Tagebuch einer Pandemie

Corona-Kopfnüsse 2021, Kapitel 2: Schlimmer geht's immer

Astrologie, Kläranlagen und ein Lausbubenstreich: Die Regierung versucht alles, um das Land einer Heilung näher zu bringen. Wie das probiert wird, macht viele krank.

Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Die "Corona-Kopfnüsse – Tagebuch einer Pandemie" gibt es in mehreren Staffeln
Wolfgang Kofler
Newsflix Kopfnüsse
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5. Jänner 2021 Die Politik wird zur Sterndldeuterei
Österreich macht dort weiter, wo 2020 aufgehört wurde – mit einem harten Lockdown. Aber es gibt ja nun zum Glück die Impfung. Oder auch nicht.

Zum Jahreswechsel erleben Visionäre in Österreich seit jeher ihre Sternstunden. Sie blicken wahlweise nach vorne, nach oben oder in sich, der Ertrag fällt häufig ergiebig aus. Leider. In der "Krone bunt", dem Sonntagsmagazin der "Kronen Zeitung", hielten diesmal gleich zwei Seher Einzug. Auf Seite 31 wurde Sylvia Browne gewürdigt, die Corona schon 2008 vorhergesagt haben soll. In ihrem Buch "End of Days" prophezeite die Hellseherin für 2020 eine "schwere Krankheit, die unsere Lungen und Bronchien angreift." Weil sie auch behauptete, das Leiden werde nach einem Winter für zehn Jahre verschwinden und dann wiederkehren, begab sich das einschlägige Internet in den Zustand der Hyperventilation. Sprach sie da gar die Impfung an? Wir wissen das nicht, wir haben ja keine.

Browne, die schon auf Platz 1 der Bestsellerlisten der "New York Times" zu finden war, hat eine lange Biographie an falschen Vorhersagen, vor allem in Vermisstenfällen. Sie saß im Gefängnis, wurde wegen Betrugs angeklagt. In "End of Days" behauptete sie, 2020 werde Benedikt der letzte Papst sein, es gäbe keine Aktienmärkte mehr, Krebs und Erkältungskrankheiten wären ausgestorben, Roboter würden bei uns daheim kochen und putzen. Über Saugroboter und Thermomix sind wir allerdings diesbezüglich noch nicht hinausgekommen.

Eine Studie untersuchte 115 Prophezeiungen, mit keiner einzigen lag die Amerikanerin richtig. Mit dieser Inselbegabung könnte sie auf der Insel der Seligen, in Österreich also, eine steile Karriere hinlegen, das geht nun aber nicht mehr, denn Browne starb, für sie wohl am meisten überraschend, bereits 2013. In "Larry King Live" hatte sie ihren Tod mit 88 vorausgesagt, sie schaffte 77 Jahre. Mit dieser Präzision wäre sie leibhaftig eine gute Managerin für das Corona-Dashboard des Gesundheitsministeriums.

Hollywood? Nein, jetzt passt es mir gerade gar nicht. Können Sie vielleicht später noch einmal ... tut tut tut
Hollywood? Nein, jetzt passt es mir gerade gar nicht. Können Sie vielleicht später noch einmal ... tut tut tut
Helmut Graf

Ein zweiter Visionär fand Platz im Magazin, Sebastian Kurz gab eines seiner raren "Krone"-Interviews. Der Kanzler wurde auch zu Gesundheitsminister Rudolf Anschober gefragt und das recht unverblümt: "Halten Sie ihn für überfordert?" Kurz hätte jetzt eigentlich antworten müssen: "Mitnichten, das ist ein toller Typ, Experte in allem, kompetent bis zu den Haarwurzeln, vor allem im Bereich Gesundheit, ich würde mir von ihm jederzeit den Wurmfortsatz wegschneiden lassen." Das tat er aber nicht, vielmehr sagte er: "Das war eine riesige Herausforderung für alle, auch für ihn und das ganze Ministerium. Aber wir arbeiten gut zusammen." Ich fasse seine Antwort auf die Frage nach einer gefühlten Überforderung kurz so zusammen: "Ja".

