Kopfnüsse
"Brutal zach": Wie sich ÖVP und SPÖ ins Aus sondieren
Fast sechs Wochen nach der Wahl liegt eine neue Regierung außer Rufweite. Bei den Sondierungen wird um des Kaisers Bart gestritten. Das Verständnis in der Bevölkerung dafür erodiert. Das läuft hinter den Kulissen.
Eine neue Regierung bis Weihnachten? Das lag für viele vor ein paar Wochen gerade noch im Bereich des Erlaubten. Ein Kompromiss zwischen "Flotte Lotte" und "nur ned hudeln". Jetzt müssen wir froh sein, wenn Karl Nehammer und Andreas Babler bis zum Christkind geklärt haben, ob sie sich überhaupt leiden können.
Mit KI-Stimme: Wie sich ÖVP und SPÖ ins Aus sondieren
Was ist eigentlich das genaue Gegenteil von Euphorie? Vielleicht wäre das passende Wort dafür "Sondierungsgespräch". Diese sehr österreichische Frühform des Verhandelns, ohne zu verhandeln, erlebt derzeit eine neue Hochblüte. Sondierungsgepräche sind noch keine Regierungsverhandlungen, aber wenn man sich auf der Straße begegnet, stellt man sich auch nicht mehr das Haxl.
Da stehen wir jetzt. Und das schon recht lange.
Das Problem von Sondierungsverhandlungen: Sie haben kein Ablaufdatum. Es gibt immer etwas zu sondieren. Das geht gefahrlos, es wird ja noch nicht verhandelt, und wenn sich nicht einer der Gesprächspartner aufrafft und auf eine Entscheidung drängt, bleibt das noch einige Zeit so. Der Bundespräsident kann nach seiner Bandscheiben-Operation getrost auf Kur gehen, er versäumt nichts. Und das bisschen kann sein Hund auch erledigen.
Wer sich nicht mehr daran erinnert: Am 29. September fanden in Österreich Nationalratswahlen statt. Das ist jetzt auch schon wieder 40 Tage her. Nicht, dass nichts passiert wäre, seitdem auf der Welt, aber da kann man die Erdkugel noch so oft drehen und wenden, eine neue Regierung für Österreich wird einem da nicht ins Blickfeld kommen. Was schade ist, es gäbe genug zu tun.
Die FPÖ wurde bei der Wahl stimmenstärkste Partei, sie hat das seitdem das eine oder andere Mal erwähnt. Aber mit ihr wollte keiner sondieren. Der Bundespräsident fragte mehrfach nach, aber in diesem Fall redeten alle nach der Wahl wie vor der Wahl. Zumindest für den Augenblick. Vielleicht bekam es der Bundespräsident deshalb mit den Bandscheiben.
Am 22. Oktober erteilte Alexander Van der Bellen schließlich Karl Nehammer den Auftrag zur Bildung einer Regierung. Da war die Wahl auch schon über drei Wochen her. Man kann aus dem heutigen Blickwinkel heraus berechtigterweise die Frage stellen, ob es ein paar Ehrenrunden weniger in der Hofburg nicht auch getan hätten. Das ging doch ziemlich aufs Kreuz.
Keine zwei Tage später trafen sich die Teams von Karl Nehammer und Andreas Babler dann zum ersten Mal im Palais Epstein. Zwei Wochen später lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Der Geschwindigkeitsrausch hat inzwischen eine gewisse Ausnüchterung erfahren.
Das lag einmal an den Herbstferien, die sich einer zügigen Erstellung eines Regierungsprogrammes in den Weg stellten. SPÖ und ÖVP erzeugten das Bild, zwischen dem Nationalfeiertag und Allerheiligen würde es im Hintergrund nur so wuseln, aber das war ein Märchen. Sogar ein zweiter Verhandlungstag wurde erfunden. Die Schere zwischen Fiktion und echtem Leben begann aufzugehen.
Das Epstein ist ein recht düsterer Schuppen. Ich weiß das, denn als Frischverliebte gaben Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache hier im Dezember 2017 ihre Einstands-Interviews als neue Koalitions-Buddies und das gar nicht wenigen Medien gleichzeitig. Der ÖVP-Kanzler und der FPÖ-Vizekanzler saßen da und schilderten ihre neue gemeinsame Weltsicht, dann kam das nächste Reporterteam und der Vorgang wiederholte sich.
Aus dieser Zeit weiß ich, dass es im Epstein Zimmer ohne Fenster gibt und selbst die Zimmer mit Fenster lassen nur wenig Sonnenlicht durch.
Es ist also wenig wahrscheinlich, dass sich Nehammer und Babler in der vergangenen Woche am Verhandlungstisch ihre Tiefenbräune zugezogen haben, außer es gehört eine Sonnenbank zur Raumausstattung. Am Dienstag nach den Herbstferien sahen sie jedenfalls aus, als hätten sie ihre Gesichter in den Frühstückskakao getaucht. Jeder für sich natürlich, es wird ja noch sondiert und nicht verhandelt.
