Lokale Kritik
"Der Imam fiel in Ohnmacht": Istanbul ist eben, wie es isst
Der Connaisseur schnabuliert sich solo durch die türkische Metropole. Warum er dafür Kopfhörer und iPad brauchte. Was ein Gericht namens "Der Imam fiel in Ohnmacht" kann. Und was Die Cuisinière zu dem Zauber zu bemerken hatte.
"Wien, Umgebung, Steiermark, Slowenien, Kroatien," zählt Die Cuisinière die bisherigen "Lokale Kritik"-Solos auf. "Da gäbe es noch viel zu entdecken, aber Der Connaisseur muss ja unbedingt auf Kosmopolit machen!!!", durchschneidet ihre Stimme das Telefonkabel, so es nämliches noch gäbe. Der Connaisseur hatte sich freilich nicht getraut, ihr seine Idee, die pulsierende Metropole Istanbul kulinarisch zu vermessen, beim vorangegangenen Arbeitstreffen Aug' in Aug' zu offenbaren.
Und wieder bewahrheiten sich zwei (Über-)Lebensweisheiten: "Mut kann man nicht kaufen!" – "Zu Recht", denkt Die Cuisinière noch, folgt aber zum Glück seinem Satz: "Schweigen ist eine der größten friedenserhaltenden Maßnahmen."
Also, wo anfangen, in der Nummer neun der Millionen-Städte, mit ihren 16 bis 20 Millionen Einwohnern?
Für solche Fälle unverzichtbar ist der Guide Michelin, "das muss man den Kollegen neidlos lassen!", so Die Cuisinière kollegial généreux (um in der Sprache der großen Chefs zu bleiben), sich gottlob langsam wieder beruhigend.
"Die Bibel der Gourmets und Gourmands offenbart in der Stadt am Bosporus und dem Goldenen Horn sechs Ein-Stern- sowie ein Zwei-Stern-Restaurant, dazu noch eine Reihe an Bib-Gourmands", hat sich Der Connaisseur eingelesen – "wohlweislich"! Und geizt nicht mit seinem Wissen gegenüber der Cuisinière. Diese, die Schmach noch immer nicht gänzlich überwunden habend, stellt spitz die Frage, "… warum der Michelin seine Empfehlungen gerade Bib Gourmand nennt …?"
Diese Frage, die auch eine nachgerade bösartige Anspielung zur kulinarischen Kompetenz des Connaisseur gewesen sein kann, betrachtet er folgerichtig als rhetorische, weshalb Die Cuisinière noch heute auf die Antwort wartet … "Aber vielleicht weiß er es gar nicht", wundert sie sich darob auch gar nicht.
Also, Vorbereitung ist der halbe Erfolg, zumal wenn die Mit-Esser keine "Suderanten" sind und nicht nur den Unterschied zwischen Barolo kennen!!
Völlig überwältigt von den unglaublichen Eindrücken dieser vielfältigen und spannenden Stadt, retten sich Der Connaisseur und seine Kulinarier nahe dem Galataturm im Zentrum Istanbuls gleich einmal ins "Beste Restaurant 2024" namens "Neolokal".
Dem Trubel entflohen, taucht man in eine moderne, coole Atmosphäre ein. Dieser zeitgenössische Touch setzt sich dann in der Interpretation der traditionellen Küche fort.
In dem auch wegen seiner Nachhaltigkeit ausgezeichneten Lokal, werden, nachdem bereits vorab via WhatsApp Unverträglichkeiten abgefragt wurden, nur eineinhalb Degustations-Menüs (eine vegetarische Ableitung) angeboten. Dafür legt man einmal umgerechnet 150 Euro auf den Tisch, "was nicht zu Fuß geht", wie Die Cuisinière später einwerfen wird. (Weil sie nicht ahnen kann, was noch kommt!).
"Aber jede türkische Lira wert!", kommt Der Connaisseur ihrer nächsten Frage zuvor. Und die Amuse-Bouche ließen eine Ahnung von der Leidenschaft und Kreativität der ambitionierten Mannschaft unter ihrem Chef Maksut Aşkar aufkommen. Melonen, Fischreisbällchen, Blüten waren der freundliche Gruß der Küche.
Aus dem reichen Gemüsegarten dieser klimatisch bevorzugten Region kam als erster Gang "Imam bayildi" daher. In reichlich aber bestem Olivenöl, Tomaten, grünem Pfeffer, Zwiebeln und Knoblauch gekochte Melanzani, mit deren Saft und Obers gezauberter Sauce und ebensolchem Brot. Unser "Imam" fiel zwar nicht in Ohnmacht (was der Name des Gerichtes eigentlich bedeutet) aber fast - vor Entzücken!!
"Bayildi" habe sie schon in den 2000ern in Lausanne gemacht, "ohne dass jemand in Ohnmacht gefallen wäre", bringt sich Die Cuisinière und ihre lange kulinarische Geschichte ein. "War's nicht gut?", ätzte Der Connaisseur - natürlich nur spaßeshalber.
Weiter ging es gesund mit Artischocken und Linsen-Fava sowie Oktopusrolle mit Kartoffelpüree und Tomatensaft
Beim nächsten Gang, einer Morchel-Teigtasche, wurde es digital, denn statt des Tellers wurden jedem Gast iPad und Kopfhörer vorgesetzt. "Beides schwer verdaulich", bemerkte Die Cuisinière treffend. Der Video-Clip, der die Entstehung dieser "Kärntner Nudel auf türkisch", wie ein mitreisender Konkneipant so treffend bemerkte, zeigte, war in der Anmutung für die TikTok-Generation gemacht. Gerade noch in einer erträglichen Länge, vor allem wenn man kulinarisch absolut analog isst.
