Expertin erklärt

Der Nobelpreisträger, der alles über uns wusste

Wie wir einkaufen, denken, handeln: Verhaltensökonom Daniel Kahneman konnte unsere Seele lesen. Diese Woche starb das Genie mit 90. Was er hinterlässt – auch René Benko. Eine Expertin analysiert.

Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman bei einer Diskussion in London
Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman bei einer Diskussion in London
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Christian Nusser
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Der Mensch ist vernunftbegabt, das aber führt nicht dazu, dass wir immer vernünftig entscheiden. Lange Zeit ging die Wirtschaftswissenschaft davon aus, das wir rationale Wesen sind, dann kam Daniel Kahneman – und mit ihm sein kongenialer Partner Amos Tversky – und revolutionierte die Ansicht über unser Denken. Warum wir verrückte Entscheidungen treffen, uns von Intuition leiten lassen, von Preisen geblendet werden, risikoreicher werden, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht – all das wurde plötzlich erklärbar.

2002 erhielt Kahneman den Nobelpreis für Wirtschaft, als erster Nichtökonom, er war Psychologe. Das brach einen gesamten Wissenschaftszweig auf. Geboren in Tel Aviv, später US-Doppelstaatsbürger, Erfinder des Persönlichkeitstests der israelischen Armee. Er lehrte bis zu seinem Tod an der Princeton University, sein letztes Buch erschien vor drei Jahren, sein bekanntestes Werk "Schnelles Denken, langsames Denken", die populärwissenschaftliche Zusammenfassung seines Lebenswerkes, kam 2012 auf den Markt, ein Millionenseller.

Als Kahneman 2002 den Nobelpreis verliehen bekam, war Amos Tversky schon sechs Jahre tot, seine letzten Jahre verbrachte Kahneman mit Barbara Tversky, der Witwe seines Forschungspartners. Zusammen hatten sie 1979 die "Prospect Theory" verfasst, Seite an Seite 1973 im Jom-Kippur-Krieg gekämpft.

Katharina Gangl leitet am Institut für Höhere Studien in Wien den Bereich "Behavioral Economics", Verhaltensökonomie also. Die Forscherin über Kahneman, seine wichtigen Erkenntnisse und die Folgen für unseren Alltag

Wie sie zu Daniel Kahneman gefunden hat
Ich habe Psychologie studiert. Mir war relativ schnell klar, dass ich in die Wirtschaftspsychologie gehen will. Da ist Daniel Kahneman schon damals die allerwichtigste Figur gewesen. Er hat 2002 den Nobelpreis bekommen. Zu dieser Zeit habe ich mit meinem Studium begonnen.

Was das Faszinierende an Kahneman war
Wir haben cool gefunden, dass ein Psychologe einen Wirtschafts-Nobelpreis bekommen hat. Das hat sehr viel Anziehungskraft gehabt.

US-Präsident Barack Obama überreicht am 20. November 2013 die "Medal of Freedom" an Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman
US-Präsident Barack Obama überreicht am 20. November 2013 die "Medal of Freedom" an Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman
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Wie das IHS Kahneman anwendet
Wir sind die Abteilung für Verhaltensökonomik. Die psychologischen Erkenntnisse, die Kahneman und Amos Tversky in den Siebzigerjahren gewonnen haben, wurden von Richard Thaler für die Praxis aufbereitet. Und dann sind, beginnend mit Großbritannien, vor etwa zehn Jahren überall Teams entstanden, die mit der Umsetzung dieser Erkenntnisse angefangen haben.

Wann das IHS mit Verhaltensökonomie begonnen hat
Meine Unit wurde 2018 gestartet. Wir sind jetzt sechs Wissenschaftlerinnen, die meisten haben ein Doktorat entweder in Psychologie oder Ökonomie. Wir sind interdisziplinär, es gibt dazu sechs Studienassistentinnen. 

Ob es je direkten Kontakt zu Daniel Kahneman gab
Nein, aber ich habe ihn einmal vor vielen Jahren auf einer Konferenz erlebt. Er hat da die Keynote gehalten und war ja damals schon eine Legende. Es war sehr beeindruckend.

