selbsthilfe
Bekommt man mit der "Pacing-Methode" Long Covid in den Griff?
Für Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom gibt es bis heute keine befriedigende medizinische Therapie. Jetzt greifen Betroffene zur Selbsthilfe. Das gibt es dazu zu wissen.
Zehn bis 20 Prozent aller an Covid erkrankten Menschen leiden auch Monate und manchmal sogar Jahre nach der Infektion an gesundheitlichen Langzeitfolgen ihrer Erkrankung. Diagnose: Long Covid. Die Medizin steht dem bis heute relativ ratlos gegenüber – nicht nur, aber auch, weil die Symptome und Verläufe dieser Krankheit extrem vielschichtig sind. In Österreich, so wird geschätzt, gab bzw. gibt es bisher etwa 100.000 Long-Covid-Patienten.
Krankheits-Management statt Heilung Da die Wissenschaft bis heute keine passenden Behandlungs-Ansätze oder gar Therapien gegen Long Covid gefunden hat, gibt es mittlerweile zahlreiche Selbsthilfegruppen, die im eigenen Interesse nach Möglichkeiten suchen, ihr Leiden wenigstens zu lindern und den Alltag für die Betroffenen und ihr Umfeld erträglicher zu gestalten. Eine der vielversprechendsten Strategien ist dabei das so genannte Pacing, eine Technik des Energiemanagements, die Patienten wirksam dabei unterstützt, mit ihrer Erkrankung zurecht zu kommen.
In dem neuen Buch "Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom lindern" erklären Andrea Brackmann und Katharina Jänicke, wie man als Betroffene:r sein Leben mittels Pacing wieder in den Griff bekommen kann. Die beiden Autorinnen wissen genau, wovon sie schreiben, denn beide leiden seit vielen Jahren an einem Chronischen Erschöpfungssyndrom. Ihr Buch bietet nicht nur eine gute Zusammenfassung des aktuellen Standes der Forschung was Ursachen, Auswirkungen und mögliche Therapieansätze für diese Krankheitsbilder betrifft. Der Hauptteil widmet sich einer Anleitung zur Selbsthilfe mittels Pacing. Newsflix beantwortet die wichtigsten Fragen zur aktuellen Long Covid-Situation und zur Pacing-Methode:
Was ist Long Covid?
Long Covid ist ein Überbegriff für gesundheitliche Langzeitfolgen, die nach einer Infektion mit dem Coronavirus vorhanden sein können. Präziser spricht man von Long Covid, wenn über eine Zeitraum von vier bis acht Wochen nach der akuten Corona-Infektion noch deutliche Beschwerden bestehen. Werden diese chronisch und bestehen über Monate oder gar Jahre, spricht man von Post Covid. Allerdings ist auch für diese Krankheitsphase der Begriff Long Covid mittlerweile in den allgemeinen Sprechgebrauch übergegangen. Es gibt zahlreiche unterschiedliche Symptome, die allesamt bei Long Covid auftreten können, aber nicht zwingend müssen. Die Zahl der unterschiedlichen Symptome liegt, je nach Definition, zwischen 20 und 100.
Und was ist das Chronische Erschöpfungssyndrom?
Wie der Name bereits sagt, eine krankhafte Form chronischer Erschöpfung, die viele verschiedene Ursachen haben kann, aber so gut wie immer von Entzündungen im zentralen Nervensystem ausgeht. Diese Form der Erkrankung wird oft auch Chronisches Fatigue-Syndrom (Fatigue ist die englischsprachige Bezeichnung für Erschöpfung bzw. Ermüdung) oder Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bezeichnet. Auch hier gibt es eine Unzahl an unterschiedlichen Symptomen, die auftreten können, aber nicht müssen.
Weshalb werden diese beiden Krankheiten zusammengefasst betrachtet?
Weil beide Erkrankungen in der Regel nach der Infektion mit einem Virus auftreten. Vereinfacht könnte man die beiden Krankheitsbilder daher auch als "postvirale Syndrome" zusammenfassen.
Welches sind die häufigsten Symptome dieser Erkrankungen?"Die wesentlichste Gemeinsamkeit beider Syndrome besteht in einer schwerwiegenden, lähmenden körperlichen und mentalen Erschöpfung, die durch jegliche Aktivität verstärkt werden kann", so die Autorinnen von "Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom lindern". Mit normaler Müdigkeit habe diese Form der Erschöpfung nichts gemein: "Manche Patienten können das Haus kaum noch verlassen, müssen viel liegen und brauchen Hilfe im Haushalt. Einige sind ans Bett gefesselt und auf Pflege angewiesen." Das könne ältere Menschen ebenso betreffen wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Dazu kommen Kopf- und Gliederschmerzen, grippeähnliche Beschwerden, Übelkeit, Schwindel, Denk- und Schlafstörungen, erhöhter Puls oder Herzstolpern.
Was weiß die Wissenschaft über diese Art von Erkrankungen?
Erschreckend wenig, wie es scheint. Zwar weiß man schon lange, dass es diese postinfektiösen Folgeerkrankungen gibt, sie wurden bisher jedoch kaum erforscht. Erst im Zuge der Covid-19-Pandemie hat die Häufigkeit derartiger Erkrankungen stark zugenommen, wodurch die medizinische Forschung befeuert worden und auch die mediale Aufmerksamkeit für diese Syndrome gestiegen ist.
