ACHTUNG CHINA!
YouTube-Professor: "Braucht Wissenschaft wirklich Demokratie?"
Mikhail Lemeshko ist in der Sowjetunion geboren. Der theoretische Physiker am ISTA Klosterneuburg prüft das Mantra, dass nur Demokratien erfolgreiche Wissenschaft zustande brächten – und stellt fest: ein Trugschluss!
"Ohne Demokratie gibt es keine Wissenschaft" "Ein Angriff auf Wissenschaft ist ein Angriff auf die Demokratie" – solche und ähnliche Sprüche sind heutzutage in aller Munde, sei es bei Politikern oder Wissenschaftsvermittlern.
Als Wissenschafter verstehe ich die Logik hinter diesen Aussagen. Kritisches Denken ist nötig für den Aufbau und die Entwicklung einer gut funktionierenden Gesellschaft – und Demokratien sind schließlich die erfolgreichsten Organisationsformen davon. Glücklich das Land, in dem das Ende der Geschichte im Sinne von Francis Fukuyama schon angekommen ist!
Andererseits braucht die Wissenschaft politische Freiheit wie die Luft: Wie könnte man ohne Redefreiheit wissenschaftliche Fortschritte gar Durchbrüche erzielen?
Ich befürchte einen Trugschluss Der mögliche Grund: Mehr als zwei Kategorien zu behandeln fällt uns Menschen schwer. Wir lieben klare Gegensätze wie Schwarz oder Weiß. Man ist entweder gut oder böse, links oder rechts, unterstützt das Paket von Impfung, Demokratie, Klimaschutz und Waffen für die Ukraine, oder gar nichts davon. Wenn jemand wenig Vertrauen in die Forschung gesteht, wird er wohl auch Fleisch essen, das Patriarchat genießen und ist wahrscheinlich rechtsextrem.
So einfach ist es glücklicherweise nicht Sagen wir mal so: Es ist ganz klar, warum es einen Zusammenhang zwischen Demokratie und Forschung in den Geisteswissenschaften gibt. Da wird die Forschung eher von den gesellschaftlichen Diskussionen und politischen Doktrinen geprägt, sei es in der Soziologie oder in den Politik- und Geschichtswissenschaften.
Es ist aber viel weniger augenscheinlich, dass dasselbe auch die Naturwissenschaften bedroht. Der naive Glaube, dass die liberale Demokratie einer Diktatur in allen möglichen Sinnen überlegen ist, kann uns – dem sogenannten Westen – einen heftigen Preis kosten.
Heutzutage muss ich unbedingt betonen: Nein, ich bestreite nicht, dass Demokratie die beste Form der Regierung für unsist. Der menschliche Aspekt ist aber nicht der einzige, den man im Wettbewerb mit Diktaturen in Betracht ziehen muss. Vor allem nicht der entscheidende Aspekt, weil für eine Diktatur Menschen eine reproduzierbare Ressource sind und das Glück des Individuums nicht im Mittelpunkt steht.
Die Nichtdemokratie, in der ich mich am besten auskenne, ist die Sowjetunion Ich habe sie als Kind noch erlebt. In der Zwischenzeit las und hörte ich eine Menge von Lebensgeschichten sowjetischer Naturwissenschafter. Ich war überrascht. Nicht wenige von denen, die inzwischen berühmte Physiker, Chemiker oder Mathematiker geworden sind, hätten angeblich in einer freien Gesellschaft etwas anderes studiert: Philosophie oder Geschichte, Psychologie oder Ökonomie.
In der Sowjetunion war es aber für einen integren und vernünftigen Menschen nicht möglich – wegen der vollständigen Ideologisierung sämtlicher geisteswissenschaftlicher Bereiche. Es gab keine Philosophie außer jener des Marxismus-Leninismus, die Interpretation von historischen Fakten wankte mit der Parteilinie, die Wirtschaft lief nach dem Fünfjahresplan, die Psychiatrie wurde für die Marginalisierung und Folterung von Dissidenten missbraucht.
