Memoiren sind da!
Was in Merkel-Bio über Österreich und die Welt steht
736 Seiten "Freiheit" für 43 Euro. Die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel hat ihre Memoiren vorgelegt. Was sie über die Flüchtlingswelle zu sagen hat, wie sie Österreichs Ex-Kanzler sieht, wie Putin und Trump.
Was sich nach der ersten Lektüre bilanzieren lässt: Angela Merkel scheint nicht von großen Selbstzweifeln geplagt zu werden. Im Prolog ihres Buches verspricht die deutsche Altkanzlerin ein Bemühen um "aufrichtige Selbstreflexion", sie werde "heute als falsch Eingeschätztes benennen, für richtig Gehaltenes verteidigen". Besser gelingt Zweiteres. Häufiger auch.
Mit KI-Stimme Illy: Was in Merkel-Bio über Österreich und die Welt steht
Das Buch liest sich eher wie eine brav erzählte Seminararbeit über die Politik der vergangenen Jahrzehnte. Ohne viel Emotion, gänzlich ohne Pathos vorgetragen, als eine Art Abfolge von Sachzwängen geschildert. Es ist nichtsdestotrotz ein lesenswerter Blick hinter die Tapetentüren der Politik, verfasst von jemandem, der mehr als nur dabei war.
Der nüchterne Ton kommt nicht von ungefähr, Merkel ist gelernte Physikerin. Titel ihrer 'Diplomarbeit: "Der Einfluss der räumlichen Korrelation auf die Reaktionsgeschwindigkeit bei bimolekularen Elementarreaktionen in dichten Medien". Ihr "dichtes Medium" Buch liegt ab sofort in den Geschäften auf. Das müssen Sie dazu wissen:
Was ist zum Buch zu sagen?
Es trägt den Titel "Freiheit", hat 736 Seiten und kostet stolze 43 Euro. Die Memoiren sind auf Deutsch und auf Englisch erschienen. Das Buch wurde also zeitgleich auch in den USA, in Kanada und in rund 30 weiteren Ländern publiziert. Es durfte in Buchhandlungen erst am 26. November ausgelegt werden. Verleger ist Kiepenheuer & Witsch, Teil der Holtzbrinck Publishing Group ("Die Zeit"). Es gibt im Innenteil zwei Bildstrecken über jeweils 16 Seiten.
Warum kam das Buch jetzt heraus?
Vermutlich aus einem doppelten Anlass. Merkel wurde am 17. Juli 70 Jahre alt. Und es ist ein gutes Weihnachtsgeschenk.
Gibt es auch ein Hörbuch?
Ja, "Tatort"-Kommissarin Corinna Harfouch hat es eingesprochen.
Sind 736 Seiten viel für Memoiren?
Das kommt auf die Sichtweise an. Merkel-Vorgänger Helmut Kohl brauchte gleich drei Bände, um seine "Erinnerungen" niederzuschreiben.
Hat Merkel das Buch allein verfasst?
Nein, Mitautorin ist ihre langjährige Büroleiterin und Beraterin Beate Baumann. Sie hat Anglistik und Germanistik studiert, arbeitete von 1992 an für Merkel.
Was sind die Memoiren nicht?
Schlüsselloch-Enthüllungen. Die Weltlenker, von Putin bis Trump werden also nicht bis auf die Unterhose ausgezogen. "Es handelt sich um ein Sachbuch", hatte Merkel schon auf der Frankfurter Buchmesse 2023 gesagt. Und: Sie werde sich "immer an den Duden" halten und "nicht gendern".
Worum geht es also in dem Buch?
Um 70 Jahre politischer Geschichte in Deutschland, in Europa, in der Welt. Merkel lebte davon 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Die Memoiren bestehen aus fünf Teilen und 24 Überkapiteln, sie beginnen mit Merkels Kindheit und enden in der Pandemie.
Was war Merkel, ehe sie Kanzlerin wurde?
