kontroverse
Warum lädt Wien Israel-Kritikerin zu den Festwochen ein?
Annie Ernaux ist Literatur-Nobelpreisträgerin, unterschrieb Boykott-Aufrufe gegen Israel, nun engagiert sie sich in Wien. "Sie ist keine Antisemitin", sagt Festwochen-Intendant Milo Rau.
"Niemand hat die ganze Wahrheit, jeder nur einen Teil davon", sagt Milo Rau. Er ist seit 2023 Intendant der Wiener Festwochen. Am 1. März stellte der gebürtige Schweizer sein erstes Programm vor und man bekam eine Ahnung davon, was die Wahrheit sein könnte, von der jeder nur einen Teil besitzt. Vielleicht eine Erkenntnis: Ab heuer wird das alles ein bisschen anders. Vor dem "Hotel Imperial" fuhr ein Fiaker vor, dem entstieg eine Gruppe von Menschen mit "Pussy-Riot"-Sturmhauben über den Kopf gezogen, später war von ihnen eine Art Kampfgesang zu hören: "Steht auf, steht auf".
Unter einer dieser Sturmhauben steckte Milo Rau selbst, 47, geboren in Bern, weltläufiger Regisseur, von den Medien mit Begriffen wie "einflussreich", "interessant" oder "skandalös" eingenordet, mit allerlei Preisen hochdekoriert. Ein Querkopf, Aufwühler, Feuerentfacher. Nun in Wien.
Rat mit 100 Personen entscheidet Die Festwochen waren in ihrer fast schon 100-jährigen Geschichte alles Mögliche, Avantgarde und Biedermeier, eine Republik waren sie noch nie. Dazu will sie der neue Intendant nun machen, er sieht die Veranstaltungsreihe, die heuer vom 17. Mai bis zum 23. Juni dauert, als eine Art Gesamtkunstwerk. Mit eigener Hymne, eigener Verfassung, erstellt von einem eigenen "Rat der Republik", gesamt 100 Personen, 31 davon aus dem Bereich Kunst, Aktivismus, Intellekt, lokal und international, dazu 69 Wiener Bürgerinnen und Bürger, die von 23 Bezirkspartnern bestellt werden.
"Die Wiener Festwochen haben eine Geschichte der Abgehobenheit", sagt Rau zu Newsflix, "und da wollen wir sie ein Stück runterholen, zugänglicher machen". Das soll mit dem "Rat der Republik" erreicht werden. Er stellt die Sinnfrage, eigentlich sind es fünf, aber im Grunde genommen sollen nur zwei beantwortet werden: Welche Art Festival wollen wir sein? Und welchen Regeln wollen wir uns unterwerfen? "Der Rat erarbeitet eine Verfassung der Freien Republik Wien, sie soll dann für fünf Jahre gelten", sagt Rau. "Es handelt sich um eine Art Leitlinie, um Regeln, damit die Leute wissen, woran sie sind."
Es gibt keine Berührungsängste, auch nicht zur FPÖ Rau sieht sich "politisch eher links, das ist aber nicht der Maßstab der Kuration des Festivals“. Und: "Der Rat der Republik, der gerade in der Entstehung ist, wird repräsentativ ausgewählt. Wenn es in Wien 20 Prozent Menschen gibt, die FPÖ wählen, dann müssen sich diese 20 Prozent im Rat auch widerspiegeln. Es treffen ganz unterschiedliche Menschen aufeinander, ihre Meinungen sind oft vollkommen widersprüchlich."
Widersprüchlichkeit ist oft nicht leicht auszuhalten, vielleicht müssen wir uns die Fähigkeit dazu nach Corona und in den Zeiten der vielen Krisen erst wieder aneignen. Das wird nicht ohne Hobelspäne gehen und so wird es auch diesmal sein.
Jelinek bis Jean Ziegler Unter dem 31 "Prominenten" im "Rat der Republik" befinden sich einige klingende Namen. Elfriede Jelinek, Valie Export, der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, Dirigentin Oksana Lyniv, Seenotretterin Carola Rackete, Bestsellerautorin Sybille Berg, der Soziologe Jean Ziegler, der 2011 die Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten sollte und dann wegen angeblicher Nähe zu Libyens Diktator Gaddafi ausgeladen wurde. Und Annie Ernaux, sie wird wohl für die meisten Kontroversen sorgen.
Unterstützung für Israel-Boykott Die mittlerweile 83-jährige Französin wurde 2022 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, die Qualität ihrer Werksammlung ist unbestritten. Aber Annie Ernaux gilt auch als politischer Betonkopf, ihr Engagement für die israelfeindliche Boykottbewegung "BDS" empört viele. "BDS" steht für "Boycott, Divestment and Sanctions". Ziel der Gruppe: den israelischen Staat unter Druck zu setzen, um die Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden. "BDS"-Unterstützer werfen Israel Kolonialismus vor, nennen das Land im Sinne Südafrikas einen "Apartheidstaat".
Alle fünf Parteien im Parlament dagegen Der österreichische Nationalrat hat am 27. Februar 2020 die "BDS"-Bewegung und ihre Ziele, insbesondere den Aufruf zum Boykott von israelischen Produkten, Unternehmen, Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder Sportlerinnen und Sportlern "scharf verurteilt", alle Parteien stimmten mit. Mitglieder von "BDS Austria" sollen an den regelmäßigen Palästinenser-Demos in Wien beteiligt sein. Der Deutsche Bundestag hat es staatlichen Einrichtungen verboten, "BDS" zu unterstützen.
"Annie Ernaux ist keine Antisemitin", sagt Rau. "Sie hat sich kritisch über Russland geäußert, über das iranische Regime, über die Politik Israels, aber sie hat niemals Muslime, Russen oder Juden herabgewürdigt. Sie ist kein Mitglied von BDS." Er vertrete in vielen Punkten nicht die Meinung von Annie Ernaux, oder die jeweilige Meinung eines anderen Ratsmitglieds - "aber jeder soll seine Meinung sagen dürfen, solange es auf dem Boden der Verfassung ist."
Es sei "keine Provokation, Annie Ernaux am "Rat der Republik" teilnehmen zu lassen, sagt Rau. "Die Diskussion hingegen, die nun darüber geführt wird, mit Begriffen wie 'Antisemitin', ist eine bewusste, wenig hilfreiche Provokation."
Die Debatte steht erst an ihrem Beginn Annie Ernaux wird nicht zu den Festwochen nach Wien kommen, aber sie wird trotzdem präsent sein. Natürlich wird es Proteste geben, auch hier Boykottaufrufe, es wird die Frage gestellt werden, ob Linke wie Annie Ernaux, die sich gegen Israel stellen, anders und damit besser behandelt werden als Rechte, die das tun. Rau verfolgt mit seinem "Rat der Republik" andere Ziele: "Ich will einen Ort schaffen, an dem frei diskutiert werden kann."
Das Engagement von Ernaux und einiger anderer bleibt überschaubar. "Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bezirken sind der zentrale Teil des Rats", sagt Rau. "Die Künstlerinnen und Künstler nehmen ganz unterschiedlich an den Beratungen teil, manche schreiben nur einen Brief."
Es werde im Rat eine Debatte über fünf Wochen geben, so Rau, jede Woche finden an zwei Tagen Beratungen im "Haus der Republik" statt. "Es werden fünf Themenkomplexe besprochen, etwa sind Quoten gut, oder schlecht? Da wird es Menschen geben, die sagen, Quoten brauchen wir unbedingt, und welche, die sagen, das engt uns zu stark ein."
Es hat eben niemand die ganze Wahrheit, jeder nur einen Teil davon.