Neuer Grisham
Unschuldig in Todeszelle: Bestseller-Autor rüttelt USA auf
John Grisham hat ein neues Buch geschrieben. Kein Roman, sondern echtes Leben. Er beschreibt zehn Fälle von Menschen, die unschuldig in Haft saßen und enttarnt so das kaputte Justizsystem in den USA. Angela Szivatz hat es gelesen.
Was sich mit Bestimmtheit sagen lässt: "Unschuldig" (im Original "Framed") ist eine nervenaufreibende Lektüre. Jede einzelne Geschichte darin.
Jede einzelne dieser True Crime Storys und jedes Fehlurteil mit seinen erschütternden Folgen wären auch ein eigenes Buch wert. Darin stimmt man mit John Grisham und Co-Autor Jim McCloskey schon nach kurzer Zeit des Lesens überein. Was Sie über das neue Buch wissen müssen:
Wer ist John Grisham?
Jedenfalls das, was man einen Star-Autor nennt. Fast alle Bücher des US-Amerikaners sind "New York Times" #1 Bestseller, acht davon wurden verfilmt (etwa "Die Akte" mit Julia Roberts und Denzel Washington oder "Der Klient" mit Susan Sarandon und Tommy Lee Jones). Allein im deutschsprachigen Raum hat er um die 33 Millionen Bücher verkauft.
Was muss man biographisch wissen?
Grisham hat bisher 51 Bücher geschrieben, er arbeitet wie ein Uhrwerk: 7 Uhr Arbeitsbeginn, fünf Tage in der Woche. Er bringt jedes Jahr mindestens ein neues Werk auf den Markt. Grisham wurde am 8. Februar 1955 in Jonesboro, Arkansas geboren, sein Vater war Baumwollfarmer, seine Mutter Hausfrau. Er lebt heute mit seiner Frau Renee auf einer Farm in der Nähe von Charlottesville, Virginia, sowie auf Amelia Island in Florida. Das Paar hat zwei Kinder.
Ist es sein erstes Sachbuch?
Nein, aber sein erstes seit Langem. 2006 erschien "The Innocent Man" ("Der Gefangene"). Es erzählt die Geschichte des Baseballers Ronald Keith Williamson, der Opfer eines Justizirrtums wurde und elf Jahre lang im Todestrakt auf seine Hinrichtung warten musste. Das Buch wurde 2018 für Netflix verfilmt.
Warum ist Grisham für das neue Buch perfekt?
Weil er vom Fach ist. Grisham studierte Rechtswissenschaften, arbeitete danach zehn Jahre lang als Strafverteidiger. Von 1983 bis 1990 saß er für die Demokraten im Repräsentantenhaus von Mississippi. Er ist Demokrat, sieht sich nach wie vor als politischer Aktivist, ist erklärter Gegner der Todesstrafe und engagiert sich seit einigen Jahren in der Initiative "Innocence Project", die versucht, unschuldig verurteilte Bürger aus dem Gefängnis zu holen. So lernte er auch seinen Co-Autor kennen.
Wer ist der Co-Autor?
Jim McCloskey ist der Gründer von Centurion Ministries, der ersten gemeinnützigen Organisation, die sich für zu Unrecht Verurteilte in den USA einsetzt. Seit 1983 ist es Centurion gelungen, 70 unschuldige Menschen aus lebenslänglicher Haft oder der Todeszelle zu befreien.
Ist er schon als Autor in Erscheinung getreten?
McCloskey ist nicht mehr im Centurion-Vorstand, betreut aber weiterhin Fälle. 2020 erschien sein Buch "When truth is all you have" (Doubleday Verlag).
Wie ergänzen sich die beiden?
McCloskey stellt besonders die persönlichen Schicksale und die Familiengeschichten in den Mittelpunkt. Grisham hingegen bringt juristische Details, historische Betrachtungen und sein Knowhow dazu ein.
Wovon handelt das Buch?
Von skandalösen Verurteilungen in zehn wahren Fällen. Grisham und McCloskey haben sich die schwere Aufgabe geteilt, jeweils fünf aus den über 70 vorliegenden Fällen auszuwählen. In einigen Kapiteln stecken neben dem Hauptfall noch weitere als Beispiel, worum es in diesem Buch auch geht: Strafverfolgungsbehörden, die nicht an der Aufklärung einer Straftat interessiert sind.
Was wird beschrieben?
Polizeibeamte, Staatsanwälte, Gerichtsmediziner und Richter, die nur Bestätigung ihrer eigenen Vorurteile suchen. Die illegale Methoden anwenden wie Anstiftung zum Meineid, Nötigung von Zeugen zur Falschaussage. Die unschuldig Festgenommene derart verunsichern, dass diese zu falschen Geständnissen bereit sind. All das dient dazu, erste Thesen der Ermittler zu "beweisen" oder bereits begangene Ermittlungsfehler zu vertuschen.
Ist das, was beschrieben wird, tatsächlich passiert?
