Rückblick, Teil 2
Kopfnüsse 2024: Wie die EU-Wahl zur Seifenoper wurde
Der satirische Blick auf das abgelaufene Jahr. Was zwischen April und Juni alles passierte. Über einen Schmalspur-Spion, dem Gefurze um Lena Schilling, wie sich die ÖVP bei der EU-Wahl zum Gewinner erblühen ließ – und danach renaturiert wurde.
1. April Österreich hat endlich einen Spion*
Der Kärntner Polizist Egisto Ott, Beamter im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), soll in Österreich für Russland spioniert haben. Am 29. März wurde Ott in U-Haft genommen, im Juni enthaftet.
Die Eleganz der Briten in diesem Metier schaffen wir nicht ganz. Bei uns heißen Agenten nicht James, sondern Egisto, und sie haben auch nicht so tiefblaue Augen wie Daniel Craig. Sie wohnen nicht in London, sondern in der Marktgemeinde Paternion, von der nicht einmal alle Kärntner wissen, wie man sie richtig ausspricht, weil von der Betonung her mindestens drei Versionen im Umlauf sind, alle gleichzeitig richtig und falsch.
Mit KI-Stimme: Kopfnüsse-Jahresrückblick, Teil 2
Wenn Österreichs Spione was erfahren wollen, dann gehen sie auch nicht zu Miss Moneypenny und werfen ihren Hut auf den Kleiderständer, sondern sie fahren zur Polizeiinspektion Spittal an der Drau und zeigen ihren falschen Dienstausweis vor.
Als Filmland wären wir eine kostengünstige Alternative zu Hollywood. Netflix könnte an bestimmten Orten dauerhaft Kameras aufstellen und sie 24 Stunden mitlaufen lassen, um zu sehen, was so passiert. Oder Autos durch die Gegend schicken wie Google.
Ich, als Agentenexperte auf Vorschulniveau, stelle mir eine simple Frage: Kann es wirklich sein, dass es jahrzehntelang ein Spionagenetzwerk vor aller Augen gab, aber keiner konnte es sehen? Oder wollte nur niemand?
Nicht die Nachrichtendienste, die Verfassungsschützer, die Terrorismusbekämpfer, die Abwehrämter, die Polizeibehörden? Nicht die Kanzler, Vizekanzler, Minister, keiner der übrigen Politiker in Regierung oder Opposition, nicht die Innenministerinnen und Innenminister, gewesen oder aktuell?
Sonst wissen wir über jeden Grashalm Bescheid, der sich in drei Wochen in irgendeine Richtung neigen wird. Nachrichtendienste behaupten, Monate davor gewusst zu haben, dass die Russen die Ukraine überfallen werden. Aber was im Nebenbüro passiert, das hat niemand mitgekriegt?
Kopfnüsse-Rückblick auf 2024, alle vier Folgen
- Jänner bis März So puzzelten wir uns ins Superwahljahr
- April bis Juni Wie die EU-Wahl zur Seifenoper wurde
- Juli bis September Wie Österreich einen Blaustich bekam
- Oktober bis Dezember Drei Parteien auf Suche nach Erleuchtung
4. April Der Kanzler zerquetscht Präsident Macron
Karl Nehammer und Gattin Katharina weilen auf Kurzbesuch beim französischen Präsidenten-Ehepaar.
In Paris ging es im Konvoi in den Élysée-Palast, am Weg ging leider der Bus mit den Journalisten verloren, das machte nichts, ein bisschen Schwund ist immer.
Die Reporter kamen noch rechtzeitig, um die Begrüßung zwischen Karl Nehammer und Emmanuel Macron live mitzuerleben, obwohl Begrüßung den Vorgang nur unzureichend beschreibt. Die beiden fielen übereinander her wie zwei Leitwölfe im Kampf um die Rudelführung.
Sie versuchten, sich gegenseitig die Brustbeine zu brechen, weil Macron in der Größe nicht über Gust Wöginger hinausgekommen ist, schaute es für einen Moment aus, als würde Nehammer ihn unter sich begraben.
Die Szene löste sich mit ein paar Tätscheleien und Schulterklopfern auf und ging in einen Handschlag über, bei dem die Gefahr bestand, dass einer der beiden ins Pariser Lorenz Böhler-Krankenhaus gebracht werden müsste, sollte zumindest das noch stehen. Buben halt!
Aber es wurden keine sichtbaren Schäden angerichtet. Kurze Zeit später hatte sich der Ausflug für Nehammer schon ausgezahlt, denn er bekam ein warmes Mittagessen auf Sterneniveau, serviert in einem prunkvollen Raum im Élysée-Palast mit Blick auf den Park, als Höhepunkt Tournedos Rossini.
In Fragen der Weltpolitik sind Nehammer und Macron über vielerlei anderer Ansicht, das trat beim Pressestatement zutage, aber das machte nichts, denn zumindest auf Französisch klangen die Meinungsverschiedenheiten zauberhaft.
27. April Die SPÖ fasst sich endlich ein Herz
Die SPÖ traf sich am Samstag in Wieselburg zu einem Bundesparteirat. Auch hier ging es nicht um die EU-Wahl, sondern darum, Andreas Babler zum zweiten oder dritten Mal zum Spitzenkandidaten für die Nationalratswahl zu wählen. Er erhielt 89,6 Prozent der Stimmen, etwas mehr als am Bundesparteitag im November.