Das erste Zusammentreffen und die darauffolgende Erschöpfungspause hatten abseits der Kakaofrage ein neues Problem aufgeworfen: was passiert hier eigentlich? Zu Beginn war noch euphorisch von Regierungsverhandlungen die Rede. Viele dachten, wenn der Bundespräsident einen Auftrag zur Bildung einer Regierung erteilt, dann wird auftragsgemäß über die Bildung einer Regierung verhandelt. War aber nicht so.
Es waren aber auch keine Koalitionsgespräche, die hier stattfanden, denn die beiden Parteien wissen noch nicht, ob sie sich dafür ausreichend genug mögen. Genau genommen fanden auch keine Sondierungsgespräche statt. Man traf sich einfach so, geplant zufällig. Eher beiläufig.
Das erste offizielle Sondierungsgespräch fand also erst am Dienstag dieser Woche statt, am Mittwoch gab es einen Nachschlag. Im Nachgang des Nachschlags entnahm ich einigen Medien, dass die Sondierungsgespräche "Fahrt aufgenommen" hätten. Mein Eindruck ist das nicht. Diese Fahrt scheint lediglich zu einer Wühlkiste geführt zu haben, aus der neue Begrifflichkeiten entnommen wurden und das ohne viel Genierer.
Vor eineinhalb Wochen waren die Sondierungsgespräche, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Sondierungsgespräche waren, "wertschätzend" verlaufen. Sagten alle. Nun wurden die Sondierungsgespräche, die tatsächlich Sondierungsgespräche genannt wurden, als "konstruktiv" empfunden. Sagten alle. Und zwar ÖVP und SPÖ, streng getrennt voneinander. Weiter in der Tiefenbohrung war die Sondierung nicht gelangt. Was will man auch mehr erwarten von neun Stunden?
Am Dienstag trat zunächst der Kanzler vor die Kameras und sprach von "konstruktiven" Verhandlungen und dann trat der SPÖ-Vorsitzende vor die Kameras uns sprach von "konstruktiven" Verhandlungen. Nach dem Mittwoch-Treffen begnügten man sich mit einer gemeinsamen Aussendung. In der hieß es, die Verhandlungen seien "konstruktiv" verlaufen. Wissen wir das auch.
Offiziell wird sanfter Optimismus versprüht. Man sehe jedenfalls einen Sinn in weiteren Gesprächen, sagte Andreas Babler. "Wir wollen große Lösungen, keine Minimalkompromisse." Inoffiziell liegt im Moment beides in so weiter Ferne wie noch nie.
Wer genauer aufpasste, konnten den Stillstand hören, lesen und riechen. Für den kommenden Montag wurde zu einer neuen Gesprächsrunde geladen. Dabei wolle man den "weiteren Fahrplan" klären. Wie schon vor zwei Wochen. Die "Involvierung anderer Parteien" besprechen. Wie schon vor zwei Wochen. Über dieselben Themen reden wie vor zwei Wochen, Migration, Sicherheit, Inflation, Wohnen. Weiter ist man noch nicht gekommen.
Aus den Sondierungsteams ist auch zunehmend Frustration zu vernehmen. "Brutal zach" sei es und die "Detailarbeit ermüdend". Stundenlang werde über Kapitel-Überschriften geredet und gefeilscht. Die sind wichtig, denn aus den Überschriften werden die Untergruppen abgeleitet. Sieben bis acht sollen es werden, bisher ist noch keine einzige gebildet.
Es soll lediglich eine Expertengruppe zu den Budgetnöten eingesetzt worden sein. Wer dabei mittut, ist geheim. Aber bis Ende der Woche sollen erste Ergebnisse vorliegen. Wovon auch immer.
Auch wer die Untergruppen leiten soll, ist unklar. Jeweils eine Person aus jeder Partei, das ist fix, aber auch hier wurde noch nichts festgelegt. SPÖ und ÖVP haben einen Teil der Verhandler für die Untergruppen auf Stand-by gestellt. Sie alle müssen warten wie Hengste in der Koppel, die nicht wissen, wo ihr nächstes Rennen stattfindet. Und ob überhaupt.
Die Untergruppen sind bei Regierungsverhandlungen der Maschinenraum. Hier werden die einzelnen Themenfelder besprochen und erarbeitet, jede Einigung wird an die Steuerungsgruppe, also an die Chefverhandler, weitergereicht. Auch wenn sich kein Kompromiss finden lässt, muss das Spitzenteam ran. Stück für Stück entsteht so ein Koalitionspakt.
Davon ist man Meilen entfernt. Die ÖVP will unbedingt eine Untergruppe zum Thema "Standort", sie nervt aber die SPÖ mit ihrer Betonung des Fachbereiches "Sicherheit". Umgekehrt wollen die roten Verhandler unbedingt eine Untergruppe zu "leistbarem Leben". Alles und nichts bedeute so eine Überschrift, mokieren sich die Türkisen.
Ewig werde über solche Befindlichkeiten debattiert, ist aus dem Umfeld der Verhandler-Teams zu hören, immer in der großen Runde. Auch das Wort "Geschwafel" fällt.
