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Was passiert eigentlich, wenn der Krieg an Österreichs Tür klopft?

Wie läuft das Krisenmanagement ab, wer wird einberufen (wer nicht) und warum so etwas nicht über Nacht passiert. Wir müssen uns mit unangenehmen Fragen beschäftigen.

Soldat mit dem Stg 77 während der Angelobung der neuen Rekruten des Jägerbataillons 24 in Lienz
Soldat mit dem Stg 77 während der Angelobung der neuen Rekruten des Jägerbataillons 24 in Lienz
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Christian Nusser
Akt. Uhr
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Vielleicht wird das zu Ostern bei manchen Tischgespräch. Überall Krisen, die immer näher rücken, so scheint es. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, dann die russischen Atom-Drohungen Richtung Westen, das Hochrüsten in Europa. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der über EU-Bodentruppen in der Ukraine nachdenkt. Jüngst der Terroranschlag bei Moskau und die Ankündigungen von Putin, Vergeltung üben zu wollen.

Was vor ein paar Jahren noch undenkbar schien, ist nun nicht mehr so weit weg. Die EU, auch als Friedensprojekt gegründet, sieht sich mit Kriegsangst ihrer Bewohner konfrontiert. Und Österreich? Neutral – aber was passiert, wenn es in einem EU-Land zu einem Konflikt kommt, ein Nachbarstaat angegriffen wird? Wie verhalten wir uns? Michael Bauer ist Sprecher des Verteidigungsministeriums und ebendort verantwortlich für die Krisenkommunikation. Das sagt er über:

Welche Krisen-Szenarien es für Österreich gibt
Es kann eine unmittelbare und eine mittelbare Bedrohung geben. Unmittelbar heißt, Österreich wird direkt angegriffen, sei es in der Luft, im Cyberraum oder tatsächlich am Boden. Mittelbar bedeutet, Österreich wird nicht direkt angegriffen, aber ein Nachbarland oder ein Nachbar-Nachbarland.

Was unter "Angriff" zu verstehen ist
Es muss unterschieden werden, ob eine Granate irgendwo in den Grenzbereich fliegt oder ob etwa eine russische Brigade Österreich direkt angreift. Davon hängen unterschiedliche Maßnahmen ab, die gesetzt werden können.

Ministeriumssprecher Michael Bauer mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner
Ministeriumssprecher Michael Bauer mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner
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Wer für die Einschätzung und Maßnahmen zuständig ist
Eigentlich die Verteidigungsministerin, aber in so einem Fall würde sicher die ganze Bundesregierung tätig werden.

Wie der Ablauf ist
Jedes Ministerium hat unterstützende Kräfte. Das Verteidigungsministerium hat als Arbeitsmuskel das Heeresnachrichtenamt für den Blick ins Ausland und das Abwehramt, das schaut, wie weit eigene Heeresgüter betroffen sind. Aus deren Erkenntnissen ergibt sich eine Einschätzung und mit dieser Einschätzung geht die Ministerin in den Ministerrat.

Was dann passiert
Die Bundesregierung beschließt als Kollektiv entsprechende Maßnahmen.

Welche Informationsquellen es sonst noch gibt
Das Verteidigungsministerium hat Attachés – im Außenministerium würde man Botschafter dazu sagen – in Brüssel bei der EU und bei der NATO sitzen, um an Informationen zu kommen und um zu wissen, was dort vor sich geht. Bei beiden läuft ein strukturierter Prozess ab, ein Komitee entscheidet im Fall eines Angriffes, was das jetzt für uns als NATO, für uns als EU heißt. Bei der EU sitzen wir natürlich am Tisch. Bei der NATO sind wir über "Partnership for Peace" Zuhörer.

Welche Rolle der nationale Sicherheitsrat spielt
Er ist auch ein Beratungsorgan und würde sofort einberufen werden. In Wirklichkeit sind das alles Organe, die der Bundesregierung das Futter liefern, damit sie Entscheidungen treffen kann. Die Bundesregierung ist sozusagen die Fabrik und die Rohstoffe liefern der Sicherheitsrat und die Diplomaten aus Brüssel, das Nachrichtenamt, das Abwehramt und das Bundesheer an sich. Die Fabrik, die Bundesregierung also, entscheidet aufgrund der zugelieferten Rohstoffe, was produziert wird.

Wie eine Mobilisierung im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung abläuft
Wichtig ist zu sagen: Eine kriegerische Auseinandersetzung passiert nicht über Nacht. Das ist auszuschließen.

Warum?
Als Beispiel: Wir haben ungefähr ein halbes Jahr vorher gewusst, dass Russland die Ukraine angreifen wird. Genauso, wie es gekommen ist. Wir haben gewusst, die zwölfte Infanteriebrigade greift aus dem Raum so und so an und hat das Angriffsziel so und so. Das Einzige, was unser Heeresnachrichtenamt nicht voraussagen konnte, war der exakte Zeitpunkt.

Kriegstreiber: Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Selfie auf dem Roten Platz in Moskau
Kriegstreiber: Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Selfie auf dem Roten Platz in Moskau
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Wieso man so etwas weiß
Das unterliegt der Geheimhaltung und wird nicht kommuniziert. Was ich sagen kann: Momentan treten mehrere Heeres-Experten immer wieder im Fernsehen auf. Ich habe sie rund um den 20. Jänner 2022 gefragt, ob sie für diese Medienarbeit bereit sind. Das war etwa einen Monat vor Beginn des russischen Großangriffs.

