Geschichte
So schlitterte Welt vom Tauwetter in Atomkriegs-Gefahr
Malta im Dezember 1989: Die USA und die Sowjetunion besiegeln das Ende des Kalten Krieges. Eugen Freund war live dabei und erinnert sich an das geschichtsträchtige Gipfeltreffen der Großmächte.
Die Eskalationsschraube dreht sich immer weiter. Der Ukraine-Krieg spitzt sich von einem regionalen, weit im Osten liegenden militärischen Konflikt, zu einer immer gefährlicher werdenden Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen zu.
Auf die ersten, aus den USA gelieferten ATACMS-Raketen, die weit ins russische Territorium abgeschossen werden, reagiert Moskau: erst heißt es, Interkontinental-Raketen, die auch mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können, seien auf den Nachbarn losgeschickt worden. Später wird korrigiert: es soll eine Mittelstrecken-Rakete gewesen sein.
Wladimir Putin ändert die Atom-Doktrin, so als würde ein Papier, das er vorlegt, irgendeinen Wert haben. Der Kalte Krieg kehrt in voller Wucht zurück. Nur 35 Jahre davor sah alles noch ganz anders aus. Da fand im Dezember 1989 das geschichtsträchtige Gipfeltreffen der Großmächte auf Malta statt. Erinnerungen an eine Zeit, in der das Tauwetter so richtig begann.
Ein Sturm fegte über das Mittelmeer, genauer, über die Insel Malta. Und beinahe daran wäre etwas Weltbewegendes gescheitert: ein Gipfeltreffen auf Meereshöhe.
Wir schreiben Anfang Dezember im Jahr 1989, genau vor 35 Jahren also. Die Führer der ersten und zweiten Weltmacht, George H.W. Bush und Michail Gorbatschow, kommen wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer zusammen – oder wollen zusammen kommen. Ich habe damals als ORF-Journalist aus Malta für den "Auslandsreport" berichtet.
Zwei ihrer besten Kriegsschiffe stehen ein paar hundert Meter von der Insel entfernt im Mittelmeer. Die "Slava", ein 188 Meter langer Kreuzer, ist eines der modernsten Kriegsschiffe der Sowjets. Es ist mit 16 Lenkwaffen bestückt, dazu kommen noch 10 weitere Abschusseinrichtungen.
Und die „USS Belknap", die ist zwar wesentlich älter, nämlich 25 Jahre, ist aber 1975 als Lenkwaffenkreuzer neu adaptiert worden.
Präsident Bush wird freilich seinen Fuß nicht auf ein gegnerisches Kriegsschiff setzen, genau so wenig wie Michail Gorbatschow. Eben weil ein heftiger Sturm, "der schwerste, den Malta seit 24 Jahren erlebt hat", wie mir ein Einheimischer ins Mikrofon brüllte, das Anlegen der kleinen Kutter an den Kriegsschiffen verhindert.
Gorbatschow ließ aber, offenbar in weiser Voraussicht, die "Maxim Gorkiy" im Hafen vor Anker gehen. Auf diesem Luxuskreuzer wird an diesem Tag fünf Stunden lang verhandelt. Im Pressezentrum, das die maltesische Regierung eingerichtet hat, beginnt unterdessen das lange Warten. Die Korrespondenten, die beim Weißen Haus akkreditiert sind, nehmen die meisten Plätze ein.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten hungern die Journalisten nach Neuigkeiten, welcher Art auch immer. Das Presseamt des Weißen Hauses kann freilich den Appetit nicht stillen. Die amerikanischen Auskunftspersonen sitzen alle am Schiff fest. Und dass die Journalisten am Festland auch Gesprächspartner brauchen, daran dachte offenbar niemand.
Die Sowjets wiederum haben gelernt, wie man Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Bunte Broschüren liegen bereit, in allen Details wird die sowjetische Außenpolitik dargestellt. Georgi Arbatow, ein enger Berater von Gorbatschow, erläutert gemeinsam mit anderen hohen Funktionären Probleme der sowjetischen Innen- und Außenpolitik.
Heute, angesichts der neuesten Drohungen aus Moskau, Atomwaffen einsetzen zu wollen, weil sie einen Krieg in der Ukraine angezettelt hatten, klingt das alles wie aus einem Märchenbuch.
Schon im Eingangs-Statement macht Präsident Bush damals klar, dass sich Malta von Jalta (Treffen der Staatsmänner der USA, Russlands und Großbritanniens im Februar 1945), wo über den Kopf der Europäer hinweg Weltpolitik betrieben wurde, unterscheidet.