Auch der Bundespräsident hatte zum Jahreswechsel Visionen. Er forderte einen "Mut zum Träumen" ein, "jetzt ist die Zeit, in der wir träumen sollten, wie wir unsere Welt verbessern können." Anschober wollte Alexander Van der Bellen nicht allein schlafwandeln lassen. "Mein persönlicher Traum wäre es", sagte er der Austria Presse Agentur, "auf unter 1.000 Fälle pro Tag zu kommen." Leider meinte er damit offenbar die Zahl der Geimpften in Österreich, insofern wurde sein Traum schnell Realität.

Zur Erinnerung: Am 27. Dezember wurden in Österreich die ersten Dosen des Impfstoffes von BioNTech/Pfizer verimpft, der Kanzler und der Gesundheitsminister wohnten der Veranstaltung bei, das Angebot an kulturellen Ereignissen ist ja momentan dünn gesät. Offenbar herrschte die Vorstellung, es würde reichen, ein paar Personen zu impfen, der Schutz würde sich, ähnlich wie Corona, über Aerosole verbreiten, man könnte also den Impfstoff weiteratmen und das Land wäre in Kürze virenfrei. Leider funktionierte das nicht so. Das machte aber nichts, denn glücklicherweise kamen die Feiertage und die Tage zwischen den Feiertagen, in Österreich immer schon eine Phase des natürlichen Shutdowns und so kam es auch diesmal.

Impfkoordinator Clemens Martin Auer befreit sich von der Maskenpflicht
Impfkoordinator Clemens Martin Auer befreit sich von der Maskenpflicht
Helmut Graf

Clemens Martin Auer ist als Sonderbeauftragter des Gesundheitsministeriums für das Impf-Management in Österreich verantwortlich. Sein Auftritt gestern im Ö1-Mittagsjournal sorgte für Staunen, manche dachten, es gebe von "Wir sind Kaiser" nun eine Radioversion. Die Zahl der Geimpften kenne er nur bis Silvester, sagte der Leiter der speziellen Spezialeinheit, "alles andere kann ich ihnen aus Aktualitätsgründen nicht sagen". Was er mit "Aktualitätsgründen" meinte, konnte nicht geklärt werden, aber diese "Aktualitätsgründe" müssen schwer wiegen, denn Auer bestätigte, dass "über die Feiertage diese Impfung in den Alten- und Pflegeheimen nicht stattgefunden" hat. Danach allerdings auch nicht, denn "die Impfdosen, die letzte Woche geliefert wurden und die Impfdosen, die diese Woche geliefert werden, werden ab nächster Woche verimpft". Dann aber wirklich.

Ich meine, man stelle sich das einmal aus der Sicht der Impfdosen vor. Du liegst im Lager in Belgien, das Reiseangebot ist überwältigend, es kann überallhin in Europa gehen, ans Meer, nach Venedig, Barcelona, an die Algarve, im Kühlschrank hat es minus 70 Grad, da sehnst du dich schon nach etwas Sonne. Dann entscheiden die Chefs, du kommst nach Österreich. Okay, denkst du dir, Mozart, Falco, Lipizzaner, auch nicht schlecht. Und dann landest du im Nirgendwo von Wien, keine Sau interessiert sich für dich, tagelang. Silvester feierst du allein mit den anderen Dosen, ohne Feuerwerk und Bleigießen, wegen der depperten Haushaltsregeln kannst du dir nicht einmal ein paar andere Impfungen in den Kühlschrank einladen und Party machen, nicht den super Maserntypen und die lustige Staupefrau. Nein, da wäre Israel besser gewesen – rein, raus, fertig.

Geld her! Die maskierten Sternsinger bei Wolfgang Sobotka, dem Fixgestirn des Nationalrates
Geld her! Die maskierten Sternsinger bei Wolfgang Sobotka, dem Fixgestirn des Nationalrates
Helmut Graf

"Wir haben uns dazu entschieden, in allen über 900 Alten- und Pflegeheimen gleichzeitig zu beginnen", sagte Martin Clemens Auer in Ö1. Ich frage jetzt nicht wer "wir" ist und ich lasse einmal das Wozu weg, aber wie darf man sich das für den 12. Jänner vorstellen? Mit Trillerpfeife wie ein Badewaschl? Also Anschober trillert um 10 Uhr früh und österreichweit setzen alle die Nadeln an? Oder fährt die Polizei mit Lautsprecherwagen an den Alten- und Pflegeheimen vorbei, Kurz meldet sich via Radioansprache und sagt dann "Prosit Impfung", zählt vielleicht runter "drei, zwei, eins, Stich?" Den Impfdosen wird es wurscht sein, Hauptsache endlich Action.