Was dieses Wissen für Folgen hat
Dass es auszuschließen ist, dass wir in der Früh aufwachen und beschließen müssen, dass wir das Jägerbataillon 25 an die Grenze schicken. Es gibt immer einen Vorlauf.

Was passiert, wenn man weiß, dass es zu einem Angriff auf Österreich kommen wird
Dann gibt es zwei Ebenen. Mit der ersten Ebene ist das Heer gemeint, das sich zu diesem Zeitpunkt in den Kasernen befindet. Also alle Grundwehrdiener, die das vierte Ausbildungsmonat abgeschlossen haben. Sie sind feldverwendungsfähig, wie das heißt. Alle diese Soldaten bekommen einen Einsatzbefehl. Parallel dazu würde es sicher zu einer Teilmobilmachung oder vielleicht sogar zu einer Mobilmachung kommen, weil mit den bestehenden Soldaten nur sozusagen der erste Teil abgedeckt werden kann.

Wie viel Soldaten das ungefähr sind
Die Sicherheitsdoktrin schreibt vor, dass es insgesamt 55.000 Soldaten sein müssen. Also Milizsoldaten, Berufssoldaten und Grundwehrdiener. Momentan haben wir 9.500 Grundwehrdiener, davon muss man alle abziehen, die für den Betrieb des Bundesheers unabkömmlich sind. Die Wache, die Küchen und alle, die noch nicht vier Monate in Ausbildung waren. Es bleiben etwa 4.000 übrig.

Was mit den Berufssoldaten ist
Da werden nicht zwölf aus der einen Kaserne und 40 aus der anderen genommen, sondern organisatorische Einheiten gebildet. Das Bundesheer hat derzeit ungefähr 13.000 Berufssoldaten. Davon können natürlich nicht alle an die Front geschickt werden.

Wie eine Teilmobilmachung oder Mobilmachung abläuft
Da man muss unterscheiden. Es gibt jene, die zur Miliz gehören. Also alle, die in den vergangenen sechs Jahren ihren Grundwehrdienst absolviert haben, gehören dazu, ob sie wollen oder nicht. Weil bei ihnen der Ausbildungsgrad noch hoch ist. Dann gibt es jene, die gesagt haben, ich möchte quasi nebenberuflich beim Heer weitermachen und melde mich immer wieder zu den Übungen. Und dann noch jene, die verpflichtet wurden zu Übungen. Die gehören alle zur Miliz, die würden mobilisiert werden.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und Kanzler Karl Nehammer im neuen Hubschrauber AW-169 Lion am Heldenplatz
Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und Kanzler Karl Nehammer im neuen Hubschrauber AW-169 Lion am Heldenplatz
Helmut Graf

Und darüber hinaus?
Alle anderen, die jemals Grundwehrdienst gemacht haben, gehören zur Reserve. Es gibt keinerlei Planungen, die Reserve einzuberufen, es steht auch keine Gerätschaft für sie in ausreichendem Maße zur Verfügung. Vielleicht wenn ein Krieg fünf Jahre dauert, dann würde man sich Gedanken darüber machen, aber sonst nicht.

Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Österreich von einer kriegerischen Auseinandersetzung betroffen ist
Es gibt jetzt kein Szenario, in dem es in den nächsten Jahren zu einem direkten Angriff auf Österreich kommt. Aber es gibt sehr wohl Szenarien, dass Österreich mittelbar betroffen ist, es also zu einem militärischen Konflikt kommt, der sich auf Österreich auswirken kann.

Was "auswirken" heißt
Dass es in einem Nachbarstaat zu einem kriegerischen Angriff kommt. Dass österreichisches Staatsgebiet als Rückzugsland oder Aufmarschgebiet verwendet wird. Das ist zum Beispiel ein Szenario, bei dem es natürlich zum Einsatz des Bundesheeres kommen muss.

Wie sich das neutrale Österreich bei einem Überfall auf ein Nachbarland verhält
Aus der "Partnerschaft für den Frieden" der NATO ergeben sich keinerlei Verpflichtungen. Bei der Europäischen Union gibt es aber die so genannte Beistandspflicht. Wenn ein EU-Staat angegriffen wird, dann helfen alle zusammen. Aber: Jeder Staat hat das Recht, selbst zu entscheiden, wie diese Hilfe aussieht. Wir können zum Beispiel humanitär helfen, oder wir nehmen Flüchtlinge auf.

Ob Österreich in Anlassfall sofort einen Krisenstab zur Verfügung hätte
Ich kann jetzt wieder nur für das Verteidigungsministerium sprechen: Ja, in der Sekunde quasi. Gesamtstaatlich gibt es das Krisenzentrum, das sich im Innenministerium gerade im Aufbau befindet.

Was der Ukrainekrieg gezeigt hat
Dass es einen Vorlauf gibt. Der Einsatz von Drohnen zeigt, dass am Gefechtsfeld kein Schritt eines Soldaten unbeobachtet bleibt. Weltpolitisch ist da genauso. Wenn heute eine russische Brigade eine Kaserne verlässt, dann sieht das der Westen. Das haben wir bei Russland gesehen: Mobil zu machen, um ein anderes Land anzugreifen, das kann kein Land von heute auf morgen machen, das dauert Wochen und Monate. Nichts bleibt unbeobachtet.

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