"Wir haben in vielen Bereichen Fortschritte erzielt, aber es liegt weder an den USA noch an der Sowjetunion, das künftige Schicksal der Europäer oder irgendwelcher anderen Völker zu bestimmen. Ich bin überzeugt, dass eine kooperative Zusammenarbeit unserer beiden Länder mehr Sicherheit und eine freundlichere Zukunft bedeutet. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass die Welt eine Epoche verlässt, die Epoche des Kalten Krieges, und in eine neue Epoche eintritt – es ist ja erst der Anfang gemacht worden –, eine Epoche einer langen friedlichen Periode."
Als Gegenpol zum amerikanischen Präsidenten, der für uns europäische Journalisten damals – wie heute – unantastbar war, habe ich mit Georgi Arbatov, einem der engsten Berater von Michail Gorbatschow, gesprochen. (Aus heutiger Sicht klingt vieles in diesem Interview einigermaßen absurd).
Eugen Freund Hat die UdSSR nicht unglaublich viel an Einfluss verloren, wenn wir nur an die jüngsten Veränderungen in den Staaten Osteuropas denken, Polen Ungarn, etc.
Georgi Arbatov Ich glaube, wir haben an Einfluss gewonnen, weil wir die Spielregeln geändert haben. Also die andere Seite ist jetzt besorgt darüber, Einfluss verloren zu haben, nicht wir. Wir haben Unglaubliches für die internationale Staatengemeinschaft geleistet. Wir haben jetzt nicht alle Probleme gelöst, aber wir haben immerhin eine Alternative zum Kalten Krieg vorgeschlagen - und das steigert einfach unseren Einfluss. Kein anderer Führer hat derzeit eine derartige Macht, einen derartige Autorität wie Michail Gorbatschow.
Freund Aber wenn man sich die Kommunistische Partei ansieht, was ist davon übrig geblieben? Denken sie nur an die Osteuropäischen Länder, die sich vom Kommunismus sozusagen losgesagt haben, oder schlimmer noch, die den Kommunismus verunglimpft haben …
Arbatov Also, verunglimpft, das geht doch zu weit, schauen wir doch, was heraus kommt, wenn sich der Staub gelegt hat. Es hat eine Krise gegeben – aber Krisen sind für jedes System einfach wichtig und es liegt einfach in der menschlichen Natur – und damit auch an den Staaten –, dass sie nur auf einen gewissen Druck agieren – daher, eine Krise führt zu Veränderungen, Reformen, womit man sich an die neue Situation anpasst.
Und genau das tun wir auch. Ich glaube, bei all diesen Prozessen gewinnt und verliert man – man kann nicht nur das Beste herausholen. Man kann nicht das Leben eines, sagen wir, Amerikaners leben und gleichzeitig wie ein Albanier arbeiten – ohne den Albanern jetzt zu nahe treten zu wollen. So, jedes Volk muss seine eigenen Entscheidungen treffen.
Und so gibt es auf der kapitalistischen Seite, der Westen nennt das ja nicht Kapitalismus, verschiedene Modelle, denken sie nur an Südkorea, an Japan, an die USA oder an Schweden – nebenbei bemerkt, Hitlers Deutschland oder Mussolinis Italien waren ja auch kapitalistische Länder, also, was ich damit sagen will: es ist alles nicht so einfach. Mark Twain hat ja einmal gesagt: Gerüchte über meinen Tod sind ein wenig voreilig.
Freund … sind übertrieben …
Arbatov Ja, übertrieben. Sie sehen also, das gleiche passiert jetzt hier. Das ist ein Prozess der Erneuerung. Unsere Revolution spielte eine große Rolle, und ganz generell betrachtet, eine positive Rolle für den Westen. Und so glaube ich, dass diese revolutionären Veränderungen unserer "Perestroika" auch ansteckend sein werden. Ich bin mir sicher, es wird auch für die USA einmal die Zeit einer "Perestroika" kommen.
Freund Was müsste denn eintreten, um diese Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen – oder genauer: zwischen der UdSSR und den USA – wieder auf jenen Level zurück fallen zu lassen, wie er, sagen wir, während des Kalten Krieges geherrscht hat? Können Sie so etwas voraus sehen, oder herrscht jetzt absoluter Glückszustand?
Arbatov Es ist sehr nahe daran, nicht mehr rückgängig gemacht zu werden. Man muss ja wirklich sehr dumm sein, um zu dieser Dummheit zurück zu kehren, wenn man weiß, dass das dumm war …
Heute, im Spätherbst 2024 sind wir weit davon entfernt, die zugespitzte Lage einfach als "dumm" oder eine "Dummheit" zu bezeichnen.