Wenn wir beim derzeitigen Tempo bleiben, also innerhalb von zehn Tagen, sagen wir einmal, 5.000 Menschen schaffen, dann brauchen wir, um alle 8,9 Millionen Einwohner impfen zu können, nicht ganz 49 Jahre. Wir wären also 2069 fertig. In diesem Jahr wird Kurz vermutlich seine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt bekanntgeben, vielleicht auf einer Bühne im Kaufhaus Österreich. Das soll danach recht zügig eine eigene Webseite bekommen.

Am Sonntag landete ich in einer Nachrichtensendung des bayerischen Fernsehens, das wiederum über das wilde Treiben auf Österreichs Skipisten berichtete. Ein Mann kam zu Wort, ich glaube er stand mitten auf einer Skipiste am Stuhleck. Er hatte einen Skihelm auf und eine Skibrille auf der Stirn. Er trug einen Skianorak und eine Skihose und er hatte die Ski angeschnallt und war bereit loszufahren, den Hang hinunter. Vorher aber sagte er noch: "Ich hätte mir eigentlich einen härteren Lockdown gewünscht." Ich finde den Start ins Jahr 2021 humoristisch gar nicht so missglückt.

"Wollt´s vielleicht a Wasser?" Rudolf Anschober am 4. Jänner 2021 im Nationalrat
"Wollt´s vielleicht a Wasser?" Rudolf Anschober am 4. Jänner 2021 im Nationalrat
Helmut Graf

13. Jänner 2021 Jetzt soll uns Scheiße aus der Scheiße retten
Der Frust nimmt zu. Bei den Impfungen geht nichts weiter, aber vielleicht kriegen wir jetzt alles durch die Kläranlagen geklärt.

Kann man 2021 eigentlich zurückgeben? Das Jahr ist fast noch neu, kaum benutzt, aber wirkt irgendwie schon gebraucht, auf "willhaben.at" wird sich schon wer finden, der es mag. Wer dachte, 2020 wäre die Hölle gewesen, merkt jetzt: Es loderten lediglich die Flammen des Fegefeuers. Der Teufel wollte uns nur vorgaren, jetzt hat er ein paar weitere Holzscheite in den Ofen geschoben.

Man fasst sich schon zuweilen an den Kopf in Österreich, schön für alle, die dabei nicht ins Leere greifen. Wir ducken uns in die Wohnungen, weil da draußen das böse Virus ist. Die Geschäfte geben Waren an die Kunden ab wie Trafikanten früher Pornoheftln. Wir rennen aus den Restaurants heim, damit die Burger nicht kalt werden, die Kinder kennen ihrer Lehrer nur mehr vom Hörensagen, aber in Tirol versammeln sich mitten im Kitzloch der Pandemie Menschen aus halb Europa, um besser Ski fahren zu lernen. 17 mutmaßlich Infizierte gibt es nun in Jochberg bei Kitzbühel, alle könnten sich mit der gefährlichen Briten-Mutante des Virus angesteckt haben. Mit B117, bis vor Kurzem hätte ich vermutet, die Bundesstraße nach Bad Fucking heißt so.

Aber vielleicht reißt uns jetzt die Scheiße raus. Das ist möglicherweise etwas direkt formuliert, aber man muss der Realität ins Auge sehen, auch wenn diese gar kein Auge hat. Es ist nämlich so: Abwasser-Proben aus Kläranlagen sollen nun klären, ob und wenn ja, wie stark die Briten-Mutante schon in Österreich wütet. Die folgenden Zeilen werden eventuell ein bisschen grauslich, aber sind im Dienst der Wissenschaft verfasst und deren Wirkungsstätten sind manchmal eben auch Kläranlagen.

