VIER ZIELE

"Wir brauchen eine Willkommenkultur für Forschende"

Offener Brief vor der EU-Wahl: Martin Hetzer, Präsident des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), sagt an, was er sich von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wünscht.

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Am Sonntag wählt Europa. In Vorwahlzeiten ist es üblich, Wünsche oder Forderungen an die Politik heranzutragen. Manche schreiben ein Auftragsbuch für Mandatsträger, nutzen den Moment, um zu kritisieren, was nicht gut läuft, und weisen darauf hin, wo die Politik handeln muss.

Auch ich finde, dass die Zeit vor Wahlen ein guter Moment ist, um zu reflektieren, was wichtig ist. Um nach vorne zu schauen, sich Ziele zu stecken. Und ich bin überzeugt, dass es nur zusammen geht. Das bedeutet, den Blick darauf zu richten, was uns als Wissenschafterinnen und Wissenschafter beschäftigt, woran wir arbeiten und wo wir die Unterstützung von und Zusammenarbeit mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft brauchen. Über vier Ziele denke ich besonders nach, wenn ich ein Handlungsprogramm für uns alle umreißen müsste. Und an diesen vier Zielen arbeiten wir auch auf dem Campus des ISTA in Klosterneuburg täglich.

Der Molekularbiologe Martin Hetzer seit 1. Jänner 2023 Präsident  des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg
Der Molekularbiologe Martin Hetzer seit 1. Jänner 2023 Präsident des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg
Helmut Graf

Ziel 1: Abbau von künstlichen Barrieren zwischen wissenschaftlichen Disziplinen

Die komplexen Themen unserer Zeit kümmern sich nicht um künstlich von uns gesetzte Grenzen: Klimawandel, Energiegewinnung oder Pandemien halten sich nicht an einen Lehrkanon. Am ISTA sind wir daher der festen Überzeugung, dass der Schlüssel zur Bewältigung dieser großen Probleme unserer Zeit in den Köpfen unserer klugen Forscher liegt und nicht in starr strukturierten Disziplinen.

Daher gibt es bei uns keinen festgelegten Kanon und keine krampfhaft hochgehaltenen Fachgrenzen. Stattdessen bauen wir an einem Umfeld, das den interdisziplinären Austausch fördert. Wir setzen alles daran, dass sich unsere Forschenden vernetzen und Ideen, Methoden und Theorien aus verschiedenen Bereichen miteinander verbinden.

Mein Wunsch ist es, dass wir die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen im gesamten Wissenschaftssystem weiter intensivieren. Es ist unerlässlich, dass wir über eindimensionales Fachdenken hinauswachsen und die Silos aufbrechen, die oft den Fortschritt behindern. Dies erfordert eine Änderung der Forschungskultur, an der wir alle gemeinsam arbeiten müssen. Es reicht nicht, wenn nur einige wenige diesen Wandel vorantreiben – wir müssen alle an einem Strang ziehen.

Darüber hinaus ist es notwendig, die Förderstrukturen und Anreize anzupassen. Nur so können wir die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Instituten und über Fachgrenzen hinweg wirklich erleichtern. Es bedarf gezielter finanzieller Unterstützung und struktureller Anreize, um interdisziplinäre Projekte zu fördern und zu belohnen. Diese Anpassungen sind essenziell, um die Barrieren, die bisher den Wissensaustausch behindert haben, abzubauen und eine neue Ära der Zusammenarbeit und Innovation einzuleiten. Denn nur gemeinsam, durch die Bündelung unserer Kräfte und die Öffnung unserer Denkweisen, können wir den komplexen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich begegnen.

Wissenschaftliches Interesse muss schon in der schule gefördert werden
Wissenschaftliches Interesse muss schon in der schule gefördert werden
iStock

Ziel 2: Förderung der nächsten Generationen an Forschenden

Die Förderung junger Talente und ihre Ausbildung sind von entscheidender Bedeutung, um den Fortschritt in Wissenschaft und Technologie voranzutreiben. Ohne die besten Köpfe bleiben viele Potenziale ungenutzt. Die österreichische Wissenschaft steht deshalb im globalen Wettbewerb mit der Privatwirtschaft und anderen Forschungszentren, um diese Talente für sich zu gewinnen. Exzellente Studien- und Promotionsbedingungen sind unerlässlich für die Attraktivität einer wissenschaftlichen Laufbahn. Dazu gehören eine hochwertige akademische Ausbildung, ein umfassendes Mentoring und eine gezielte Karriereentwicklung. Diese Faktoren sind entscheidend, um junge Talente für die Wissenschaft zu gewinnen und langfristig zu binden.

Ebenso wichtig ist eine engere Vernetzung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Wir brauchen eine höhere Durchlässigkeit zwischen diesen Bereichen, damit ein Wechsel zwischen den Sektoren zur Selbstverständlichkeit wird und so Ideen und Innovationen fördert.

Am ISTA legen wir großen Wert darauf, nicht nur ein herausragendes Doktoratsstudium an unserer Graduiertenschule anzubieten, sondern unseren Forschenden bereits früh die Möglichkeit zu geben, die Anwendung ihrer Forschung in der Praxis zu erkunden. Dies gelingt beispielsweise durch die Gründung von Start-ups, die ihre innovativen Ideen in marktfähige Produkte und Dienstleistungen umsetzen können. Der xista science park und der Venture Capital Fund xista science ventures bieten dafür den notwendigen Rahmen und die Unterstützung.

