Wahl-Kopfnüsse, Folge 26

Der Tag, an dem die Brandmauer in Flammen aufging

Ein klarer Sieger, aber viele Unklarheiten, was jetzt passiert. Das Projekt Kickl-Abwehr scheiterte am Wahlsonntag spektakulär. Österreich erlebte eine Zeitenwende, ohne zu wissen, wohin sich diese Zeiten wenden.

Drinnen gab es Pressestatements, draußen skandierten Demonstranten "Nazis raus aus dem Parlament"
Drinnen gab es Pressestatements, draußen skandierten Demonstranten "Nazis raus aus dem Parlament"
Helmut Graf
Newsflix Kopfnüsse
Akt. Uhr
Teilen

Die erste Beobachtung des Tages: Das Wahllokal ist ziemlich voll, eine Schlange hat sich gebildet. Es ist später Vormittag, ich lasse traditionell gern andere zuerst wählen, dann weiß ich, dass der Vorgang funktioniert.

Österreich hat in der Vergangenheit diesbezüglich nicht die besten Erfahrungen gemacht. 2016 gab es eine Bundespräsidentenwahl, dann eine Stichwahl. Die Stichwahl aber musste wegen ein paar Pannen wiederholt werden. Die Wiederholung der Stichwahl wiederum musste verschoben werden: Probleme mit den Kuverts. Wir hatten schon vor der Klimakleber-Krise eine Kleberkrise.

Mit KI-Stimme: Der Tag, an dem die Brandmauer in Flammen aufging

Die zweite Beobachtung des Tages: Es gibt in meinem Wahllokal sehr viele Beisitzer. Hinter der Wahlurne steht ein langer, rechteckiger Tisch, an dem haben 16 Personen Platz genommen, nicht alle haben gut zu tun. Die meisten beobachten das Geschehen. Die 16 Personen sitzen nicht nur an der Stirnseite des Tisches, sondern auch links und rechts. Es ist wie beim Letzten Abendmahl, wenn es nicht Brot und Datteln gibt, sondern Sushi. Da kommen auch immer ein paar Leute mehr.

Kanzler Karl Nehammer hatte einiges zu erklären
Kanzler Karl Nehammer hatte einiges zu erklären
Helmut Graf

Die letzte Beobachtung des Tages: Als der 29. September zu Ende geht, geht auch viel anderes zu Ende. Das am meisten verwendete Wort des Wahltages bleibt "erstmals". Erstmals wurden die Freiheitlichen stimmenstärkste Partei in Österreich. Erstmals wurde die SPÖ bei einer Nationalratswahl nur Dritte. Erstmals verlor die Volkspartei bei einer landesweiten Wahl fast 11 Prozentpunkte an Stimmen.

SPÖ-Chef Andreas Babler wurde von seinen Fans wie ein Held empfangen
SPÖ-Chef Andreas Babler wurde von seinen Fans wie ein Held empfangen
Helmut Graf

Was passiert als Nächstes zum ersten Mal? Ein blauer Kanzler? Aber wer hält die Steigbügel?

Eine Dreierkoalition? Aber was ist der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Karl Nehammer, Andreas Babler und Beate Meinl-Reisinger und lässt sich der ohne Rasterelektronen-Mikroskop erkennen? Kriegt dann jede der drei Parteien ein eigenes Regierungsprogramm, eine Art Pflichtenheft, und darf sich in den Sideletter schreiben, was sie auf dem Herzen hat?

Doch ein Zweierpakt aus SPÖ und ÖVP, eine neue, alte, große, kleine Koalition? Mit zwei Mandaten Überhang? Hoffentlich ist bei der Abstimmung niemand krank oder muss aufs Klo.