Der Lockdown als Verlängerter: Kaffeehauschefin Christina Hummel mit ihrem Skelett-Ober Herr Karl in Wien-Josefstadt
Der Lockdown als Verlängerter: Kaffeehauschefin Christina Hummel mit ihrem Skelett-Ober Herr Karl in Wien-Josefstadt
Helmut Graf

Aus Wasser lässt sich viel herauslesen, auch wenn es ihm dreckig geht. Wir scheiden mit unserem Stuhl auch abgestorbene RNA des Virus aus, sobald wir uns infiziert haben. Keine Sorge, ist nicht ansteckend, falls sie also demnächst zufällig in einer Kläranlage spazieren gehen, weil ihnen die Parks zu voll sind, es passiert nichts. Es ist übrigens auch wurscht, ob man eine Speichelprobe oder eine Stuhlprobe abgibt, ist überall weitgehend das Gleiche drin, von den relevanten Sachen halt. Klingt scheiße, ist aber so.

Ein Team aus Wissenschaftern unter Federführung der TU Wien und unter Beteiligung der Unis in Graz und Salzburg zieht in Kläranlagen regelmäßig Proben, und zwar schon seit längerem und überall in Österreich, vorrangig in größeren Städten. Dabei wird jeweils ein Liter Flüssigkeit entnommen und auf minus 80 Grad abgekühlt. Nicht nur der Pfizer-Impfstoff hat es gerne frostig. Die eingefrorenen Proben werden untersucht, seit Ende 2019 auch auf Covid-19. Erstaunlich früh, nämlich schon am 12. Dezember 2019, erfolgte die erste Testung, sie zeigte sich noch "coronafrei".

Seit Kurzem werden die Proben auch auf die Briten-Mutante des Virus "sequenziert". Es wird also das Erbmaterial des Erregers bis ins kleinste Detail untersucht. Wir werden bald wissen, wie stark B117 schon nach Österreich abgebogen ist, vielleicht rettet uns die Scheiße buchstäblich den Arsch. Damit drehe ich, wenn sie erlauben, dieser Schmutzkübel-Kampagne den verlängerten Rücken zu.

An Forderungen besteht bei SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch kein aktuter Mangel
An Forderungen besteht bei SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch kein aktuter Mangel
Helmut Graf

Geimpft wird auch in Österreich, seit gestern Abend ist das Dashboard des Gesundheitsministeriums dazu online. Es verwirrt etwas, denn angeführt werden einerseits "geimpfte Personen", andererseits "geimpfte Personen", die Zahlen unterschieden sich gegen Mitternacht um 303 Personen. Es gab 52.925 "geimpfte Personen" und 53.228 "geimpfte Personen", bei der zweiten Zahl handelt es sich um eine "Live-Prognose", ich habe ehrlicherweise keine Ahnung, was das heißen soll. Tatsächlich ist es allerdings so, dass nicht 52.925 Personen – oder 53.925 Personen – geimpft wurden, sondern bei den angegebenen Zahlen handelt sich lediglich um die den Bundesländern zugestellten Impfdosen. Wie viele tatsächlich schon verabreicht wurden, weiß niemand.

Am Montag langte die erste Lieferung von Moderna ein, es handelt sich um den zweiten zugelassenen Impfstoff. Mickrige 7.200 Dosen wurden geliefert. Im Eiskühlschrank von Herba-Chemosan blieb viel Platz frei, man hätte etwa Tiefkühlspinat aus dem Marchfeld dazu einlagern können. 10.000 weitere Dosen Moderna sollen bis Ende Jänner kommen, für den Spinat wird es dadurch nicht eng. Angela Merkel bekannte gestern ein: Bis Sommer werden wir nicht ausreichend Impfstoff haben. Das gilt wohl auch für Österreich. Das einzige Licht am Ende des Tunnels wird von einem Kühlschrank stammen, der geöffnet wurde, weil jemand Lust auf Spinat hatte.

Beim Barte des Propheten: Glatziologe Martin Kocher als Maskenbildner
Beim Barte des Propheten: Glatziologe Martin Kocher als Maskenbildner
Helmut Graf

14. Jänner 2021 Der Kindergarten um die Schulen
Hurra, die Mädchen und Buben dürfen nun in die Klassen zurück. Reingelegt! Protokoll eines Lausbubenstreichs.

Aus Österreichs Kindern wird sicher noch was, ob sie ihre Talente jemals wieder in den Schulen entfalten können, bleibt auch nach dem gestrigen Mittwoch abzuwarten. Die lieben Kleinen sollen nun nach dem gescheiterten Anlauf am 11. Jänner und dem abgesagten Versuch am 18. Jänner am 25. Jänner in die Klassen zurückkehren, aber so wirklich fest ist mein Glaube daran nicht.