Deswegen sind damals Naturwissenschaften zu einem Reich der Freiheit für all jene geworden, die intellektuell arbeiten wollten. Man konnte ernsthaft über Theoreme, Elementarteilchen oder Moleküle reden ohne Rücksicht auf die Beschlüsse des letzten kommunistischen Parteitages. Ausnahmen gab es natürlich: die Quantenmechanik hat man in den 1930er Jahren als zu wenig materialistisch betrachtet; die absurden Thesen von Trofim Lyssenko – von Stalin gefördert – hat die sowjetische Biologie fast zerstört. Aber im Großen und Ganzen war die naturwissenschaftliche Forschung eine Fluchtburg für jene, die sich vom System geistig verstecken und nicht ständig lügen wollten. Deswegen ist die MINT-Ausbildung in den Staaten der ehemaligen UdSSR noch weltweit wettbewerbsfähig, im krassen Gegensatz zu den meisten geisteswissenschaftlichen Fächern.
Trotz einer kurzen Phase der Demokratisierung in den 1990er Jahren („Wegen der…“ würden viele Russen sogar sagen) ist das heutige Russland sonst nicht mehr auf der Forschungskarte der Welt zu finden.
Auch Nazi-Deutschland war wissenschaftlich nicht völlig schwach Obwohl die nationalsozialistische Gewaltherrschaft erst den Exodus von Geistesgrößen an US-amerikanische Universitäten auslöste und so wesentlich dazu beitrug, diese Unis an die Weltspitze zu bringen – vor dem 2. Weltkrieg waren die USA im Vergleich zu Deutschland und Österreich eher eine Forschungsprovinz – gab es auch im Dritten Reich extrem fähige Wissenschafter. Sogar unter den ausgeprägten Nazi-Unterstützern gab es sie, zum Beispiel Johannes Stark und Philipp Lenard (beide schon damals Nobelpreisträger) oder Pascual Jordan (dem seine Verwicklung in den Nationalsozialismus vermutlich einen Nobelpreis gekostet hat). Zu politischen Ansichten Werner Heisenbergs – des Leiters vom deutschen Atombomben-Programm – gibt es auch einige Fragen.
China ist ein Paradebeispiel für eine Nicht-Demokratie, in der Naturwissenschaften in den letzten Jahren aufgeblüht sind. Da kann ich auch aus meiner eigenen wissenschaftlichen Erfahrung reden: Vor etwa 15 Jahren war chinesische Forschung in den Bereichen, mit denen ich vertraut bin, also Quantenphysik, Optik, Festkörper- und chemische Physik, eher sekundär. Sie hat hauptsächlich versucht nachzumachen, was schon vorher in den USA und Europa gemacht worden war, plus minimale Fortschritte darüber hinaus. Heutzutage sind chinesische Universitäten nicht nur weltweit wettbewerbsfähig, sondern sie dominieren einige Bereiche der Physik. Das verdankt China zum Teil seinem Tausend-Talente-Programm, mit dem die weltweit erfolgreichsten Chinesen gesucht und viele zurück nach China gelockt wurden.
Demokratie und Naturwissenschaft haben also oft wenig miteinander zu tun Was nicht bedeutet, dass wir nicht beide für unsere Gesellschaft brauchen. Es wäre aber naiv, in unserer Begeisterung für Demokratie und die "westlichen Werte" weiter auf die nicht-demokratischen Länder herabzublicken, während sie uns wissenschaftlich überholen.
Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Nach seinem Doktorat am Fritz-Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin forschte der gebürtige Russe an der Harvard Universität in den USA. Seit 2014 ist er am ISTA in Klosterneuburg und erforscht atomare, molekulare und optische Physik. Auf seinem YouTube-Kanal Prof. Lemeshko beantwortet er Alltagsfragen aus Physik und Naturwissenschaft