Taurus-Affäre
Wie Putin die deutsche Regierung lächerlich macht
Russland ließ höchstrangige Militärs belauschen und den Mitschnitt dann online stellen. Der Spionage-Skandal weitet sich immer mehr aus.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Am vergangenen Wochenende weilte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Rom. Am Samstag wurde er zum ersten Mal von Papst Franziskus empfangen, ein Wohlfühltermin. Scholz überreichte dem 87-Jährigen den offiziellen Ball der Fußballeuropameisterschaft 2024, die in Deutschland ausgetragen wird. Zuvor war er bei Italiens Präsident Sergio Mattarella in dessen Amtssitz zu Gast (Regierungschefin Giorgia Meloni ist auf US-Visite). Am Nachmittag wählte Scholz auf dem Parteitag der europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten (PES) schnell noch den Spitzenkandidaten für die Europawahl im Juni mit. Einziger Bewerber war EU-Arbeitskommissar Nicolas Schmit aus Luxemburg.
Ungesicherte Leitung In Gedanken wird Scholz aber wohl ganz woanders gewesen sein, daheim nämlich. Dort wuchs sich in seiner Abwesenheit die Abhöraffäre rund um das Taurus-Waffensystem weiter aus. Russland hatte vier höchstrangige Angehörige der deutschen Bundeswehr, darunter der Chef der Luftwaffe Ingo Gerhartz, belauscht. Das Quartett debattierte in einer (ungesicherten) Internet-Videokonferenz über streng geheime Militärangelegenheiten, darunter die mögliche Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine.
Der 37 Minuten lange Mitschnitt landete auf der Plattform Telegram. Die Chefredakteurin des russischen Staatssenders "RT" (früher "Russia Today"), Margarita Simonjan, steckt hinter der Veröffentlichung des Video. Je mehr Details dazu bekannt werden, desto politisch brisanter wird die Affäre. Die Unterredung der Militärs wurde über WebEx geführt, die Bundeswehr hatte die Videotelefonie-Plattform im Zug der Pandemie angeschafft. Aber: WebEx von Cisco gilt als Traum für Spione. Wer sich per Telefon oder per Browser einwählt, steht nicht unter dem Schutz einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Das US-Department of Energy kennt die Folgen, wurde ausspioniert, die Sicherheitslücke ist seit langem bekannt.
Was haben die Russen sonst so belauscht? Vor Besprechungen wird üblicherweise ein Code an die Teilnehmer geschickt, über den sie sich in die Unterredung einwählen können. Mit diesem Code können sie sich von einem Administrator freischalten lassen. Nach Infos des Nachrichtenmagazins "Spiegel" denken Experten des Militärischen Abschirmdienst (MAD), es könnten sich Personen in das Meeting eingeschleust und es mitgeschnitten haben. Warum das dem Administrator nicht auffiel? Eines der vielen Rätsel. Einer der Teilnehmer war aus einem Hotelzimmer in Singapur zugeschaltet. Wurde sein Handy ausspioniert oder war sein Hotelzimmer verwanzt? Auch das weiß niemand: Was haben die Russen – und Spionagedienste andere Nationen – sonst noch so belauscht?
Die Affäre ist ein Triumph für Putin, der Deutschland und die EU an diesem Wochenende vorgeführt hat. Er will einen Keil in die deutsche Sicherheitspolitik treiben und in die europäische obendrein. Es wurde ihm leicht gemacht. Putin führe einen "Informationskrieg", sagte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius am Sonntag. Man dürfe ihm nicht "auf den Leim gehen".
In Berlin soll nun die Sicherheit der Kommunikation verbessert werden. Bisher besaß, laut "Spiegel", nicht einmal das Kanzleramt die notwendige Technik für verschlüsselte Videotelefonate. Wenn Olaf Scholz sicher telefonieren wollte, musste er ins Bundesverteidigungsministerium fahren.