Sie hat in der DDR Physik studiert, promovierte zum Dr. rer. nat., 1990 kam sie in den Deutschen Bundestag. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Bis sie das Amt von Gerhard Schröder übernahm, amtierte sie als Generalsekretärin, war dann Bundesvorsitzende der CDU.
Wie lange war Merkel im Amt?
Exakt 5.860 Tage, vom 22. November 2005 bis 8. Dezember 2021, 16 Jahre also. Sie verfehlte den Rekord von Helmut Kohl um nur zehn Tage.
Wen und was erlebte sie als Kanzlerin alles live?
Vier verschiedene US-Präsidenten (George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump, Joe Biden). Sie hat 19 Ministerinnen und Minister ausgetauscht, 766 Tage auf Auslandsreisen verbracht, einen deutschen WM-Titel im Fußball der Männer erlebt (2014 in Brasilien) und 4,7 Millionen Euro verdient, rechnete die WAZ aus. Als Merkel 2005 ins Amt kam, gab es noch kein Instagram (2010), kein iPhone (2007), kein TikTok (2016), in Lokalen durfte man noch rauchen.
Warum heißt Merkel Merkel?
Ihr Geburtsname ist Angela Dorothea Kasner. In erster Ehe (1977 bis 1982) war sie mit dem Physiker Ulrich Merkel verheiratet. Als sie 1998 den Quantenmechaniker Joachim Sauer heiratete, behielt sie den Namen bei, sie war damals schon einigermaßen bekannt.
Welche Beziehung hat sie zu Österreichs Politik?
Als sie ihr Amt antrat, war noch Wolfgang Schüssel Kanzler. Es folgten sechs Regierungschefs (Gusenbauer, Faymann, Kern, Kurz zwei Mal, Schallenberg und Nehammer) und eine Regierungschefin (Bierlein). Zu Faymann hatte sie ein gutes Verhältnis, das durch die Flüchtlingskrise belastet wurde. Über ihn soll Merkel einmal gesagt haben: Wenn er sie besuche, dann komme er "mit keiner Meinung rein und geht mit meiner Meinung wieder raus". Beleg dafür gibt es keinen, im Buch steht nichts dazu.
Was schreibt sie über Faymann?
Sie schildert vor allem eindrücklich die Ereignisse vom 4. September 2015, als sich "unzählige Flüchtlinge" von Budapest zu Fuß auf der Autobahn auf den Weg Richtung ungarisch-österreichische Grenze machten. Die Bilder davon schreckten Österreich untertags auf, Faymann rief in Panik bei der Kanzlerin an, die hielt aber gerade eine Rede. Es wurde ein Telefonat für 20 Uhr vereinbart.
Was passierte dann?
Merkel hatte sich inzwischen die Bilder der Flüchtlings-Karawane auf ihrem iPad angeschaut. Faymann habe sie gefragt, "ob wir, Deutschland und Österreich, uns die Aufgabe teilen könnten, er nehme die eine Hälfte auf, ich die andere", schildert die damalige Kanzlerin. "Faymann wollte die Entscheidung nicht selbst treffen, die Verantwortung lastete auf mir, und ich war entschlossen, sie wahrzunehmen."
Woran scheiterte Merkel zunächst?
Sie konnte den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nicht erreichen. Sie brauchte von drei Personen die Freigabe für ihre Entscheidung, zwei bekam sie umgehend, aber Seehofer blieb unerreichbar. Per Telefon, über Kontakte, via SMS, auch nicht über seine Personenschützer.
Was tat Merkel?
Sie entschied ohne Seehofer. Ungarns Staatschef Viktor Orbán (alle Kontakte mit ihm "liefen an dem Abend über Faymann") hatte inzwischen Busse besorgen lassen, mit denen er die Flüchtlinge an die ungarisch-österreichische Grenze bringen ließ.
Wie gingen Österreich und Deutschland vor?
Gegen 22.45 Uhr beschloss Merkel, nicht länger zu warten. "Deutschland und Österreich gaben kurz nach Mitternacht wortgleich in einem Facebook-Post bekannt, dass die Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland einreisen könnten." Danach sei sie todmüde ins Bett gefallen, erzählt sie.
