NIKI GLATTAUER
Unser Schulsport ist nur mehr ein (schlechter) Witz: 5 Lehrer klagen an
Tägliche Turnstunde hahaha: Fußball-Schülerliga weg, Schwimmunterricht gestrichen, Nicht-Turnlehrer unterrichten Turnen. Schulexperte Niki Glattauer über den gefährlichen Murks.
Um ein Sprachbild zu missbrauchen: Unsere Schüler bräuchten Bewegung und Sport wie einen Bissen Brot. Aber der Schulsport stirbt gerade einen leisen Tod. Es gibt zu wenig Turnlehrerinnen*, es gibt zu wenig Turnsäle und Sportplätze, es gibt kaum noch Wettkämpfe, und es gibt kein Geld. Nur ein Beispiel: Für das Mieten eines tauglichen Fußballplatzes für ein Schüler-Liga-Spiel hat der gemeine Wiener Sportlehrer ein Budget von neun Euro zur Verfügung. Ein Hohn…
Märchen, Schweigen, Alibi Und die Politik schaut zu. Stattdessen Lippenbekenntnisse (wie das Märchen von der "täglichen Turnstunde") oder Alibihandlungen. So wurde der "Monat des Sports", jetzt im Juni, mit so vielen bürokratischen Hürden und Auflagen verbaut, dass ihn die meisten Schulen gar nicht nutzen (können). Sonst "von oben" viel beredtes Schweigen. Wer ist noch einmal unser Sportminister? Ach ja, Werner Kogler …
Fünf Lehrer klagen an Nun wollen engagierte Lehrerinnen den Niedergang des Schulsports nicht länger hinnehmen und gehen an die Öffentlichkeit, unter anderem in meine Mail-Box:
Turnen, schwimmen, kicken – nichts geht mehr
- Norbert Auf, Lehrer an einem katholischen Privatgymnasium, schreibt mir: "Im Herbst 2023 hat erstmalig in der Geschichte der österreichischen Schülerliga kein einziges Fußballmatch stattgefunden. Der Erfinder der Schülerliga Fußball, Leopold Stastny (Anm.: legendärer Trainer des österreichischen Nationalteams mit Koncilia, Hof, Sara, Jara, Köglberger, etc.), würde sich im Grab umdrehen!" Und: "Unser Schülerliga-Fußball-Referent hat mittlerweile frustriert das Handtuch geworfen!"
- Gerhard Grubmüller, AHS-Sport-Lehrer im Ruhestand: "Heuer wurden die Anträge mehrerer Schulen zu den Wiener Meisterschaften im alpinen Schilauf trotz termingerechter Anmeldung einfach nicht angenommen." Der Grund: kein Geld dafür.
- Renate Soucek, VS-Lehrerin: "Früher wollten die Eltern die Sportwochen nicht, weil sie ihnen zu teuer waren. Jetzt wollen die Lehrer die Sportwochen nicht mehr. Einsparungen und Bürokratie haben Schikurse und Sportwochen leise umgebracht."
- Lore Sch., MS-Lehrerin, nennt einen weiteren Aspekt des Übels: "Ich muss 'Turnen' unterrichten, ohne es gelernt zu haben. Aber wir kriegen keine ausgebildeten Turnlehrer mehr. Ich gebe zu, ich kann nicht turnen. Jeden Tag, wenn ich in den Turnsaal gehe, tun mir die Kinder leid."
- Gertrude Schabas ist Mutter, Großmutter und Schwimmlehrerin: "Schwimmunterricht, der eigentlich im Lehrplan der VS explizit vorgesehen ist, mit Prüfungen bis zum Fahrtenschwimmer bis Ende der Volksschule, wird bei uns nicht einmal mehr ansatzweise durchgeführt."
Jedes zweite Kind lernt nicht schwimmen Beginnen wir mit ihr. Seit Jahren kämpft die passionierte Schwimmerin in Purkersdorf gegen die Verlotterung des Schulschwimmens an – ein Kampf gegen Windmühlen. Jeder zehnte Österreicher kann nicht schwimmen, sagt die Statistik. Gerty Schabas setzt noch eins drauf: Hochgerechnet jedem zweiten Kind werde es in der Volksschule nicht mehr beigebracht. Und niemand tue etwas dagegen. "Immer wird über die 'faule Jugend, die nur vorm Handy oder Computer hockt,' geschimpft, aber die Jungen haben kaum Möglichkeiten. Leider lassen auch die Bildungsdirektionen aus."