Es handelt sich auch mehr um einen symbolischen Akt, wenn er denn tatsächlich stattfinden sollte, nach fünf Tagen Präsenzunterricht beginnen in Ostösterreich nämlich die Semesterferien. Statt fünf Tage haben die Schülerinnen und Schüler also eigentlich nur vier Tage Präsenzunterricht, am Freitag ist Zeugnisverteilung. Sie haben eigentlich auch nicht vier Tage Präsenzunterricht, sondern nur zwei, denn es soll wie schon im Frühjahr des vergangenen Jahres einen Schichtbetrieb geben, erklärte Martin Netzer, Generalsekretär im Bildungsministerium, gestern Abend in der ZiB 2. Also am Montag kommt Team A, am Dienstag Team B und dann abwechselnd weiter.

Als die Schulen so gut wie quasi fast schon aufsperrten: Bildungsminister Heinz Faßmann
Als die Schulen so gut wie quasi fast schon aufsperrten: Bildungsminister Heinz Faßmann
Helmut Graf

Allerdings gibt es das dritte Team C. 15 Prozent der Kinder werden schon jetzt in der Schule betreut und das über alle Klassen hinweg. Es wird also Kinder geben, die am Montag in die Schule kommen, weil sie zum Team A gehören. Es wird Kinder geben, die am Montag in die Schule kommen, weil sie Team C sind und Betreuung brauchen. Und es wird Kinder geben, die am Montag daheimbleiben, weil Team B im Home-Schooling ist. Mischt man Team C nun am Montag mit Team A und am Dienstag mit Team B? Dann kann man gleich alle Kinder holen. Wie funktioniert getrennter Unterricht, also Team A in der Schule, Team B daheim, Team C ebenfalls in der Klasse oder anderswo im Gebäude? Es sind noch viele Fragen offen, also eigentlich weitgehend alle.

Erneut erweist sich als grobes Versäumnis, dass so wenig für die Prävention getan wurde. Wo ist das Plexiglas? Wo sind die zusätzlichen Räume? Wo fahren die Öffis verstärkt? Wo sind die Konzepte für einen gestaffelten Unterrichtsbeginn? Ende Oktober wollte Bildungsminister Heinz Faßmann damit im letzten Moment eine neuerliche Phase von Home-Schooling verhindern. Was wurde seither geschafft, außer ein paar Masken für Lehrer zu organisieren und Tests, die freiwillig absolviert werden sollen?

Auch die politische Debatte nimmt an Heftigkeit zu. Im Nationalrat ging es beim Thema Impferei im Land am Donnerstag wild hin und her und das, obwohl Gesundheitsminister Rudolf Anschober vorher versucht hatte, die Mandatare mit einer 50 Minuten langen Rede einzulullen. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner rechnete aus, dass wir unter Beibehaltung des gegenwärtigen Tempos erst in vier Jahren 60 Prozent der Bevölkerung durchgeimpft haben werden. Ich hatte zuletzt das Datum 2069 erwähnt, es geht also doch etwas weiter im Land, man muss nur fest daran glauben.

Wenn alle einen Kaiserschmarrn wollen, ist das auch ein Schmarrn: Menschenschlange vor dem Demel am Kohlmarkt
Wenn alle einen Kaiserschmarrn wollen, ist das auch ein Schmarrn: Menschenschlange vor dem Demel am Kohlmarkt
Helmut Graf

18. Jänner 2021 Das Ende des "virologischen Quartetts"
Die Lage wird immer mehr depri. Statt einer Öffnung kommt die Verlängerung des Lockdowns, es werden sogar neue Verschärfungen angekündigt, etwa eine FFP2-Maskenpflicht in Öffis und im Handel.

Der Tag der Entscheidung brachte ein paar entscheidende Veränderungen. Eine davon war, dass Rudolf Anschober kein Taferl mitgebracht hatte. Es blieb ungeklärt, ob seinem Drucker die Tinte ausgegangen war, sein Grafik-Taferlteam einen Tag frei bekommen oder "Agur" die Leinwand gefressen hatte. Es spielte aber auch keine Rolle, denn der Gesundheitsminister wurde an diesem Sonntag an den Rand gedrängt und das durchaus im doppelten Wortsinn.