War er eine Art Popstar?
Das ist in dem Kontext vielleicht übertrieben, aber da war natürlich extrem viel Ehrfurcht, vor allem von mir als junger Forscherin. Man hofft, dass vielleicht irgendwas von dem Genie überspringt. Also Popstar ist vielleicht ein falscher Ausdruck, es hatte vielleicht mehr etwas Religiöses.

Woran das Institut forscht
Diese Woche etwa wurde eine Studie des Finanzministeriums veröffentlicht. Es ging um die Finanzbildung von Frauen und vulnerablen Gruppen. Wir haben uns angeschaut, warum sich Menschen nicht intensiver mit ihrem Geld beschäftigen. Es gibt ein Konzept, das sich "willful ignorance" nennt, das bedeutet einfach, die Menschen ignorieren bewusst Informationen, sie wollen etwas gar nicht wissen.

Warum Menschen etwas bewusst nicht wissen wollen
Das zeigt die Verhaltensökonomie. Viel zu wenige schauen zum Beispiel auf ihr Pensionskonto. Es gibt Rechner, die zeigen an, wieviel Pension man bekommt, aber kaum jemand nutzt sie. Oder wenn es zu finanziellen Problemen kommt, dann schaut man gar nicht mehr aufs Konto, ignoriert das, verdrängt das und das führt zu massiven Problemen. Die Frage ist, wie kriegt man die Irrationalität aus diesem konkreten Verhalten heraus?

Daniel Kahneman erhält am 10. December 2002 aus der Hand von Schwedens König Carl Gustaf den Nobelpreis für Wirtschaft
Daniel Kahneman erhält am 10. December 2002 aus der Hand von Schwedens König Carl Gustaf den Nobelpreis für Wirtschaft
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Was man daraus lernen kann
Für das Finanzministerium haben wir mehrere Ideen im Detail ausgearbeitet. Etwa: Wenn man bei FinanzOnline seinen Steuerausgleich macht, dann kann automatisch ein Pop-up aufgehen, das zum persönlichen Pensionskonto führt. Das ist ganz typisch für unsere Arbeit, wir bauen Hürden für ein gewünschtes Verhalten ab. Was die Menschen tun, sollte das Einfachste sein. Zum persönlichen Pensionskonto kommt man auch jetzt schon auf FinanzOnline, aber nur über fünf verschiedene Links.

Was das bringt
Ich muss nicht nach dem Pensionskonto suchen, sondern zack und ich bin dort. Viele Frauen arbeiten Teilzeit, sie bekommen Kinder, arbeiten nicht mehr voll und das hat massive Auswirkungen auf ihre Pension. Wenn sie dann sehen, dass der Unterschied zwischen Teilzeit und Vollzeit viele tausend Euro im Jahr ausmachen kann, dann erkennen sie vielleicht, wie wichtig diese Entscheidung ist. Das wird von vielen Frauen verdrängt, sie übernehmen zu Hause die gesamte Care-Arbeit und hoffen, dass sich dann irgendwie die Pension ausgeht.

Wie Verhaltensökonomie sonst noch unseren Alltag prägt
Der Eltern-Kind-Pass wird gerade erneuert. Dazu gibt es viele Ideen, etwa nicht nur die Gesundheit der Kinder zu berücksichtigen, sondern auch einen finanziellen Check damit zu verknüpfen. Welche Entscheidungen stehen jetzt an, welche Konsequenzen haben sie für mich und mein Kind, welche Fortbildungen könnte ich machen, auch wieder was die Teilzeitarbeit betrifft?

Welche Rolle Verhaltensökonomie während der Pandemie spielte
Eine viel zu geringe. Wir haben an den Briefen, die zum Schluss verschickt worden sind, beratend mitgewirkt, aber wir waren in Wirklichkeit viel zu wenig involviert. Es gibt in der verhaltensökonomischen Forschung sehr viel Literatur zum Thema Impfen, und als das aufgekommen ist, war uns ganz klar, dass wird ein Problem ergeben.

Was man beim Impfen anders hätte machen können
In der Kommunikation mit Menschen ganz viel, da macht der Inhalt einen großen Unterschied. Wenn sie etwa an Menschen schreiben: "Ihre Impfung wartet am Montag dem 25. auf Sie!" Also niemand muss sich anmelden, die Leute kriegen sofort einen Termin zugeteilt und der wird sozusagen als Ihr persönliches Recht verkauft. 