Können nicht, wollen nicht In Niederösterreich z. B., klagt die Schwimmlehrerin, "dürfe / könne /müsse" der Schwimmunterricht von dafür gar nicht eigens ausgebildeten VS-Lehrerinnen durchgeführt werden. Gerty Schabas: "Diesen fehlt komplett die Schwimmtechnik und die Methodik. In der Praxis sehen sich dann die meisten Volksschullehrer außerstande, Schwimmunterricht zu geben, und daher wollen sie auch nicht schwimmen gehen."
4 Tage Schifahren, 4 Monate Formular Den Rest erledigt die Bürokratie. Renate Soucek, VS-Lehrerin, beschreibt mir eine andere Baustelle: "Schikurs. Unsere Chefin hätten heuer sogar wieder die Lehrer dafür gefunden. Aber es vergeht einem, wenn man für vier Tage Schifahren vier Monate lang Formulare ausfüllt, fehlenden Unterschriften nachläuft, für die finanzielle Unterstützung der minder Bemittelten stundenlang im Kreis telefoniert, sich um Bus, Unterkunft und Ski-Ausrüstungen kümmert – und dann ins Amtshaus zitiert wird, wo einen die SQM (Anm.: Schulqualitätsmanagerin) mit erhobenem Zeigefinger auf das strikte Alkoholverbot für Lehrer hinweist. Laut Vorschriften dürfte es nicht einmal ein Bier nach Dienstschluss geben, denn in einer Sportwoche wären wir immer im Dienst."
Ob der Schikurs zustande gekommen sei? "Wir sind den Anmeldungen dann nicht mehr sehr nachgelaufen." – Was heißt…? – "… dass es am Ende leider zu wenige Anmeldungen gab."
Hilfe, ich bin keine Turnlehrerin! Dienst nach Vorschrift würde in ihrem Turnunterricht Lore Sch. gern leisten – allein, ihr fehlt die Eignung. Sagt sie selbst. Nie dafür ausgebildet, muss sie an ihrer Schule jede Woche sieben Stunden "BS" (Bewegung und Sport) unterrichten. "Wir haben einen einzigen ausgebildeten Turnlehrer für 400 Kinder und der geht demnächst in Pension. Ich unterrichte Turnen, aber in Wirklichkeit kann ich die Kinder höchstens spielen lassen und ihnen zuschauen. Zuerst zehn Minuten Fußball, dann zehn Minuten Basketball, dann Saal-Ausräumen, und das in der Dauerschleife. Wenn's hoch kommt, tut die Hälfte mit, die anderen, vor allem die Mädchen, haben ihr Turnzeug gar nicht mit und sitzen in der Garderobe." Matten, Ringe, Seile, Bock und Kasten habe sie in den vier Jahren, die sie Turnen unterrichte, noch nie gebraucht. "Ich kann nicht sichern, ich traue mich das gar nicht."
Dicke Kinder geben w.o. Was mit einem Blick auf eine "Turnsaal-Turnstunde made in Vienna" (der Turnsaal in dieser MS in Wien Floridsdorf ist gefühlt halb so groß wie die Schulküche, dafür doppelt so alt) umso verständlicher wird. Da müssen beim strafweisen Rundenlaufen – Buben hatte sich am Gang mit einer Nachbarklasse durch die offene Tür verbale Scharmützel geliefert – schon in der zweiten Runde ein Drittel der mehrheitlich übergewichtigen Kinder vor Erschöpfung w.o. geben. Bevor die – ebenfalls - nicht gelernte "Turnlehrerin" fragt: Was wollt ihr spielen? Die Burschen wollen Fußball spielen, die vier (von neun) Mädchen, die an diesem Tag mitturnen und der Einfachheit halber mit den Burschen "mitturnen", wollen zwar lieber "bitte einmal was anderes", werden aber überstimmt und auf die zwei Mannschaften aufgeteilt.