Gemeinsam sind wir stärker
Martin Hetzer über Expertise

Doch auch hier gilt: Gemeinsam sind wir stärker. Es bedarf eines unterstützenden Umfelds sowohl in der Region als auch im gesamten Land, um wissenschaftliche Exzellenz in wirtschaftliche Dynamik zu übersetzen. Nur durch eine enge Zusammenarbeit aller Akteure – von Forschungseinrichtungen über Förderinstitutionen bis hin zu politischen Entscheidungsträgern – kann ein Ökosystem geschaffen werden, in dem wissenschaftliche Innovationen gedeihen und in die Wirtschaft überführt werden können. Dieses gemeinsame Bemühen ist essenziell, um Talente und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zur vollen Entfaltung zu bringen und so den Fortschritt in Wissenschaft und Technologie nachhaltig voranzutreiben.

Christian Bertsch (ISTA), Bildungsminister Martin Polaschek, Direktorin Katrin Vohland (Naturhistorisches Museum) und Naturwissenschafterin Magdalena Steinrueck (ISTA) bei der Präsentation des Projekt Vifzack im Naturhistorisches Museum Wien
Christian Bertsch (ISTA), Bildungsminister Martin Polaschek, Direktorin Katrin Vohland (Naturhistorisches Museum) und Naturwissenschafterin Magdalena Steinrueck (ISTA) bei der Präsentation des Projekt Vifzack im Naturhistorisches Museum Wien
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Ziel 3: Früh Neugier auf Wissenschaft wecken

Die Talentförderung beginnt nicht erst mit dem Studium oder der Promotion. Bereits in der Schule müssen Talente frühzeitig erkannt und gefördert werden – besonders jene, die aufgrund familiärer oder finanzieller Umstände möglicherweise benachteiligt sind. Es ist essenziell, eine inspirierende Lernumgebung zu schaffen, die die Neugier auf Wissenschaft weckt und fördert.

Bereits in Schulen müssen Talente rechtzeitig erkannt werden
Martin Hetzer über Nachwuchs

Am ISTA tragen wir mit dem Science Education Programm VISTA aktiv dazu bei, indem wir Lehrkräfte ausbilden und Schülerinnen und Schüler für unsere Forschungsfelder begeistern. Unser Leitmotiv ist es, Wissenschaft erfahrbar zu machen: In unseren Veranstaltungen schlüpfen die jungen Menschen in die Rolle von Forschenden. Sie lernen, wie Wissenschaft funktioniert, und verstehen, dass Experimentieren und auch Fehler wesentliche Bestandteile des wissenschaftlichen Prozesses sind. Diese praxisnahe Herangehensweise soll ihnen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch ihre Begeisterung für die Wissenschaft wecken und sie ermutigen, eigene Fragen zu stellen und Lösungen zu suchen.

Wenn mehr Institutionen im Land die notwendigen Ressourcen erhielten, um mit uns an diesem Ziel zu arbeiten, könnten wir gemeinsam noch viel mehr erreichen. Wir müssen eine Kultur etablieren, die wissenschaftliche Bildung und Forschung als grundlegende Werte in der Gesellschaft verankert und so den Weg für zukünftige Generationen von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern ebnet.

Am ISTA forschen über 80 Forschungsgruppen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Physik, Chemie, Neurowissenschaften, Biologie, sowie Erdwissenschaften und Astrophysik
Am ISTA forschen über 80 Forschungsgruppen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Physik, Chemie, Neurowissenschaften, Biologie, sowie Erdwissenschaften und Astrophysik
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Ziel 4: Eine echte Willkommenskultur für Forschende aus dem Ausland

Talent hält sich nicht an geographische Grenzen. Die internationale Zusammenarbeit ist für den wissenschaftlichen Fortschritt unerlässlich, und wir müssen sicherstellen, dass Österreich ein attraktives Ziel für talentierte Forschende aus aller Welt bleibt. Dazu gehört nicht nur die Bereitstellung von finanziellen Mitteln und hochwertiger Infrastruktur, sondern auch die Schaffung eines offenen und inklusiven Umfelds, in dem sich alle willkommen und geschätzt fühlen.

Es ist wichtig, dass Wissenschaft, Politik und Wirtschaft eng zusammenarbeiten, um die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Forschende stehen nicht nur im Labor und schreiben Studien. Sie möchten Kontakte knüpfen und Freundschaften schließen, viele leben in Partnerschaften, ziehen Kinder groß, haben Sorgen und Hoffnungen, wollen ihre Freizeit gestalten und – wie wir alle – an der Gesellschaft teilhaben.

Gemeinsam können wir sicherstellen, dass sie Österreich als ein Land wahrnehmen, das Innovationen fördert und eine ehrliche Offenheit für die klügsten Köpfe hat, egal woher sie stammen. Indem wir ein Umfeld schaffen, in dem sich internationale Forschende entfalten können, tragen wir nicht nur zum wissenschaftlichen Fortschritt bei, sondern auch zur globalen Reputation Österreichs als ein führender Ort für Forschung und Entwicklung.

Der Molekularbiologe Martin Hetzer ist Präsident des „Institute of Science and Technology Austria! (ISTA) in Klosterneuburg. Zuvor war er Vizepräsident des Salk Institute of Biological Studies in Kalifornien. Schwerpunkt am ISTA: Altersforschung

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