Wie sie an der Corona-Aufarbeitung mitgewirkt haben
Da haben wir die Bürger:innenräte organisiert in ganz Österreich, das war sehr interessant. Wir haben drei unterschiedliche Einladungsbriefe an die potentiellen Teilnehmer geschickt. Die Frage war, wie motivieren wir Menschen, die von der Politik enttäuscht sind, zu uns zu kommen? Brief 1 war:  Kommen Sie und bringen Sie Ihre Ideen ein. Brief 2: Kommen Sie einfach und erzählen von Ihren Erfahrungen. Brief 3 war forscher: Kommen Sie einfach, ihre Stimme zählt.

Auch das ist eine Erkenntnis der Verhaltensökonomie: Was wir kennen, halten wir für relevant
Auch das ist eine Erkenntnis der Verhaltensökonomie: Was wir kennen, halten wir für relevant
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Was das Ergebnis war
Dass wir komplett unterschiedliche Persönlichkeitstypen motivieren konnten, zu kommen. Dann haben wir auch versucht zu untersuchen, ob die Polarisierung abgebaut werden konnte. Und da haben wir gesehen, dass es vollkommen egal war, was während des Tages passiert ist, allein dass die Menschen hingekommen sind, hat die Polarisierung reduziert.

Was die Verhaltensökonomie dazu aussagt
Allein das Wissen, dass ich jetzt den ganzen Tag mit Menschen zusammen sein werde, die eine andere Meinung haben, führt schon dazu, dass ich eine positivere Meinung von den anderen habe. Eigentlich müsste es für meine Meinung egal sein, ob ich jemanden persönlich treffe, oder auch nur weiß, dass er existiert. Aber das ist eben nicht so.

Ob dieses Verhalten im Alltag woanders auch zu bemerken ist
Ja, sobald Sie etwa wissen, dass ein neuer Mitarbeiter oder Kollege mit Ihnen das Büro teilen wird, bewerten sie die Person ab da positiver.

Was die nachhaltigsten Erkenntnisse von Kahneman sind
Das Wichtigste ist mutmaßlich die Erkenntnis, dass es zwei verschiedene Arten gibt, zu denken, System 1 und System 2, das haben Kahneman und Tversky sauber herausgearbeitet. System 1 heißt, ich entscheide intuitiv, sofort, ohne nachzudenken. Wenn mich jemand anlächelt, lächle ich unbewusst zurück, ich überlege, nicht lang, es ist eine automatische Entscheidung. System 2 sind die rationalen Entscheidungen. Ich überlege genau, was ich tun soll, ich wäge ab, welche Vorteile, welche Nachteile etwas für mich hat. Diese beiden Pfade sind miteinander verschränkt und bestimmen, wie wir im Alltag agieren.

Was das für unseren Alltag bedeutet
System 1 sorgt dafür, dass wir überhaupt in der Lage sind, unseren Alltag zu bewältigen, weil wir die meisten Dinge automatisch machen. Wenn ich zum ersten Mal in den Supermarkt gehe, muss ich genau überlegen, wo was ist. Beim zehnten Mal gehe ich schon automatisch durch. Darauf basiert auch das bekannteste Buch von Kahnemann "Schnelles Denken, langsames Denken".

Katharina Gangl ist Leiterin der Abteilung für Verhaltensökonomie am Institut für Höhere Studien in Wien
Katharina Gangl ist Leiterin der Abteilung für Verhaltensökonomie am Institut für Höhere Studien in Wien
IHS / Belle & Sass

Wo uns Kahneman sonst noch im Alltag begegnet
In vielen Bereichen. Die Verfügbarkeitsheuristik besagt: Woran wir uns erinnern, das finden wir relevant. Die Werbung muss ein Produkt nur oft genug zeigen. Oder die Repräsentativitätsheuristik: Wir urteilen auf Basis des ersten Eindrucks, obwohl wir auf Basis von Informationen wissen müssten, dass das gar nicht möglich ist. In einem Raum befinden sich 90 Psychologen und zehn Juristen, eine Person mit Anzug und Aktenkoffer steht auf – wer ist es? Dann die Gründe für Selbstüberschätzung, beim Autofahren, im Aktienhandel.