Die 20-Minuten-Stunde Zu diesem Zeitpunkt ist es fünf vor halb zehn. Um zehn vor zehn wird es läuten. Da müssen die Kinder aber schon wieder angezogen sein, sonst kämen sie um ihre lange Pause. Die "Turnstunde" dauert netto also keine 20 Minuten …
Drei Mal in der Woche laufe das so ab, erzählt man mir. Falls es denn gut geht, sprich: der Klassenvorstand Turnen nicht strafweise streicht, weil die Hälfte der Klasse ihre HÜs nicht gebracht hat, der "Saal" nicht noch für ein "Projekt" am Nachmittag vorbereitet werden muss, der Schulwart nicht noch die schwarzen Fahrer der im Turnsaal eigentlich verbotenen Straßenschuhe vom Boden kratzt. Sind dann netto summa summarum 60 Minuten.
Die tägliche Turnstunde ist die Theorie. Die wöchentliche Turnstunde ist in den Wiener MS die Praxis.
Leider nur eine Vision Sport-Professor Norbert Auf hat als Lehrer nur noch ein paar Monate. Als Jahrgang 1961 ist er am Ende seines beruflichen Lehrerlebens, er geht mit Oktober in die Korridorpension. Mir schreibt er: "Im Wintersemester 1981/82 habe ich mit dem Sportstudium "Auf der Schmelz" in Wien begonnen. Seit damals war die "tägliche Sportstunde" in vieler Munde. Letztlich sind wir heute (also 43 Jahre danach!!!) ganz, ganz weit von dieser Vision entfernt." Prof. Auf wird emotionell, wenn es um den Schul-Wettkampfsport geht.
Fußball-Liga leider gestrichen "Tennis, Schilauf, Fußball waren in meinem Lehrerleben immer bestimmend für mich, persönlich und für mein Engagement für meine Schüler. Was sich aber gerade in diesen drei Sportbereichen in den letzten Jahren zum Negativen getan hat, ist einfach unfassbar!" So habe es im Herbst 2023 erstmalig in der SL-Fußball-Geschichte kein einziges Schülerliga Fußballmatch gegeben, nachdem in ganz Wien keine Fußballanlage für Schülermatches aufgetrieben werden konnte.
Neun Euro Budget "Das muss man sich vorstellen. Der Fußball-Mittelstufen-Bewerb wurde bereits komplett gestrichen. Und jetzt wird der Mietpreis von den Vereinen so hoch angesetzt, dass wir uns die Austragung der Schülerliga-Fußball nicht mehr leisten können! Obwohl die Fußballplätze in Wien an den Vormittagen meist leer sind. Neun Euro pro Spiel hat der Kollege, der das organisiert, zur Verfügung." Also kein Fußballbewerb. Zurück bleiben frustrierte Kinder und frustrierte Lehrer.
Für Tennis, so Prof. Auf, gelte dasselbe: Aufgrund der unleistbar gewordenen Mieten gebe es kaum Plätze für die talentierten Schätze, die die Musters und Thiems von morgen werden sollen. Die Liste lasse sich beliebig fortsetzen.
Schifahren leider gestrichen Und noch ein Beispiel nennt er: Gleich sechs (!) Schulen seien heuer mit ihren Anmeldungen für die Wiener Meisterschaften "Alpiner Schilauf" abgeblitzt. Kontingent ausgeschöpft. Für mehr ist kein Geld da. Auf: "Auch ich hatte in meiner Schule zahlreiche Anmeldungen aus Unterstufe und Oberstufe. Alles rechtzeitig eingereicht, trotzdem wurden wir abgelehnt." Das Kontingent war lange vor Anmeldeschluss bis auf den letzten Platz ausgeschöpft. "250 Schüler, die mitmachen dürfen, für ganz Wien … Das ist natürlich viel zu wenig."
Schwimmen leider gestrichen Groß sind die Lippenbekenntnisse – und vielfältig die Alibi-Handlungen. Beispiel die Einführung des "Monats des Schulsports", heuer neudeutsch "KlassenChallenge 2024" genannt. Seit 10. Mai können auf der dafür eingerichteten Homepage die Förderanträge eingereicht werden. Jetzt aber schnell, dürfte das Motto dafür sein. Denn davor war sechs Wochen lang nur ein Satz zu lesen gewesen: "Weitere Informationen folgen" Erzählt Gertrude Schabas, die im Süden Wiens in den Gemeinden Purkersdorf, Gablitz, Mauerbach, Tullnerbach, Pressbaum, Rekawinkel & Co. auch heuer wieder unermüdlich Schwimmunterricht "aufzustellen" versucht. "Es gab bis zuletzt keine Unterlagen, nichts. Wie soll das jetzt in der kurzen Zeit organisiert werden? In unserem Fall Schwimmzeiten, Schwimmlehrer, Organisation im Rahmen des Unterrichts ...?"
