Archäologie
Das letzte große Geheimnis der Alten Römer
Etwa 130 kunstvoll gefertigte Bronzewürfel aus der Römerzeit wurden bislang in Europa gefunden. Doch bis heute weiß die Forschung nicht, wofür diese Artefakte seinerzeit dienten.

Sie stammen alle aus dem 2. bis 4. Jahrhundert nach Christus, sehen aus wie zwölfseitige Würfel (Rollenspieler kennen sowas), an jeder Seite ist eine runde Öffnung, innen ist der Zwölfseiter hohl, die Größe variiert. An den Ecken tragen die Würfel noppenartige Elemente und hergestellt wurden sie meist aus Bronze, einige sind auch mit Silber überzogen. Diese römischen Dodekaeder gelten heute als das größte noch ungelöste archäologische Rätsel, das uns die Alten Römer hinterlassen haben – denn bis jetzt gibt es keine auch nur annähernd plausible Erklärung, wofür diese Objekte seinerzeit dienten.
Römisches Rätsel Erstmals schriftlich erwähnt wurde der Fund solch eines Dodekaeders im Jahr 1739, als man im englischen Ort Aston in Berkshire einen aus der Erde holte. Bis heute wurden etwa 130 dieser Objekte gefunden, die meisten davon in Frankreich und Deutschland, insgesamt erstreckt sich das Fundgebiet von England bis Ungarn, immer nördlich der Alpen. Wieviele es wirklich sind ist schwer zu sagen, da nicht jeder Fund auch an archäologische Stellen weitergegeben wird und der Handel mit antiken Artefakten schwungvoll ist.
Jeder Dodekaeder ist anders Jeder Zwölfseiter, der bisher wissenschaftlich untersucht worden ist, weist geringfügig andere Merkmale auf. Ihre Größe variiert, auch die Löcher in den Seiten sind immer unterschiedlich groß. Auch gibt es kein festes Verhältnis zwischen den Lochdurchmessern. Ein 1982 in Genf gefundenes Exemplar war aus Blei gegossen und mit Silberblech überzogen, auf jeder Fläche ist eines der zwölf Sternkreiszeichen in lateinischer Sprache beschrieben. Ob diese Verzierung allerdings aus der Römerzeit stammt oder eventuell erst später auf dem Objekt angebracht worden ist, weiß man ebenfalls nicht exakt.

Wofür sind die Würfel gut? Über den Zweck, für den diese Objekte seinerzeit hergestellt worden sind, herrscht in der wissenschaftlichen Gemeinde Rätselraten. Die – meist sehr weit hergeholten – Theorien reichen von Kerzenständer (weil auf einem einmal etwas Wachs gefunden worden ist), Knauf eines Zepters oder Schablone zur Überprüfung von Münzgrößen bis hin zu einem Strickwerkzeug (vergleichbar einer Strickliesel) für Handschuhe. Allerdings: Alle diese Möglichkeiten erscheinen sehr unrealistisch, weil die Dodekaeder für diese Einsätze zwar theoretisch brauchbar, aber nicht wahnsinnig praktisch gewesen wären. Und wie man weiß, waren die Alten Römer extrem pragmatisch wenn es darum ging, Dinge zu vereinfachen, um sie praktikabler zu machen.
Keinerlei Aufzeichnungen Was noch dazu kommt: Es gibt keine bekannten Aufzeichnungen aus römischer Zeit, die über Zweck und Verwendung der Artefakte Aufschluss geben könnten. Sie kommen in der – bekannten – römischen Literatur einfach nicht vor. Die amerikanische Archäologin Lorena Hitchens ist von dem Geheimnis, das die Dodekaeder umgibt, so angetan, dass sie ihnen sogar ihre Doktorarbeit gewidmet hat. Eine Verwendung als Messinstrument, wie immer wieder vermutet, hält die Forscherin ebenfalls für wenig wahrscheinlich: "Die Würfel sind alle unterschiedlich groß, damit kann nichts einheitlich vermessen werden", erklärte sie der Schweizer "NZZ". Dazu käme, dass die gefundenen Exemplare so gut wie keine Gebrauchsspuren aufwiesen – und noch dazu recht fragil wären.

Sind es antike Kultgegenstände? Neue Aufschlüsse könnte eventuell der bislang letzte Fund eines Dodekaeders geben, der im Sommer 2023 in Nordostengland, in Norton Disney, im Zuge archäologischer Grabungen entdeckt worden ist. Dieser Würfel war, zusammen mit Münzen, Schmuck und Keramik, vergraben worden. "Die Tatsache, dass der Dodekaeder mit Wertgegenständen gefunden wurde, könnte darauf schließen lassen, dass er ebenfalls als Wertgegenstand gesehen wurde", so Richard Parker, der an der Ausgrabung beteiligt gewesen ist, in der "NZZ". Eine mögliche Verwendung als Kult- oder Ritusobjekt bietet sich an, nicht zuletzt auch deshalb, da die Zahl Zwölf seit jeher als machtvolle Zahl gilt, der in vielen Kulturen besondere Bedeutung zukommt.
Weitere Untersuchungen "Wir denken, dass es sich bei dem Stück um einen rituellen oder religiösen Gegenstand gehandelt hat", wird Richard Parker in der Schweizer "NZZ" zitiert. Und auch US-Archäologin Lorena Hitchens stimmt dieser Einschätzung zu. Heuer sollen an der Fundstätte in Norton Disney weitere Grabungen stattfinden. Vielleicht stoßen die britischen Archäologen ja auf neues Material, dass auch dieses letzte große Rätsel, dass uns die Römer hinterlassen haben, endlich löst.