In der Mitte des auf ein Quintett angewachsenen Empfangskomitees für den frisch herausgeputzten Lockdown feierte nämlich die große Koalition ein kleines Comeback. Neben Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) stand der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) im Kongressaal des Kanzleramtes. Er schien weder an Ketten herangeführt noch aus seiner Wohnung geflext worden zu sein. Ludwig dürfte vielmehr in voller Freiwilligkeit erschienen sein, was die Angelegenheit noch etwas brisanter machte.

Die vergangenen 72 Stunden von Donnerstag bis Sonntagmittag haben Österreich politisch tatsächlich mehr verändert als man auf den ersten Blick sieht. Vielleicht wird bald einiges von diesen Kräften, die hier freigesetzt wurden, spürbar sein. Aus Kalkül und aus politischer Notwendigkeit heraus hat die ÖVP ihren Elfenbeinturm verlassen. Sie ist einen Schritt auf die SPÖ zugegangen. Sie hat die Landeshauptleute zum Teil ihrer Inszenierung gemacht. Sie hat der Wissenschaft medialen Raum gegeben. Die Krise ist zu groß, um im Sololauf bewältigbar zu sein, Sebastian Kurz und sein Team haben das erkannt. Spät, aber doch.

Noch schnell die Welt retten: Videokonferenz der "First Mover-Länder" mit Kanzler Sebastian Kurz zur Impfstrategie
Noch schnell die Welt retten: Videokonferenz der "First Mover-Länder" mit Kanzler Sebastian Kurz zur Impfstrategie
Helmut Graf

Am Donnerstag war ich knapp nach 20 Uhr in der Wiener Argentinierstraße unterwegs, als sich der Kanzler am Handy meldete. Ich kam von einer Aufzeichnung der "Runde der ChefredakteurInnen", die mich etwas verunsichert hatte. Weitgehend alle im Funkhaus außer mir waren der Meinung, dass die Regierung am Wochenende ein paar kleine Schritte der Öffnung verkünden würde, die Geschäfte sollten aufsperren dürfen, die Schüler in die Klassen zurückkehren können. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Nicht wegen der Zahlen, nicht wegen der neuen Corona-Mutante, nicht wegen der deutschen Pläne – wir machen das genaue Gegenteil? Ich plädierte in der Runde dafür, die Wortmeldungen der nächsten ein, zwei Tage besser nicht zu ernst zu nehmen, etwaige Öffnungen nannte ich "fahrlässig".

Tatsächlich war Kurz am Donnerstag noch fest entschlossen, Österreich wieder etwas mehr Luft zu verschaffen. Er stand unter großem Druck, vor allem aus der Wirtschaft und der Touristik, wie Rennpferde standen die Vertreter der Zünfte in den Startboxen und warteten auf das Signal zum Losgaloppieren. Der Kanzler wollte die Zügel lockern, die Menschen müssten auch wieder einmal zum Friseur gehen können, bekundete er. Ich wirkte im Telefonat mit ihm ungläubig und dies weniger, weil ein Haarschnitt nicht zu meinen drängendsten Problemen zählt. Also fragte ich nach, ob man sich das wirklich erlauben könne. Kurz nannte die Lage "volatil". Dann kam der Freitag und es wurde noch volatiler.

Es begann damit, dass sich BioNTech/Pfizer bei der EU-Kommission meldete. Man erweitere gerade die "Produktions- und Lieferkapazitäten in Europa", das könne zu einer "kurzfristigen Änderung der bereits vereinbarten Lieferpläne Ende Jänner führen". Konkret gesagt: Der wichtigste Produzent für Impfstoffe teilte der EU mit, die ohnehin viel zu wenige Dosen geordert hatte, dass nun noch weniger käme. Panik kam auf. Wie sollte man der Bevölkerung erklären, was schon vorher nicht gut zu erklären gewesen war?