Wie viele Menschen sind von Long Covid und Chronischem Erschöpfungssyndrom betroffen?
Die Zahlen dazu sind mit Vorsicht zu genießen. Es muss davon ausgegangen werden, dass bei zahlreichen Patienten die Symptome ihrer Erkrankungen nicht mit Corona oder dergleichen in Zusammenhang gebracht werden, weil diese oft sehr diffus sind, und es deshalb häufig zu Fehldiagnosen oder überhaupt keinen Diagnosen kommt. Die Selbsthilfeorganisation "Long Covid Austria" geht jedenfalls davon aus, dass bisher mindestens 100.000 Menschen in Österreich an Long Covid gelitten haben oder nach wie vor leiden. Für Deutschland schätzen die Autorinnen von "Long Covid und Chronisches Erschöpfungsysndrom lindern", dass es etwa fünf Millionen Long-Covid-Patienten sowie weitere 250.000 bis 400.000 Menschen mit Chronischem Erschöpfungssyndrom gibt.
Wie leicht erhält man eine Diagnose?
Es gibt generell nur sehr wenige Anlaufstellen für Patienten, bei denen genügend Erfahrung und Expertise für diese Erkrankungen vorhanden ist, weshalb diese Stellen meist hoffnungslos überlaufen sind. Aufgrund der Vielfalt der Symptome muss zuerst eine stichhaltige Diagnose gefunden werden, was häufig viel Zeit in Anspruch nimmt. Manche Patienten erhalten oft erst nach zwei oder drei Jahren (!) einen zutreffenden Befund.
Was kann die Medizin tun?
Die exakten Ursachen und Entstehungsmechanismen postviraler Syndrome sind bis heute nicht geklärt. Aufgrund der Vielfalt an Symptomen und Krankheitsbildern müssen medizinische Behandlungen individuell auf den Patienten abgestimmt werden. Und da die Ursachen dieser Krankheiten bis jetzt nicht bekannt und folglich auch nicht therapierbar sind, können bislang nur einige der auftretenden Symptome gelindert werden.
Selbsthilfe statt Therapie: Die Pacing-Methode
Was ist mit Pacing gemeint?
"Pacing ist in diesem Zusammenhang im Sinne von Selbstmanagement zu verstehen", so die Buchautorinnen. "Die Betroffenen lernen, eigenständig mit ihrer begrenzten Energie und anderen Symptomen der Erkrankung umzugehen." Konkret geht es darum, die eigenen Energieressourcen zu schonen und Überbelastungen zu vermeiden.
Worum geht es dabei?
"Pacing sollte idealerweise Teil eines medizinischen Versorgungskonzepts sein. Es ist ein hilfreiches Werkzeug, um Aktivitäten zu dosieren, das Energielevel zu erhalten und die Symptome und Beschwerden zu vermindern", heißt es im Buch. Durch das Pacing würden Betroffene lernen besser einzuschätzen, welche körperlichen, mentalen und emotionalen Überanstrengungen bzw. Aktivitäten welche Reaktionen im Organismus auslösen. Ziel sei, seine individuelle Balance zwischen Aktivitäten und Pausen zu finden, indem man gut auf den eigenen Körper hört und möglichst immer innerhalb seiner Energiereserven bleibt.
Wie funktioniert das?
Vereinfacht gesagt, indem man seine individuellen Belastungsgrenzen erforscht, erkennt und sich in der Folge entsprechend verhält. Nach der Erfahrung der beiden Autorinnen, die selbst unter Chronischem Erschöpfungssyndrom leiden, sei es auf diese Art möglich, zuerst seinen Zustand zu stabilisieren, das Aktivitätslevel danach zu halten und allmählich ganz langsam und vorsichtig zu steigern, ohne in eine Überforderung zu schlittern. Wie man das individuell am besten umsetzt, welche Tricks einem helfen können, den Alltag zu erleichtern und die Erschöpfung in Schach zu halten und wie man seinen eigenen Zustand möglichst objektiv einzuschätzen lernt, erklären die Autorinnen anhand zahlreicher Beispiele, Listen und Checks ausführlich.
Und wie hält man seine Emotionen in Zaum?
An Long Covid oder einem Chronischen Erschöpfungssyndrom zu erkranken, ist ein radikaler Einschnitt ins Leben, wie man es bislang gewohnt gewesen ist. Entsprechend heftig sind auch die emotionalen Auswirkungen, die diese Krankheiten mit sich bringen. Auch darauf gehen die Autorinnen ein, indem sie diverse Strategien vorschlagen, die helfen sollen, die emotionale Ebene dieser Erkrankung zu managen und so das Leben mit diesen Syndromen neu zu lernen.
"Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom lindern: Das Pacing-Selbsthilfebuch" von Andrea Brackmann und Katharina Jänicke, Klett-Cotta, € 17,50
Informationen für Betroffene von Long Covid gibt es auch auf der Homepage der Selbsthilfegruppe Long Covid Austria.