Staatsbürgerschaft.
Mischen wäre angebracht Wie also sonst hier ansetzen, wenn nicht durch rechtzeitiges Testen schon im Kindergarten, gefolgt von einem behördlich gesteuerten, pädagogisch sinnvollen Durchmischen der Klassen?
Der Grüne ist dafür Sehen so die Grünen. Oder besser: der Grüne. Felix Stadler, Bildungssprecher der Wiener Grünen und selbst Lehrer. Im "Heute"-Talk von November sagt er zu Redakteur Christoph Weichsler: "Ohne mehr soziale und sprachliche Durchmischung haben nicht alle Kinder dieselben Chancen." Vor allem, wenn es um Schülerinnen gehe, "die nicht Deutsch als Erstsprache haben oder aus ärmeren Familien kommen, segregieren wir ganz stark in gewisse Schultypen und an gewisse Schulen."
Weil Schüler voneinander lernen Und Lehrer Stadler weiter: Es sei Zeit, diese Last gerechter zu verteilen. "Das würde ich mir als Lehrer wünschen: viel mehr Durchmischung, damit wir eine größere Bandbreite haben an Schülerinnen und Schülern, die voneinander lernen können." Stadlers Lösungsansatz: Eine neue Form der Schulplatzvergabe, die für mehr soziale Durchmischung sorge, ohne die Wohnortnähe oder Geschwisterkinder zu vernachlässigen.
Man hat fünf Schulen frei Wieder Stadler: "Es gibt gute Systeme, wie man neben dem Wohnort, neben den Geschwisterkindern auch den sozioökonomischen Hintergrund, also Vermögen, Erstsprache und Bildungsgrad der Eltern, mit in Betracht ziehen kann, sodass man die Durchmischung verbessert." Und ganz konkret: Eltern sollen fünf Wunschschulen angeben dürfen, die Zuteilung würde dann zentral auf Basis dieser Kriterien erfolgen.
Mit uns sicher nicht Ein "linker" Ansatz, der sogar von g'standenen Linken nicht immer vertreten wird. Das war schon früher so: Als ich irgendwann realisierte, dass man auf Grund der politischen Umstände (mehrheitlich schwarze Landesregierungen, eine betonstarke AHS-Gewerkschaft, wertkonservative Bildungsbürger) auf die gemeinsame Schule bis zum St. Nimmerleinstag würde warten müssen (trotz kernroter Bildungsministerinnen, die sie durch die Bank gewollt hätten), begann ich in meinen Kolumnen die "behördlich durchmischte Schule" zu propagieren. Anruf von Stadtrat Oxonitsch: "Mit uns bestimmt nicht. Da muss uns etwas anderes einfallen."
Post von der Legende Inzwischen sind 15 Jahre vergangen, geändert hat sich Mitte-links nicht viel. Ende November gab ich dem Vorschlag der Blauen, Sprach-Screenings für Dreijährige einzuführen, um rechtzeitig gegensteuern zu können, in meiner Kolumne in "Heute" ein "Sehr gut". Postwendend bekam ich ein Mail der in der Branche legendären Bildungsexpertin Elfie Fleck, die sich im Bildungsministerium (früher Unterrichtsministerium) bis zur Pensionierung 25 Jahre lang mit Migration und Sprache beschäftigt hat.
Du hast dich anstecken lassen, Niki "Leider", schreibt sie mit offener Kritik an mir, "haben im Lauf der letzten Jahre, was den Spracherwerb von mehrsprachigen Kindern betrifft, 'Verbesserungsvorschläge', die sich auf den 'Hausverstand' statt auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse berufen, überhandgenommen, und du hast dich leider auch davon 'anstecken' lassen."
Mischen impossible "Die oft erhobene Forderung nach einer sprachlichen Durchmischung greift in der Großstadt Wien nicht mehr. Vorbild für die deutsche Sprache ist oft nur die Pädagogin. An ihr liegt es, die Kinder für Deutsch zu begeistern, und zwar unter dem Motto: Deutsch und Muttersprache, nicht Deutsch statt Muttersprache."
Parallel leben nicht nur Zuwanderer Später im Text lässt sie auch meine Besorgnis vor "Parallelgesellschaften" nicht gelten, denen man durch das Mischen der schulischen Klientel entgegenwirken könne: "Parallelgesellschaften. Bei diesem Wort denkt man zuallererst an 'bildungsferne', meist moslemische Familien aus der Türkei oder Nahost. In Wirklichkeit zerfällt unsere Gesellschaft in zahlreiche Parallelgesellschaften (oder Blasen). Was ist mit Diplomaten, Zeugen Jehovas, Burschenschaftern usw.?"
Wer sucht den Kontakt mit Syrern? Elfie Fleck weiter: "Früher hieß es: Integration ist keine Einbahnstraße, aber heute wird darunter vor allem die bedingungslose Anpassung der Zuwanderer verstanden. Und seien wir ehrlich: Viele eingeborene Österreicher haben wenig Interesse an einem Kontakt mit ihren afghanischen oder syrischen Nachbarn." Damit hat sie natürlich Recht.
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Nicht einmal die Blau-Wähler wollen es Auf die interaktive Frage auf "heute.at", ob – dem FPÖ-Vorschlag folgend – in den Wiener Schulen "Durchmischung durchgesetzt" werden solle, klickte selbst die blau-affine Leserschaft nur zu 37 Prozent auf "Ja", hingegen zu 57 Prozent auf "sicher nicht".
Einen Baum aufstellen Und geradezu symptomatisch ein Posting im "Standard". Dort machte der User "schwubdiwub" unmissverständlich klar: "Ich persönlich würde ja einen Baum aufstellen, wenn meine Kinder quer durch die Stadt müssen, um zur Schule zu kommen." 100 mal Zustimmung gab es von den "Standard"-Lesern dafür, Ablehnung: 1 mal.
Bezogen auf die Schule, lässt sich das berühmte Zitat aus Matthäus 19,6 also treffend umdrehen: "Was Gott getrennt hat, das soll der Mensch nicht zusammenfügen."
* Wie stets, verwende ich die weibliche und männliche Form willkürlich wechselnd, alle anderen sind jeweils freundlich mit gemeint
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010