So viel Herzlichkeit sieht man bei einer Partei nach einer Niederlage auch selten
So viel Herzlichkeit sieht man bei einer Partei nach einer Niederlage auch selten
Helmut Graf

Es war nicht ganz einfach auszunehmen, wer Sieger und wer Verlierer war an diesem Tag. Klar, die FPÖ holte sich Platz 1 und das recht deutlich. Zwischen Kickl und Nehammer liegen 128.788 Stimmen. Aber wer setzt sich jetzt im blauen Porsche auf den Beifahrersitz? Wer gibt beim Einsteigen seine Selbstachtung ab und fährt den eigenen Versprechungen im Wahlkampf davon? Es kann gut sein, dass die FPÖ Platz 1 gewonnen, sich aber gleichzeitig auf Platz 1 verloren hat.

Das vorläufige Endergebnis (inkl. Briefwahlprognose)

  • FPÖ 29,21 % (+13,04 %)
  • ÖVP 26,48 % (-10,98 %)
  • SPÖ 21,05 % (-0,13 %)
  • NEOS 8,96 % (+0,86 %)
  • GRÜNE 8,03 % (-5,87 %)
  • KPÖ 2,35 % (-1,66 %)
  • BIER 1,99 % (+1,88 %)
  • LMP 0,57 % (+0,57 %)
  • KEINE 0,56 % (-0,10 %)

Der ÖVP fehlten auf das Ergebnis von Sebastian Kurz vor fünf Jahren 542.741 Stimmen, über eine halbe Million. Das wurde mit Bedauern zur Kenntnis genommen, aber man sei schon einmal tiefer gelegen in den Umfragen, wurde betont. Wie bei der Ananas im Supermarkt. Da werden zuweilen auch die Preise diskret angehoben, um sie danach spektakulär senken zu können.

Hoppla, da ist ein Stift auf den Boden gefallen …
Hoppla, da ist ein Stift auf den Boden gefallen …
Helmut Graf
… Kickl bückt sich live auf Sendung und hebt ihn auf …
… Kickl bückt sich live auf Sendung und hebt ihn auf …
Helmut Graf
… Simone Stribl moderiert ungerührt weiter
… Simone Stribl moderiert ungerührt weiter
Helmut Graf

Unter Pamela Rendi-Wagner hatte die SPÖ 2019 bei den Stimmen noch die Millionengrenze geknackt, es war trotzdem das schlechteste Ergebnis aller Zeiten. Nun kam Andreas Babler laut vorläufigem Ergebnis um knapp 21.000 Stimmen tiefer zu liegen. Die Aufbruchstimmung machte gestern trotzdem nur kurz Pause. Babler will bleiben und sich selbst in die Regierung schubsen, bei der Party im Volkskundemuseum am Abend gab er sich schon wieder kämpferisch.

Sein Umfeld lässt ihn sowieso nicht ziehen. Solche Szene sieht man nach Wahlniederlagen auch eher selten. Als gestern um 17 Uhr die erste Hochrechnung mit bescheidenen Zahlen eingeblendet wurde, brach in der SPÖ Jubel aus, "Andi, Andi", waren Sprechchöre zu hören. Babler mag nicht die breite Masse für sich einnehmen, aber er hat ohne Zweifel Fans. Nicht wenige hätten sicher gern ein Herzerl zu seinem Namen dazugemalt, wenn am Stimmzettel dafür Platz gewesen wäre.

Vom Partymachen versteht Beate Meinl-Reisinger offenbar was
Vom Partymachen versteht Beate Meinl-Reisinger offenbar was
Robert Harson

Heute tagen die Gremien, es ist nicht mit einer Ablöse zu rechnen. Gehen kann Andreas Babler sowieso nur freiwillig. Seine Unterstützer sehen sein Projekt nicht als gescheitert an, sondern erst am halben Weg. Man wird sehen, wohin der führt.

Die Sozialdemokraten stecken in einer brisanten Lage. Landtagswahlen stehen vor der Tür. Vorarlberg am 13. Oktober ist nur ein Nebengeräusch. Aber am 24. November wählt die Steiermark, im Jänner das Burgenland, da hat Hans Peter Doskozil eine absolute Mehrheit zu verteidigen, und im Herbst 2025 dann Wien, die letzte rote Trutzburg.