Kommt Österreich sonst in dem Buch vor?
Ja, an ingesamt 19 Stellen. Österreich war indirekt sogar Anlass für die Memoiren, wie die Ex-Kanzlerin im Prolog verrät. Sie habe sich lange Zeit nicht vorstellen können, "ein solches Buch" zu schreiben. Das habe sich eben in jener Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 geändert. Das sei eine "Zäsur in ihrer Kanzlerschaft" gewesen, ordnet sie das ein.
Kommt Sebastian Kurz im Buch vor?
Mit dem ÖVP-Kanzler fremdelte die Parteifreundin wegen seiner Ansichten zur Flüchtlingspolitik. Kurz rühmte sich später, Merkel habe ihm das Du-Wort angetragen. Im Buch kommt er mit keiner Silbe vor.
Hat Merkel private Beziehungen nach Österreich?
Ja, nicht allein weil sie häufiger Gast bei den Salzburger Festspielen ist. Sie war 1961 zum ersten Mal in Österreich auf Urlaub. "Es wurde ein VW Käfer gemietet, mit ihm fuhren wir im Sommer drei Wochen nach Bayern und Österreich" erzählt sie. Sie besuchte Salzburg und Innsbruck, später Graz. An anderer Stelle erwähnt Merkel, dass ihr Mann und sie bis heute mit Ex-Minister Martin Bartenstein und seiner Frau Ilse befreundet seien.
Welche Tragödie verbindet Merkel mit Österreich?
Am 27. August 2015 starben 71 Flüchtlinge in einem Lastwagen, der auf einem Autobahnparkplatz bei Parndorf im Burgenland geparkt war. Merkel war zu diesem Zeitpunkt in Wien, sie nahm an der Westbalkankonferenz teil. Ich Buch schreibt sie darüber: "Irgendwann im Lauf des Tages ... schob Faymann mir sein Handy rüber, um mir eine Nachricht zu zeigen, die er soeben bekommen hatte ... Wir schauten uns an. 'Schrecklich', flüsterte ich."
Wie kam es zu "Wir schaffen das"?
Es ist Merkels bekanntester Ausspruch, sie wird bis heute dafür beklatscht und beschimpft. Dabei fiel das Zitat nicht bewusst, in einem anderen Zusammenhang und wurde Merkel quasi in den Mund gelegt.
Wer steckt dann hinter dem Ausspruch?
Beate Baumann, ihre Beraterin seit 1992, sie ist auch Mitautorin des Buches. Am 31. August 2015 bereitete sich Merkel auf die Sommerpressekonferenz vor, die Griechenland-Finanzkrise war bewältigt, nun hatte sie die Asylkrise vor der Brust. "Aber egal", sagte sie zu Baumann, "irgendwie werden wir das auch schaffen. Wir haben das andere ja auch geschafft." Der Groschen war gefallen.
Wie entstand dann das geflügelte Wort?
"Wir schaffen das!" Baumann empfahl ihr, den Satz in der anschließenden Pressekonferenz zu verwenden. Merkel versteht die Wucht bis heute nicht. "Hätte mir damals jemand gesagt, dass 'Wir schaffen das', diese drei banalen Worte, mir später wochenlang, monatelang, jahrelang, von einigen bis heute vorgehalten würden, hätte ich ungläubig geguckt und gefragt: Wie bitte?"
Was schreibt sie über die Selfie-Vorwürfe?
2015 besuchte Merkel ein Erstaufnahmezentrum in Berlin. Selfies mit Flüchtlingen entstanden. Sie wurden später auf vielen Handys von Menschen gefunden, die sich auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten. Gegner warfen Merkel vor, sie habe Flüchtlinge durch die Selfies "eingeladen". Sie versteht den Vorwurf nicht. "Bis heute kann ich nicht nachvollziehen, dass man annehmen konnte, ein freundliches Gesicht auf einem Bild könnte scharenweise Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat bewegen."
Was schreibt Merkel über Putin?