Sieht unterm Rasterelektronenmikroskop eigentlich ganz hübsch aus: siRNA (small interfering ribonucleic acid) wird verwendet, um Gene gezielt "auszuschalten" oder ihre Ausbreitung zu reduzieren.
Sieht unterm Rasterelektronenmikroskop eigentlich ganz hübsch aus: siRNA (small interfering ribonucleic acid) wird verwendet, um Gene gezielt "auszuschalten" oder ihre Ausbreitung zu reduzieren.
Pictureredesk

Es wurde noch übler. BioNTech/Pfizer wollte die Produktion nämlich nicht ein bisschen zurückschrauben, sondern die Liefermenge gleich um 50 Prozent kappen, "beginnend mit einer ersten Reduktion bereits nächste Woche, bis in den Februar hinein". Das bedeutete, dass die Impfpläne aller Länder, die meisten wie in Österreich ohnehin auf Luft gebaut, mit einem Mal wie vom Wind davongeblasen schienen.

Nach hektischen Verhandlungen wurde ein Kompromiss gefunden. BioNTech/Pfizer stellt in der kommenden Woche tatsächlich 40 Prozent weniger Impfdosen zu, in den darauffolgenden drei Wochen 100 Prozent der zugesagten Menge, in Woche vier wird nachgeliefert, was in Woche 1 versäumt wurde. "Das ist sicher die erste und nicht die letzte Lieferschwierigkeit eines Herstellers", sagte Clemens Auer, Impf-Beauftragter der Regierung. Das Licht am Ende des Tunnels werden wir uns am Ende wohl selbst anknipsen müssen.

Freitag um 18 Uhr versammelten sich die Landeshauptleute im Palais Niederösterreich in der Wiener Herrengasse. Erstmals seit Monaten fand das Treffen der acht Herren und der einen Frau nicht per Video statt, sondern in der Wiener City. Es galt, eine gemeinsame Linie in der Lockdown-Debatte zu finden, die Semesterferien stehen vor der Tür, für den Tourismus eine entscheidende fünfte Jahreszeit. Um 20 Uhr stieß der Kanzler zur Runde. Er hatte fast den gesamten Tag am Handy verbracht, mit halb Europa telefoniert, obendrein mit seinem Corona-Buddy, Israels Staatschef Benjamin Netanjahu.

Wegziehen, draufdrücken, fertig! Franz Allerberger, bis August 2021 Chef der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES)
Wegziehen, draufdrücken, fertig! Franz Allerberger, bis August 2021 Chef der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES)
Helmut Graf

Gegen Abend hin erfuhr Kurz: Schon in 10 Prozent der Wiener Abwasserproben findet sich die neue Corona-Variante, im Burgenland sind es sogar 20 Prozent. Als der Kanzler also bei den Landeshauptleuten auftauchte, hatten ihn eine Reihe von Experten vor Öffnungen gewarnt. Und Kurz, der noch 24 Stunden davor wild entschlossen war, am Sonntag Lockerungen zu verkünden, war nun wild entschlossen, das genaue Gegenteil machen zu müssen.

"Er hat sich von Anfang an auf uns draufgekniet", sagt einer der Sitzungsteilnehmer. Der Kanzler legt den Landeschefs die neue Datenlage offen, plädiert für eine Verlängerung und Verschärfung des Lockdowns. Als Erster geht Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer mit, die übrigen ÖVP-Landeschef folgen rasch. Und die SPÖ? Hans Peter Doskozil fehlt krankheitsbedingt, Peter Kaiser übernimmt das Wort. Er zeigt sich pragmatisch, hält eine Verlängerung angesichts der Daten bis in den Februar hinein ebenfalls für unausweichlich. Auch Ludwig sieht das nun so. Kaiser schlägt dem Kanzler vor, die Landeschefs sollten in die Beratungen mit den Experten eingebunden sein, Kurz stimmt zu. Um 22.45 Uhr löst sich die Sitzung auf, die meisten Landeschefs fahren heim.

Am Samstag um 8.30 Uhr trifft sich eine Expertenrunde im Kanzleramt, der Mathematiker und Coronadaten-Guru Erich Neuwirth ist zugeschaltet. Nach einer Stunde sind sich alle einig: Lockerungen wären lebensgefährlich. Um 13.30 Uhr meldet sich der Kanzler bei Michael Ludwig, danach ruft er jeden Landeschef einzeln an und wirbt für Verschärfungen. Während vor der Tür am Ring die Corona-Demonstranten vorbeiziehen, führt Kurz zwei Videotelefonate, um 16 Uhr mit Wirtschaftsbund und Wirtschaftskammer, um 17 Uhr mit Gastronomie und Hotellerie. Rund 100 Vertreter sind zugeschaltet, von Do&Co-Oberkoch Attila Dogudan bis zu Stephan Hering-Hagenbeck, Direktor des Tiergartens Schönbrunn.