Und so unscheinbar dieses Tascherl auch wirkte, da war tatsächlich eine Geschmacks-Explosion bemerkbar. Die Morchel-Emulsion und -Sauce waren schon bemerkenswert, aber wie man die Morchel abzieht und die Haut über den Gupf bringt, konnte selbst Die Cuisinière nach genauer Analyse der Bilddokumente nicht letztgültig sagen. Oder wollte es auch nicht … Die Aromen und Gerüche des Orients jedenfalls vereinten sich zu einem unglaublichen Erlebnis.
Auch der nachfolgende Schellfisch in Kartoffel-Sauce und Mousse und der Spinat mit Ei konnten mithalten. "Typisch türkisch", witzelte Die Cuisinière. "Anatolische Hausmannskost", antwortete Der Connaisseur und das war ausnahmsweise kein Küchenlatein! "Ja eh, das Ei … ist ein pochiertes Eigelb mit Schaum aus Spinat und Lamir-Tulum-Käse - wenn du es genau wissen willst", so Die Cuisinière und deutete auf das Foto.
Erwähnung finden sollten auch die Borlotti-Bohnen, in neuerlich Püree und gegrillten Karotten und die Rinds-Backerl und wieder Linsen, nun als "Suppe". "Das viele Collagen – ganz Deines", spottete Die Cuisinière im Wissen um seine Geschmäcker – wir erinnern uns an die Kalbsnieren.
"Und getrunken habt ihr nicht?", wunderte sich Die Cuisinière. "Mitnichten! Die türkischen Weißweine sind hervorragend!" Und in den gehobenen Lokalen nicht wirklich unter 70 bis 80 Euro je Bouteille zu bekommen! Grund dafür ist die restriktive Alkohol-Politik der Erdoğan-Regierung, die eine zusätzliche Steuer bis zu 30 Prozent einhebt …
"Er schaut halt auf die Volksgesundheit", zwinkerte Die Cuisinière. "Wenn's nur das wäre …", konterte Der Connaisseur. Und meint damit am wenigsten die horrende Inflation von 70 Prozent - "Ursache und Wirkung", ergänzte er.
Eine der Lebensadern der türkischen Hauptstadt bis 1923, ist der Bosporus, der das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer (oder umgekehrt) verbindet.
Ein mondänes Fischlokal mit grandiosem Ausblick soll hier noch erwähnt werden: Das "Chacha Balik", im asiatischen Teil malerisch gelegen, glänzt mit einem unglaublichen Angebot an Meeresgetier.
Die Mezze, wie die Tapas hier und überhaupt im Orient heißen, sind köstlich. Fast überall bekommt man diese verschiedenen Vorspeisen, wie die scharfe Atom-Sauce (die nicht umsonst so heißt), Joghurt-Sauce, gebratene Melanzani und vieles mehr. Und um umgerechnet je 26 Euro keine Mezie.
Der frisch gefangene Steinbutt ist sensationell, der Preis mit 90 Euro pro Kilo der Aussicht – naja, sagen wir noch geflasht - angepasst.
Die Nachspeisen süß und gut, der Wein in einer ähnlichen Preisklasse wie in den Sterne-Hütten.
Aber alles wird übertroffen vom Blick über den Bosporus Richtung Goldenes Horn und Marmarameer.
Die Cuisinière blickt ergriffen auf die Bilder und meint dann: "Mehr hast du nicht mitgebracht?!"
Sie wusste nicht, was sie mit ihrer Urgenz auslöste. Denn insgeheim hatte Der Connaisseur ohnehin aufgrund der überbordenden Eindrücke eine zweite Folge vorgehabt. Nun hat sie ihm dieses Tor aufgestoßen. Die kulinarische Vermessung, Teil 2, folgt also demnächst hier.
Wann er ihr das gestehen wird? "Sie wird es lesen", murmelt er mutig in den Bart des Propheten.
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Die Cuisinière & Der Connaisseur
- Die Cuisinière und Der Connaisseur arbeiten schon länger projektweise zusammen, haben sich zusammen getan, um über das Essen zu reden. Und nun auch für Newsflix darüber zu schreiben. Es ist, wie es isst!
- Die Cuisinière ist Jacqueline Pfeiffer, Grand-Master Chef – bis vor kurzem Chef, jüngst She-Chef – genannt. War Kochlöffel in diversen Hauben- und Sternehütten in Mitteleuropa ("Adlon", Gstaad, "Marc Veyrat" usw.), irgendwann "Köchin des Jahres" und hatte in den 10er-Jahren im Wiener "Le Ciel" (nach neuer Gault Millau-Zeitrechnung) vier Hauben erkocht. Nunmehr ist sie als Enjoyment-Consultant mit ihrem PfeiffersGiG selbst kochend fast ausschließlich im diskreten gastronomischen Spitzenbereich oder als Beraterin unterwegs.
- Der Connaisseur ist Wolfgang Fischer, war Journalist und Medienmanager, zehn Jahre CEO der Wiener Stadthalle, nunmehr Geschäftsführer der DDSG Blue Danube, bester Freund von Admiral Duck – und Gourmet wie Gourmand seit Jahrzehnten. Also ein klassisch übergewichtiger weiser alter Mann.