Viel, der Name kommt 143 Mal im Buch vor. Als sie 2021 abtrat, "lagen zwei Jahrzehnte gemeinsamer Begegnungen hinter uns". Sie halte es im Rückblick für richtig, dass sie die Kontakte zu Russland "und meinen Gesprächfaden zu Putin" nie abreißen ließ. Und, in die Zukunft gerichtet: "Putin zu unterschätzen wäre ein Fehler."
Was nervte sie persönlich an Putin?
"Wenn ich etwas nicht leiden kann, ist es Unpünktlichkeit", schreibt sie. Putin nutzte das weidlich aus. 2015 trafen sich die wichtigsten Staatschefs der Welt in Bayern, zu einem Fototermin kam der russische Präsident 45 Minuten zu spät. Merkel kochte. "Du bist schuld", lachte er. Tatsächlich hatte ihm Merkel eine Kiste Radeberger Bier aufs Zimmer stellen lassen, er liebte es seit seiner Zeit als KGB-Agent in Dresden. Diesmal offenbar zu sehr.
Schreibt sie auch über das Hunderlebnis mit Putin?
Ja. 1995 war Merkel von einem Hund gebissen worden und hat seither Angst vor den Tieren. Putin wusste das und spielte damit. 2006 schenkte er der Kanzlerin in Moskau einen Stoffhund mit der Bemerkung, der beiße nicht. In Sotschi 2007 ließ er bei einem Fototermin seinen – echten – Labrador Koni um ihre Beine kreisen. "War das eine kleine Machtdemonstration?", fragt Merkel im Buch. Sie sprach Putin darauf nicht an. "Never explain, never complain".
Welche Angst hatte Putin?
Merkel schreibt, dass er 2021 in "Sorge vor einer Coronainfektion" war. "Wer ihn sprechen wollte, musste vorher in Quarantäne gewesen sein." Sie lehnte das ab. Die Pandemie nennt sie "eine demokratische Zumutung".
Was schreibt sie über Trump?
Vergleichsweise wenig. Dass er von ihr alles über Putin wissen wollte, er "faszinierte ihn offenbar sehr". In den folgenden Jahren habe sie den Eindruck, dass Trump "Politiker mit autokratischen und diktatorischen Zügen ihn in ihren Bann zogen". Er sei kein "sich normal verhaltender Gesprächspartner". Er habe ihr einmal aus Kalkül den Handschlag verweigert, warf ihr vor, Deutschland wegen der vielen Flüchtlinge "ruiniert" zu haben.
Was blieb von Merkel?
Der Spitzname "Mutti", die typische Handbewegung, genannt "Merkel-Raute", nun verewigt auf der Rückseite ihrer Memoiren. Das Bild der einst mächtigsten Frau der Welt, deren Stimme überall Gewicht hatte. Gegen Ende der Amtszeit hin das vielkritisierte Management der Flüchtlingskrise.
Wie lebt sie jetzt?
Nach wie vor mit ihrem Ehemann Joachim Sauer (73) in einer Berliner Mietwohnung.
Was erhält sie für die Memoiren?
Das ist geheim. Die FAZ berichtete von einem Vorschuss in zweistelliger Millionenhöhe. Barack Obama und seine Frau Michelle sollen 2017 für ihre Memoiren 65 Millionen US-Dollar erhalten haben. Zum Sozialfall wurde Merkel (die Geld wenig Bedeutung beimisst) nach dem Polit-Abschied aber ohnehin nicht. Sie kassiert rund 15.000 Euro Pension, hat ein Büro mit neun Mitarbeitern zur Verfügung, nach wie vor Personenschutz.
Wie fällt die Reaktion auf die Memoiren aus?
Durchwachsen. "Die Kanzlerin beichtet nur lässliche Sünden", schreibt die FAZ. "Merkel redet ihre Verantwortung klein, wer Selbstkritik erwartet, wird enttäuscht", urteilt das Handelsblatt. "Angela Merkels historische Versäumisse werden im Rückblick klarer sichtbar – ihre Autobiografie reflektiert sie kaum", so Die Zeit.