Bitte, lieber Herrgott, mach, dass der Mann hinter mir bald wieder weggeht!
Bitte, lieber Herrgott, mach, dass der Mann hinter mir bald wieder weggeht!
Helmut Graf

Für 19 Uhr ist das nächste Treffen der Landeshauptleute anberaumt, Die Regierung ist mit vier Mitgliedern vertreten. Neben Kurz sitzen Werner Kogler, Gernot Blümel und Rudolf Anschober am Tisch. Alle Landeschefs sind erneut angereist, lediglich Peter Kaiser wird per Video zugeschaltet. Es gilt, Kompromisse zu finden. Die Landeschefs bestehen auf Zusagen. Ski fahren und eislaufen müsse weiter möglich sein, Kurz ist skeptisch, stimmt aber zu. Die Landeschefs beharren auch auf einem Enddatum für den Lockdown, der Kanzler hätte das lieber offengelassen. Niemand könne wissen, wie sich die Zahlen entwickeln.

Kurz gibt nach: Der verlängerte Lockdown wird verlängert. Neben Schützenhöfer will er nun auch Michael Ludwig bei der Pressekonferenz dabeihaben. Um 21.30 Uhr fragt er ihn in einer ruhigen Minute, der Wiener Bürgermeister erbittet sich Bedenkzeit. Um 21.50 Uhr ist die Konferenz zu Ende, die Sonder-ZiB 2 beginnt. Um 22.30 Uhr ruft Ludwig dann Kurz an. Er mache morgen mit.

Sonntag um 11 Uhr beginnt die Pressekonferenz. Eigentlich sollte um diese Zeit Heinz Faßmann in der Pressestunde sitzen, sie wird abgesagt. Stattdessen bekommt Österreich ein neues Bild geboten, das "virologische Quartett" aus Kurz, Kogler, Anschober und Nehammer, das im Vorjahr 19 Mal aufgetreten war, ist Geschichte. Der Innenminister hatte schon im Herbst darum gebeten, nicht mehr an Bord sein zu müssen, vor dem Termin am Sonntag meldet sich auch Werner Kogler ab. Der grüne Vizekanzler teilt mit, er geselle sich lieber zur zweiten Runde der Pressekonferenzen, zu den Fachministern, in der es vor allem um Hilfszahlungen geht. Die ÖVP nimmt es zur Kenntnis.

Zu diesen Masken passt ja so gut wie jede Farbe: Karoline Edtstadler, Elisabeth Köstinger im Parlament
Zu diesen Masken passt ja so gut wie jede Farbe: Karoline Edtstadler, Elisabeth Köstinger im Parlament
Helmut Graf

Aus dem Quartett ist ein Quintett geworden. Als Fünfter sieht man Oswald Wagner, Vizerektor der Meduni Wien, durch die Plexiglasscheibe durchschimmern. Kurz bereitet das Feld auf, er strahlt weniger Selbstsicherheit aus als sonst, auch er habe die Krise schon "satt", sagt er. Er verspricht, dass man "im April oder spätestens im Mai der Normalität deutlich näherkommen" werde. Es ist eine kühne Ansage, denn stellt sich das nicht so ein und auch der Sommerurlaub geht baden, dann sollte Kurz besser in einer einsamen Schutzhütte um Schutz ansuchen. Und ja: „Normalität im April" heißt wohl auch, dass die Osterferien futsch sind.

Statt einem Meter werde nun zwei Meter Abstand zu halten sein, sagt der Kanzler. Im Internet wird später gewitzelt, nicht mehr der Babyelefant sei nun die Maßeinheit, sondern der 2,03 Meter große Bildungsminister Heinz Faßmann. Das entsprechende Video mit ihm im Elefantenkostüm könnte viral gehen.

Hört diese Pandemie niemals auf? Doch, aber das sollte noch lange dauern, wie lange ahnte damals niemand. Vorerst hielt das Leben die nächste Zumutung für uns bereit.

Zum Hören: Das 2. Corona-Tagebuch

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