Neuerscheinung
Ciao Carbonara! Wieso die Kult-Pasta gar nicht aus Italien kommt
In seinem neuen Buch räumt ein italienischer Historiker mit den kulinarischen Mythen seines Heimatlandes auf - und sorgt dort damit für Entsetzen.
Spaghetti Carbonara? In den USA erfunden. Bolognese? Ein reines Touristenessen, in Italien unbekannt. Tiramisu? Ein kulinarisches Kind der Nachkriegszeit. Und der Parmesan? Wurde ebenfalls von nach Amerika ausgewanderten Italienern re-importiert, nachdem er in Italien längst in Vergessenheit geraten war – sagt zumindest der in Parma (sic!) lehrende Universitätsprofessor Alberto Grandi – und bringt damit viele seiner Landsleute zur Weißglut.
Kulinarischer Kulturkampf In seinem neuen Buch "Mythos Nationalgericht – Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche", das dieser Tage in deutscher Übersetzung bei HarperCollins erschienen ist, lässt der 56-jährige Akademiker keinen kulinarischen Stein auf dem anderen und erschüttert damit das gastronomische Selbstverständnis seines Heimatlandes nachhaltig. Viele sehen in ihm einen Nestbeschmutzer, für Kulinarik-Traditionalisten und die aktuelle nationalkonservative Regierung in Rom ist er der Antichrist schlechthin.
Vieles ist jünger als gedacht Dabei macht Alberto Grandi, der an der ökonomischen Fakultät in Parma lehrt und Spezialist für Unternehmens- und Ernährungsgeschichte ist, nichts anderes, als den behaupteten Traditionen hinter vielen Produkten und Gerichten mit wissenschaftlicher Akribie auf den Grund zu gehen. Und das Ergebnis seiner Bemühungen ist in vielen Fällen das selbe: Der Ursprung der allermeisten Produkte sowie zahlreicher Gerichte, die heute als typisch italienisch gelten, liegt in der Nachkriegszeit, oft sogar erst in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Tradition als Verkaufsargument Statt jahrhundertealter Traditionen seien es sehr häufig moderne Marketing-Überlegungen, die hinter einem Produkt stehen. Und in einem Land, dass sich mittlerweile auf seine kulinarische Tradition und die Einzigartigkeit seiner Küche mehr einbildet, als auf seine wissenschaftlichen oder technologischen Hervorbringungen, ist solch eine Behauptung ein Sakrileg.
Antrag bei der UNESCO Welchen Stellenwert Italiens aktuelle Regierung, angeführt von der weit rechts stehenden Fratelli d'Italia-Politikerin Giorgia Meloni, der cucina italiana beimisst, beweist nichts besser als ein 2023 eingebrachter Antrag bei der UNESCO, die Italienische Küche an sich als immaterielles Kulturerbe anzuerkennen. Die Entscheidung darüber soll 2025 getroffen werden.
Tiramisu-Task Force Und Italiens Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, im Übrigen der Schwager von Regierungschefin Giorgia Meloni, hat angeregt, eine Task Force ins Leben zu rufen, die die Qualitätsstandards in italienischen Restaurants auf der ganzen Welt überwachen soll. Als Begründung nannte der Minister, es solle so verhindert werden, dass Rezepte "falsch" zubereitet oder "nicht italienische Zutaten" verwendet würden. Uni-Professor und Buchautor Alberto Grandi dazu in der "NZZ": "Und was passiert, wenn man einen Koch erwischt, der nicht 'richtig' kocht? Soll man ihm die Pfannen wegnehmen?"
Eine Form von Hybris In einem Interview mit der "Financial Times" lässt der Akademiker kein gutes Haar an den aktuellen Tendenzen, wie sein Heimatland seine kulinarischen Traditionen instrumentalisiert: "Die italienische Küche nimmt eine identitätsstiftende Dimension an, die jede Vernunft übersteigt. Es kommt zu pawlow'schen Reaktionen, die keinen Sinn ergeben. Ich verstehe nicht, warum mich viele Leute angreifen, da ich die Qualität italienischer Lebensmittel oder Produkte nicht in Frage stelle. Ich rekonstruiere die Geschichte dieser Gerichte historisch und philologisch korrekt. Und meine Studien haben gezeigt, dass viele Zubereitungen aus den letzten 50 bis 60 Jahren italienischer Geschichte stammen und vielfach von Nordamerika aus beeinflusst wurden."
Gastro-Nationalismus statt Blick in die Zukunft Italien tue sich mit der heutigen Welt schwer, weshalb es sein Heil in einer konstruierten Vergangenheit suche, die sich auf den Tourismus und eben die Kulinarik reduziere. Aber dieser "Gastro-Nationalismus" schade dem Land, so Historiker Grandi in der "NZZ": "Die Vorstellung, Italien könne nur von einer Käsesorte oder vom Tourismus leben, ist eine Illusion." Er möchte lieber in einem modernen Land leben, so der Akademiker. Weshalb er sich erlaube, mit seinen Forschungen zu belegen, "dass der Weihnachtsmann nicht existiert", über sich Grandi in einer Metapher. Damit nehme man den Dingen zwar ihre Magie, aber das sei verkraftbar – "die Kinder erhalten die Geschenke ja auch so."