Können wir uns solche Kindereien noch lange leisten? Um uns herum und im Rest der Welt häufen sich die politischen Felsstürze und in Österreich wird darüber verhandelt worüber verhandelt wird?
In Gemengelage hinein passierte in dieser Woche nämlich einiges und das innerhalb von 24 Stunden, diesmal nicht allein in Österreich. In den USA wurde Donald Trump in der Nacht zum Mittwoch erneut zum Präsidenten gewählt. Ihn vorzustellen und die Folgen seiner Ernennung für die Welt und Europa zu schildern, wäre wie Eulen in die Hofburg tragen.
Schon am Dienstag hatte der Fiskalrat die Sondierer aufgeschreckt. Es sei in Österreich für heuer und für das nächste Jahr mit einem noch höheren Budgetdefizit zu rechnen, 2024 werde es 3,9 Prozent betragen, 2025 dann sogar 4,1 Prozent. Den Wahlkampf hatte die Regierung noch mit der Erzählung eines Defizits von 3,0 Prozent bestritten und sah kein Problem am Horizont.
Jetzt zeichnet sich am selben Horizont ein Sparpaket ab. Fiskalratschef Christoph Badelt sprach von mindestens 4,4 Milliarden Euro, die nun gefunden werden müssten, das ist jedenfalls mehr als sich mit einem Lottosechser erzielen lässt. Das Problem dabei: Badelt hatte mit seinen Einschätzungen zuletzt in der Regel recht.
Noch ehe die Sondierungsteams die Taschenrechner anwerfen konnten, passierte Deutschland. Hier werkt seit drei Jahren eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP, sie zerbrach am Mittwoch spektakulär, fast theatral. Eine Ampel aus drei Parteien, das ist aber auch – unter anderer Farbgebung – der Plan für Österreich. Ihm haftet nun der Makel der politischen Kurzatmigkeit und des Scheiterns an.
ÖVP und SPÖ haben nun den kommenden Montag als Hoffnungstermin deklariert. Da treffen sich die Verhandlungsteams wieder und dann soll es wirklich ans Eingemachte gehen. "Schau’ ma", wie es ÖVP-Klubobmann August Wöginger unter Aufbringung von geringer Euphorie ausdrückte.
Gleich am Dienstag soll es den nächsten Sondierungstermin geben. Aber er wackelt. ÖVP und SPÖ überlegen, ob sie den Tag nicht für interne Beratungen nutzen wollen, um dann am Mittwoch weiterzureden. Oder auch nicht.
Ich wünsche einen stabilen Freitag. Passieren muss diese Woche nichts mehr, es hat schon gereicht. Bis in einer kleinen Weile!
Mit KI-Stimme: Orbán, Van der Bellen und ein seltsames Supermarkt-Erlebnis
Alle Wahl-Kopfnüsse
- Folge 1: So wurde ich für den Kanzler zu einer KI
- Folge 2: Bestäubungs-Staberln und ein Wasserträger
- Folge 3: "Natürlich hat er das, ich bin kein Vollidiot"
- Folge 4: Zwischen starker Mitte und Impotenz
- Folge 5: So führt uns der Kanzler in Wien aufs Glatteis
- Folge 6: Die Volkspartei und ihr Tom Cruise von Kagran
- Folge 7: Brandherde, Brandreden und eine Brandmauer
- Folge 8: Hurra, Hurra, der Bildungsminister ist da!
- Folge 9: Halleluja, endlich wird der Wahlkampf göttlich
- Folge 10: Fasst Euch doch an die eigene Nase!
- Folge 11: Und Ihr wollt echt eine Koalition eingehen?
- 11 Folgen in einer Story gesammelt
- Folge 12: Geben Gummistiefel dem Wahlkampf Gummi?
- Folge 13: Das Hochwasser und ich, aber wo ist der Kanzler?
- Folge 14: Wieso ein Alarm in Österreich nicht einfach ein Alarm ist
- Folge 15: Bitte macht jetzt keine Instagram-Show daraus!
- Folge 16: Warum die Politiker den Gummihammer auspacken
- Folge 17: Wie sich die Volkspartei beim Geschlecht irrte
- 17 Folgen in einer Story gesammelt
- Folge 18: Verstolpert die FPÖ auf den letzten Metern den Wahlsieg?
- Folge 19: So wurde die Elefantenrunde zur "Nette Leit Show"
- Folge 20: Volkskanzler gegen Volkspartei-Kanzler: Ich war dabei
- Folge 21: Jetzt liegt das Wahlergebnis endgültig in den Sternen
- Folge 22: Es ist alles sooo furchtbar, bitte mehr davon!
- Folge 23: Wird Babler von Medien runtergeschrieben? Unsinn, aber ...
- Folge 24: Auf den letzten Metern wurde der Wahlkampf "Oasch"
- Folge 25: Morgen um diese Zeit ist die heutige Wahl schon von gestern
- Folge 26: Der Tag, an dem die Brandmauer in Flammen aufging