Zwischen den Noch-Regierungspartnern herrscht eine gewisse Vertrautheit
Zwischen den Noch-Regierungspartnern herrscht eine gewisse Vertrautheit
Helmut Graf

Österreichs Landkarte kennt  seit gestern nur mehr zwei Farben, bis auf Wien war alles blau oder türkis. Oder schwarz, wenn man mag. Vier Bundesländer übernahm die FPÖ, Oberösterreich, Kärnten, traditionell mit einer Drehtür zwischen der roten und der blauen Wählerschaft, die Steiermark und sogar das erzrote Burgenland, das nobel auf das Anbringen von Babler-Plakaten verzichtet und eher auf Regionales gesetzt hatte.

Was über diesen Sonntag auch gesagt werden kann: Die Brandmauer brachte es in der Errichtung nicht weiter als bis zur Knöchelhöhe. Bei der SPÖ sorgte der Kampf gegen Kickl nicht für den erhofften Luftstrom, die Grünen erlebten überhaupt einen Strömungsabriss. Sie sind einer der großen Verlierer dieser Wahl. Ich denke, es wird mit dem Abgang von Werner Kogler jetzt viel schneller gehen als geplant.

Babler und der Kanzler: In den TV-Duellen hart, gestern Abend aber herzlich
Babler und der Kanzler: In den TV-Duellen hart, gestern Abend aber herzlich
Helmut Graf

Vielleicht ist das als Abschiedsgeschenk geplant. Als sich die Elefantenrunde gestern zum Klassentreffen nach der Wahl im ORF versammelte, schlug Kogler vor, der FPÖ nicht den Posten des Nationalratspräsidenten zu überlassen. Das wäre ein Bruch mit einer langjährigen Tradition. Der stimmenstärksten Fraktion wurde immer das Vorschlagsrecht eingeräumt. Damit will Kogler nun aufräumen. "Ungeheuerlich", konnte Kickl noch sagen, dann war die Sendung aus.

Kogler wird womöglich nicht mehr lange Wurzeln schlagen. Bei den NEOS zeigten sich gestern ein paar neue Triebe, aber die Bäume wuchsen an diesem Sonntag auch nicht in den Himmel. Nicht ganz neun Prozent, 34.830 Stimmen mehr als zuletzt, aber nicht zweistellig. Für die NEOS wird die mögliche Regierungsbeteiligung schon zu einer Art Schicksalsfrage. Ewig Opposition ist auch nix. Der mögliche Regierungs-Buddy SPÖ kann das bezeugen.

Kickl wird auf dem Weg zur Elefantenrunde eingebremst
Kickl wird auf dem Weg zur Elefantenrunde eingebremst
Helmut Graf

Eine allerletzte Beobachtung. "Was sagen Sie zur Hochrechnung?", fragte Helma Poschner und hielt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner das ORF-Mikro hin. "Was sogn Sie dazua?", antwortete Tanner und lächelte. Die neuen Zeiten sind schon angebrochen. Journalisten werden jetzt in den politischen Gestaltungsprozess einbezogen.

Ich wünsche einen gut gestalteten Montag. Die Wahl-Kopfnüsse erklären sich hiermit für beendet. Ich darf mich für das rege Interesse bedanken, auch im Namen von meinem KI-Kumpel. Es hat ihm Spaß gemacht, sagt er, aber ich würde das nicht für bare Münze nehmen, er hat schließlich jetzt einen Monat Wahlkampf mitgemacht, da lernt man schnell flunkern.

Die klassischen Kopfnüsse gibt es natürlich weiter, immer sonntags und dazu im Anlassfall. Und da herrschte in Österreich bisher selten Mangelwirtschaft. Bis bald!

Alle bisherigen Wahl-Kopfnüsse

Mit KI-Stimme: Morgen um diese Zeit ist die heutige Wahl schon von gestern!

Akt. Uhr
#Kopfnüsse
Newsletter
Werden Sie ein BesserWisser!
Wissen, was ist: Der Newsletter von Newsflix mit allen relevanten Themen des Tages und den Hintergründen dazu.