Die wichtigsten Thesen von Professor Grandi Mit welchen Thesen und Forschungen der streitbare Aufklärer seine Landsleute so in Rage bringt und was für ihn "wirklich innovative" italienische Produkte sind – hier die wichtigsten Punkte aus Alberto Grandis Buch:
Wann die "italienische Küche" in ihrer heutigen Form entstanden ist
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Italien von einem bettelarmen Staat, in dem Landwirtschaft vorherrschte, zu einer Industrienation wurde und dank der US-Gelder aus dem Marshallplan plötzlich Zugriff auf Lebensmittel hatte, die zuvor nur einer sehr kleinen Oberschicht vorbehalten gewesen sind.
Weshalb die Cucina Italiana zu einem nationalen Mythos geworden ist
"Der Mythos der italienischen Küche ist in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden", so Grandi in seinem Buch. "Als das rasante wirtschaftliche Wachstum nach und nach stagnierte, begann Italien die Großindustrie als Entwicklungsmodell infrage zu stellen und schlug, verglichen mit anderen Industriestaaten, einen ganz eigenen Weg ein. Er bestand darin, kleine Firmen und Industriedistrikte sowie die angeblichen Spitzenleistungen im Bereich der Gastronomie und des Weinbaus als zentrale Wachstumsfaktoren aufzuwerten – und verzichtete auf eine Industriepolitik, die auf Forschung und Investitionen, Prozessoptimierung und neue Energiequellen setzte."
Wie die Italiener ihr Heil in der Küche suchten
"Der Zukunft, die bis dahin Faszination und Begeisterung hervorgerufen hatte, sah man ab den 1970ern ängstlich entgegen. Von da nahm die Erfindung der Vergangenheit und Tradition ihren Ausgang, als Zufluchtsort und Rettungsanker in einer Welt, die zu kompetitiv und feindlich geworden war, um ihr mit Offenheit zu begegnen. Mochte der Wettbewerb im Bereich Innovation viel zu hart geworden sein, mit seiner Geschichte war Italien nur schwer zu toppen. Und ein Bestandteil dieser wiederbelebten Geschichte war die gute Küche, auch wenn die italienische Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg aus Mangelernährten und Hungernden bestanden hatte."
Wo und wie die Spaghetti Carbonara wirklich entstanden sind
Nach Alberto Grandis Forschungen in Rom in der unmittelbaren Nachkriegszeit: "Sie waren ganz klar ein amerikanisches Gericht, zu- mindest was die Zutaten betraf, die von den amerikanischen Besatzungstruppen geliefert wurden. Ich würde behaupten, dass sie nichts anderes sind als ein typisch amerikanisches Frühstück, nämlich Eier mit Speck, dem man Nudeln hinzufügte."
Warum in Italien Spaghetti Bolognese nicht als Spezialität gelten
Grandi: "Was zählt, sind die Konsumentinnen und Konsumenten, die einem Produkt die Treue halten. Sind die berühmten Spaghetti Bolognese, die in allen italienischen Restaurants dieser Welt gegessen werden, außer in Italien, eine typisch italienische Spezialität? Ein Deutscher oder eine Engländerin wird sagen: Was könnte typischer italienisch sein als ein Teller Spaghetti mit dem klassischen Ragù? Leider gibt es das Gericht in Italien aber nicht. Weil es niemals jemand bestellt hat außer amerikanische Touristen, die dafür unweigerlich Häme ernten. Es ist die Nachfrage, die ein Gericht zur Spezialität macht. Und nur weil Tausende italienische Restaurants in Italien ein Gericht anbieten, wird es noch lange nicht zur Spezialität der Italiener."
Weshalb viele italienische eigentlich israelische Tomaten sind
Ganz im Süden Italiens, auf Sizilien, liegt das kleine Örtchen Pachino, und die Tomaten, die von hier stammen, sind nicht nur herkunftsgeschützt, sondern gelten mit als die besten Tomaten Italiens. Aufgrund diverser kleingeographischer Parameter sind Tomaten, die hier wachsen, schmackhafter, widerstandsfähiger, attraktiver, aromatischer und haltbarer. Was kaum wer weiß: Das Saatgut der Tomaten, die hier (und mittlerweile in weiten Teilen Süditaliens angepflanzt werden) stammt vom israelischen Gentechnik-Unternehmen Hazera Genetics. Dieser ist es dank High Tech in den 1980er-Jahren gelungen, neue Varietäten zu schaffen, die länger halten und praktisch zu jeder Jahreszeit wachsen. Gut für alle Beteiligten – mit alten italienischen Sorten, wie gerne behauptet, hat das allerdings nichts mehr zu tun.