Die Wiener Bäder sind dicht Gertrude Schabas zeigt die strukturellen Probleme, die das Schul-Schwimmen seit Jahren in die Versenkung führen, im Mikrokosmos ihres persönlichen Wirkungsbereichs auf. "Jetzt hat z. B. die Sportmittelschule Hadersdorf ausgebaut, mehr Klassen, und damit fällt auch das Privatbad der Eigentümergemeinschaft der Stadt des Kindes in Wien 14 für unsere Kinder aus. In den anderen öffentlichen Wiener Bädern (Penzinger Bad, Hietzinger Bad) besteht für eine NÖ-Schule überhaupt keine Chance, einen Platz zu bekommen. Das nächste Schwimmbad wäre Tulln, aber leider mit Öffis nicht erreichbar und ausgebucht mit Tullnerfelder Schulen!"
Herumsitzen im Schulhof "Wie sollen die Kinder dann schwimmen lernen? Die Eltern haben zu wenig Zeit oder zu wenig Engagement, also sitzen die Kinder von 7.30 Uhr bis 17.00 Uhr in den Schulklassen, mit viel Glück und einer engagierten Lehrerin/einem engagierten Lehrer mit 1 Stunde Frischluft mit wenig Bewegung in einem kleinen Schulhof."
Sport wird fremd und fremder Gerhard Grubmüller hat es hinter sich. Seit drei Jahren ist der AHS-Lehrer für Sport und Englisch Pensionist. Für den Schulsport brennt er immer noch. Für ihn, schreibt er mir, seien die "Entwicklungen im Schulsport der letzten Zeit absolut bedenklich, wenn nicht gefährlich". Grubmüller: "Dass im Turnunterricht offenbar mit Methode der Sparstift angesetzt wird, ist in unserer weitgehend bewegungsarm gewordenen Gesellschaft, in der körperliche Einstiegsanforderungen für die Polizei- oder Feuerwehrausbildung dramatisch zurückgeschraubt werden müssen, auch in Hinblick auf den volksgesundheitlichen Aspekt ein Drama."
Tiefpunkt unter Tiefpunkten Und: "Unter den zahllosen Kindern, denen sportliche Bewegung – zumal wettkampfmäßig – fremd und fremder geworden ist, finden sich doch noch welche, die sich dieser Herausforderung gerne stellen wollen. Diesen LehrerInnen und Kindern dann zu sagen, dass es zwar sehr leid tue, aber Teilnahmen aus Budgetgründen leider nicht möglich seien, bedeutet einen weiteren Tiefpunkt in einer an Tiefpunkten reichen Bildungspolitik!"
96.211 Unterschriften So viele hat im vergangenen März das Volksbegehren "Die tägliche Turnstunde" bekommen, um 1.707 weniger als "Energiepreisexplosion jetzt stoppen". Was eben auch zeigt, wie es um die Wertigkeiten im Land bestellt ist. Damit war es eines von zehn offiziellen Begehren, die die 100.000er-Hürde NICHT geschafft haben und daher im Parlament jetzt auch NICHT behandelt werden müssen.
Nicht gescheit, dafür engagiert Halb so viele Unterschriften wie die tägliche Turnstunde bekam damals übrigens das Volksbegehren "Bist du gescheit". Falls Sie dieses nicht auf dem Radar haben: Da wurde eher erfolglos begehrt, dass künftig (0-Ton) "jedes angehende Mitglied einer Bundesregierung vor der Angelobung einen Test über Allgemeinwissen sowie sein Fachwissen für das vorgesehene Aufgabengebiet ablegen muss".
Die Volleyballregeln wird die Sportministerin von morgen also nicht beherrschen müssen. Hilfreich wäre es freilich, ausnahmsweise wieder eine zu bekommen, der Sport wenigstens ein Anliegen ist.
* Ich verwende die weibliche und männliche Form abwechselnd. Andere Geschlechter sind jeweils freundlich mitgemeint
Nikolaus "Niki" Glattauer, geboren 1959 in der Schweiz, lebt als Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete von 1998 an 25 Jahre lang als Lehrer, zuletzt war er Direktor eines "Inklusiven Schulzentrums" in Wien-Meidling. Sein erstes Buch zum Thema Bildung, "Der engagierte Lehrer und seine Feinde", erschien 2010