Diese Frage stellt man sich wieder und wieder, bei jedem einzelnen der zehn Kapitel. Man kann kaum fassen, wie das alles möglich ist. Manchmal war eine einzige mutige Geschworene, ein einziger Geschworener ausschlaggebend dafür, dass ein Todesurteil verhindert wurde. Jede noch so absurde Szene in Anwalts- und Krimiserien kommt einem plötzlich harmlos und gar nicht mehr an den Haaren herbei gezogen vor.
Das ist schwerer Stoff, oder?
Das Leben erzählt die wirklich harten Storys. Politik und Rassismus spielen dabei immer wieder eine zentrale Rolle – sehr deutlich gemacht und plausibel erklärt im Kapitel "Der letzte Abend in Freiheit".
Von welcher Dimension reden wir hier?
Allein in den zehn Hauptfällen, die das Sachbuch beschreibt, wurden Unschuldige zu insgesamt 411 Jahren Haft verurteilt, während die Schuldigen – oft sogar geständig - ungestraft blieben.
Passieren Justizirrtümer häufig?
Allein Centurion Ministries hat seit 1989 in den USA 251 Menschen befreit, die wegen falscher Anschuldigungen in Haft saßen, Malcolm Alexander etwa 38 Jahre lang. 74 von ihnen bekamen keine Entschädigung, weil es im betreffenden Bundesstaat kein Gesetz dazu gibt. "Wenn Sie eine farbige Person und mittellos sind, haben Sie einen schweren Stand, denn Sie haben keine Mittel, um gegen diese unrechtmäßige Verurteilung anzukämpfen", ergänzt McCloskey.
Gibt es dafür ein Beispiel?
Das letzte Kapitel ist Cameron Todd Willingham gewidmet, der in einem Feuer, das man ihm fälschlicherweise anlastete, seine drei Töchter verlor. Seine Frau wurde über die Jahre unsicher, was seine mögliche Schuld betrifft, ließ sich scheiden und verweigerte ihm, bei ihren gemeinsamen Töchtern begraben zu werden. Erst Wochen vor seiner Hinrichtung konnte der Chemiker und professionelle Brandursachenermittler Dr. Hurst beweisen, dass sämtliche ursprünglichen Schlussfolgerungen der Ermittler falsch waren.
Was passierte dann?
Willinghams Anwalt legte die Berichte dem Begnadigungsausschuss vor, der sein Gesuch ablehnte. Vier Tage vor der Hinrichtung langte sein Gesuch um Begnadigung auch beim zuständigen Gouverneur ein. Weil dieser als eiserner Befürworter der Todesstrafe bekannt war, legten ihm seine Mitarbeiter das Dokument zu spät vor. Todd Stacy starb durch eine Todesspritze.
Was ist der Hintergrund?
Die Schicksale der Angeklagten waren, das wird bei der Lektüre wieder und wieder deutlich, für deren Ankläger nebensächlich. Und ebenso das Leid und die Verzweiflung der Angehörigen.
Was wird über die Opfer berichtet?
Vor allem Jim McCloskey weist darauf hin, wie sehr er diese Opfer der Justiz in beinahe allen Fällen bewundert. Die Güte und Geduld von Clarence Bradley, der selbst, als das Datum seiner Hinrichtung fixiert war, noch Ruhe bewahrte. Er und viele andere hatten die erstaunliche Bereitschaft, durchzuhalten und sogar zu verzeihen. Doch McCloskey erwähnt auch die vielen traumatischen Folgen, die die langen Haftstrafen bei den Justizopfern hinterlassen haben.
Wie denkt Grisham darüber?
Die Arbeit an einem Sachbuch wie diesem sei beängstigend, sagt er im Vorwort des neuen Buches. Tausende Seiten mit Polizeiberichten, Verhandlungsprotokollen, Zeugenaussagen … Doch diese Geschichten hatten nur darauf gewartet, von einem Autor entdeckt zu werden.
Und sein Co-Autor?
Jim McCloskey hätte immer die besseren Geschichten zu erzählen, sagt Grisham, weil er dabei gewesen ist. "Ohne Jim", so Grisham, "wäre das alles nicht passiert. Er hat an vorderster Front – auf den Straßen, in den Hinterhöfen, Bars, Gefängnissen und Gerichtssälen – darum gekämpft, dass die Wahrheit ans Licht kommt."
Soll man dieses Buch lesen?
Man soll nicht nur, es ist, auch wenn es harter Tobak ist, beinahe ein MUSS, als eine Art des Respekts vor dem, was passiert. Und was in der nächsten politischen Ära der USA leider noch lange kein Ende finden wird. Auch wenn DNA-Analysen dafür sorgen, "dass Geschworene immer weniger bereit sind, alles zu akzeptieren, was ihnen Polizei und Staatsanwaltschaft auftischen", so Grisham in einem seiner aktuellen Interviews.
"Unschuldig – True Crime Storys", von John Grisham und Jim McCloskey, Hardcover, 462 Seiten, € 25,50 (erschienen 13. 11. 2024 im Heyne Verlag)
Angela Szivatz ist Autorin ("Betrug und Liebe - die wahren Fälle einer Detektivin") Moderatorin und Bloggerin ("Oma aus dem Kirschbaum"). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Angela Szivatz lebt in Wien.