Wieso es erst seit wenigen Jahrzehnten Olivenöl mit Herkunftsbezeichnung gibt
Olivenöl, so Alberto Grandi, ist eines der ältesten Lebensmittel der Welt, dessen Herkunft sich mehr als 7.000 Jahre zurückverfolgen lässt. Doch die Produktvielfalt und Sorten- bzw. Herkunftstypizität, die wir heute im Handel finden, sei ein Ergebnis forcierten Marketings in den letzten paar Jahrzehnten. Und der Ausdruck dieses Marketings sei eine kaum überblickbare Zahl verschiedener Qualitäts- und Herkunftssiegel. "Es gibt heute in Italien etwa fünfzig gelabelte Öle. Schon 1996 wurden die ersten DOP-Siegel verge- ben, zurzeit laufen noch etwa ein Dutzend Anerkennungsverfahren. Wenn das so weitergeht, hat in ein paar Jahren jeder einzelne Baum seine eigene Ursprungsbezeichnung."
Weshalb echter Parmesan heute aus Wisconsin in den USA kommt
Erwiesen sei, so Historiker Grandi, dass der Käse aus der Region um Parma seit dem Mittelalter geschätzt war. Bis in die 1960er-Jahre war Parmesan allerdings relativ weich, wurde geschnitten statt gerieben und hatte eine schwarze Rinde, da diese mit Asche behandelt wurde, um den Käse haltbarer zu machen. Und genau solch ein Käse sei mit italienischen Auswanderern auch in die USA, genauer gesagt in den Bundesstaat Wisconsin gekommen, wo er nach wie vor hergestellt wird. Der Käse aus Parma, der mittlerweile unter den Markennamen "Parmigiano Reggiano" und "Grana Padano" angeboten wird, bekam ab den 1960ern massive Änderungen im Herstellungsprozess verpasst und wurde erst so zu jenem Hartkäse, der heute weltweit bekannt ist. Mit dem "klassischen" Parmesan habe dieser Käse jedoch nichts mehr zu tun, so Grandi.
Warum die Herkunft von Schinken eigentlich Wurst ist
Jahrhunderte lang wurde in so gut wie allen Regionen der Apenninhalbinsel aus Schweinekeulen Rohschinken hergestellt, teils in etwas abgewandelter Form, aber grundsätzlich immer nach dem selben Muster. Doch erst in den 1960er-Jahren erkannten findige Marketingstrategen, dass es einen griffigen Markennamen braucht, um überregional Fuß zu fassen. Am schnellsten damit waren die Hersteller in San Daniele, doch am aggressivsten und erfolgreichsten jene in Parma. Grandi: "Erst in den 1980er-Jahren begriffen die Produzenten anderer Gegenden, wie entscheidend die gemeinschaftliche Bewerbung einer Marke war. Dennoch haben es noch heute die anderen Schinkensorten schwer, sich in Konkurrenz zum Parmaschinken durchzusetzen. Parmaschinken deckt heute 40 Prozent des italienischen Markts für Rohschinken ab, dann kommt San Daniele mit 15 Prozent; den Rest teilen sich sämtliche anderen Hersteller."
Warum es in Italien heute mehr als 1000 Käse-Spezialitäten gibt
In den 1960er-Jahren, so Alberto Grandi, zählte man in Italien etwa 30 unterschiedliche Käsespezialitäten. Mittlerweile ist deren Zahl auf mehr als 1.000 angewachsen. Das habe aber weniger mit dem Innovationsgeist der italienischen Käser zu tun, als vielmehr mit einer exzessiven Diversifikationsstrategie, einerseits der großen Käsehersteller und andererseits kleiner Hersteller-Konsortien, die nach Einzigartigkeit für ihre Produkte suchen und die Antwort in immer neuen Namen, Historien und Gütesiegeln fanden. Ergebnis: Auf dem vollkommen unübersichtlichen italienischen Käsemarkt blickt heute niemand mehr wirklich durch.
Weshalb Nutella für den Professor eines der genialsten Lebensmittel aus Italien ist
"Auf den Luxus von Gianduiotti, Turiner Nougatpralinen, wollen Italiener auf keinen Fall verzichten. Ferrero kam daher in den 1950ern auf die Idee, das Ganze in eine Creme zu verwandeln und in Gläser abzufüllen. Erstaunlicherweise hatte Nutella sofort Erfolg, der seit über 50 Jahren ungebrochen anhält. Dieses Produkt kann man heute rund um die Welt kaufen und es wird überall kopiert. Doch gerade die vielen Kopien vergrößern den Ruhm des Originals und es gibt vermutlich niemanden weltweit, der nicht wüsste, dass Nutella aus Italien kommt. (…) Nutella vermittelt unterschwellig die Botschaft von einem modernen Industrieland, das zugleich ideenreiche und handwerklich perfekte Dinge erdenkt und realisiert. Die wahre typisch italienische Spezialität, das beweist Nutella, ist Innovation."
Alberto Grandi "Mythos Nationalgericht", HarperCollins, 256 Seiten, € 23,50