Was von Kahneman sonst noch bleibt
Auch der "Anker-Heuristik" begegnen wir überall. Wenn man in einem Geschäft erfährt, dass ein Anzug 500 Euro kostet, aber heute nur 400 Euro, dann glauben wir, ob wir wollen oder nicht, 400 Euro sei billig. Wir schaffen es einfach nicht, die erste Zahl, diese 500 Euro, zu ignorieren. Diesen Anker gibt es etwa auch, wenn ein Makler ein Haus anbietet. Wenn er also sagt, in der Gegend kosten Häuser normalerweise 700.000 Euro, dann beeinflusst diese Zahl, ob wir das Angebot als teuer oder billig empfinden. Auch wenn diese Zahl überhaupt nichts mit dem echten Wert zu tun hat.

Wofür Kahneman den Nobelpreis bekommen hat
Für seine wohl berühmteste Theorie, die "prospect theory", die Aussage, dass Verluste schwerer wiegen als Gewinne. Wenn wir in eine Verlustsituation geraten, dann gehen wir ins Risiko und schauen, dass wir den Verlust irgendwie wieder loswerden. Gewinner wiederum sind risikoavers, das heißt, sie wollen ihre Gewinne nicht gefährden.

Warum Kahneman bahnbrechend war
Kahneman und Tversky haben ihre Studie in einer Publikation für Top-Ökonomen veröffentlicht. Das hat dazu geführt, dass sich die Ökonomie komplett geändert hat. Die Ökonomen haben zum ersten Mal psychologisches Wissen ernst genommen, weil sie das in ihrer eigenen Zeitschrift lesen konnten. Das war bahnbrechend. Früher ist man davon ausgegangen, dass in der Makroökonomie Rationalität vorherrscht, Menschen sind rational, sie wollen quasi ihren Nutzen maximieren. Die "Prospect Theory" hat dann ausgesagt, dass die Menschen eben nicht rational agieren.

Was es mit dem bekannten Kaffeebeispiel auf sich hat
Das ist nicht direkt von Kahneman und Tversky. Wenn ich im Büro hinter der Kaffeemaschine ein Foto mit einem Augenpaar darauf aufhänge, dann zahlen die Menschen häufiger Geld in die Kaffeekasse ein. Ja, das Gefühl beobachtet zu werden, kann schon dazu führen, dass man sich sozial angepasster verhält, aber das funktioniert nicht immer. Das ist kein super starker Reiz.

Auch das Schicksal von René Benko (hier im Kaufhaus Oberpollinger im München) lässt sich verhaltensökonomisch erklären
Auch das Schicksal von René Benko (hier im Kaufhaus Oberpollinger im München) lässt sich verhaltensökonomisch erklären
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Was Geld für eine Rolle spielt
Man darf nicht vergessen, dass die Menschen trotzdem rational sind, Geld wird immer eine Rolle spielen. Wenn jemand die Wahl hat zwischen mehr Geld und weniger Geld, wird er immer mehr Geld nehmen. Aber Geld entscheidet nicht alles. Menschen sind beeinflusst von ihrer Familie, von den Nachbarn. Wenn die Nachbarn eine Photovoltaikanlage aufs Dach bauen, dann baue ich auch eine drauf. Diese Dinge hat man früher mit den klassischen, ökonomischen Theorien nicht erklären können.

Warum man das auch bei René Benko sieht
Wenn ein Unternehmer in eine Sache investiert, aber es funktioniert nicht, dann müsste er eigentlich aufhören zu investieren. Aber er kann sich nicht lösen. Er wird dann noch riskanter. Die "Prospect Theory" lässt sich auch auf René Benko anwenden. Man müsste sich fragen, wie es sein hat können, dass das so ausgeartet ist. Warum haben so viele Menschen weggeschaut? Was hätte man auf Basis von psychologischen Erkenntnissen in der Aufsicht oder auch im Konsumentenschutz machen können, damit das gar nicht erst so weit gekommen wäre?

Welche Rolle Kahneman für die Entwicklung der KI spielt
Die KI ist auch irrational – möglicherweise sind die gleichen Mechanismen relevant.

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