Babler redete knapp über eine Stunde, präsentierte 24 Ideen, griff sich dabei immer wieder ans Herz, nicht um es neu zu justieren oder weil er schauen wollte, ob die Geldbörse noch da ist, sondern um das Motto des Tages zu unterstreichen.
Die SPÖ will mit "Herz und Hirn" in die Wahl gehen. Die beiden kandidieren zwar nicht, finden sich aber im neuen Schriftzug wieder, der auf mich eine eigene Faszination ausübt. Das Loch im O wurde mit einem Herz ausgefüllt, die Ö-Stricherl schauen mich an wie zwei Augen.
So wie Babler adrett gescheitelt auf der Bühne stand und sich ans Herz griff, hätte er auch eine neue Singlebörse ins Leben rufen können, um später bei "2 Minuten 2 Millionen" ein paar Start-up-Fördergelder abzustauben. Das Logo hätte gut dazu gepasst.
Ein paar Gedanken von "Herz und Hirn", dem Wahlprogramm also, waren vorab schon an Medien gestreut worden, das "Recht auf Leben ohne Internet" etwa, das "Recht auf einen Arzttermin" oder der Wunsch nach "5.000 zusätzlichen Polizistinnen und Polizisten".
Nachdem Babler unter den Klängen der Klitschko-Boxhymne "Can't Stop" von den Red Hot Chili Peppers eingezogen war, kamen noch Dutzende Ideen dazu. "Steuerräubern" will er den Kampf ansagen, die tägliche warme Mahlzeit in den Schulen nannte er die "Schulbuchaktion" von heute, die SPÖ will er "von einer Dampflok zu einem Railjet" machen (riskant bei den vielen Ausfällen), die Arbeitszeitverkürzung heißt jetzt 4-Tage-Woche.
Die Anwesenden setzte der SPÖ-Chef in Ekstase, sein wahrer Elchtest aber wird der 29. September, eine erste Probefahrt die EU-Wahl am 9. Juni.
7. Mai Das Gefurze um Lena Schilling nimmt seinen Lauf
Der Standard veröffentlicht schwere Anschuldigungen gegen die Spitzenkandidatin der Grünen bei der EU-Wahl. Lena Schilling habe falsche Gerüchte verbreitet, einem Ehepaar häusliche Gewalt unterstellt, eine Beziehung zu einem ORF-Journalisten erfunden. Am 8. Mai rückt die Führungsspitze der Grünen aus, aber der Auftritt geht buchstäblich in die Hose.
Als nichts passierte, dachten die Grünen, die Affäre wäre überstanden. Ein Trugschluss. Am Montag, den 6. Mai nahm der "Standard" erneut Kontakt auf und schickte einen Fragenkatalog an die Presseabteilung der Partei. Fristsetzung für die Beantwortung 15.30 Uhr.
Aber am Abend und auch am nächsten Morgen fand sich nichts online, nichts im E-Paper, nichts in der Printausgabe. Also ging man am Dienstag ab 16.30 Uhr im Zustand höchster Fröhlichkeit in den Wahlkampfstart am Karlplatz. Die Heiterkeit hatte ein Ablaufdatum.
Es gab eine Dreiviertelstunde Text, eine aufgedrehte Lena Schilling machte von der Bühne herab Programm, als wäre sie in der Schinkenstraße am Ballermann. Neben ihr wirkte Werner Kogler in der schwarzen Lederjacke wie zur falschen Party eingeladen.
Erst recht als Schilling befremdlich den Kopf auf seine Schulter legte und nicht aussah wie eine künftige EU-Spitzenpolitikerin, die Freihandelspakte oder neue Asylgesetze verhandeln soll, sondern eher wie eine Enkelin, der eben das Taschengeld erhöht worden war.
Nachdem "Rahel", die eigentlich Rahel Kislinger heißt, mit ihrer Show fertig war, begannen die Grünen mit dem Abräumen. Es war 18.30 Uhr und der "Standard"-Artikel platzte mitten hinein in die Ballermann-Sperrstunde. Das war gut und schlecht gleichermaßen.
Schlecht, weil es passierte. Gut, weil zumindest ein Teil der Führungscrew noch da war, um die Krisenkommunikation zu planen.
Die Planungen dürften sehr ergebnisoffen verlaufen sein, denn was die Grünen dann am nächsten Tag im Parlamentsklub in der Löwelstraße ablieferten, hatte mehr mit Krise zu tun als mit Kommunikation.
Die Pressekonferenz musste auf 8.30 Uhr gelegt werden, weil danach der Ministerrat anstand und vielleicht lag es auch an der frühen Morgenstunde, dass so ziemlich alles falsch gemacht wurde, was falsch gemacht werden konnte.
Es gab keine Kommunikationsstrategie. Es erschloss sich nicht, warum fünf Personen dastanden und warum genau die. Warum die Klimaministerin anwesend war, aber nicht die Justizministerin. Wieso Leonore Gewessler immer wieder nickte, als wäre sie die Ministrantin eines TV-Predigers. Und dann nannte Kogler die Vorwürfe auch noch "Gefurze".
Und, besonders befremdlich: Die Grünen, die sich sonst mit jedem Himbeerstrauch solidarisieren, fanden keine Worte der Empathie für die potentiellen Opfer.
8. Mai Die Politik ist endgültig am Arsch
Vor ein paar Wochen habe ich die Politik dafür gescholten, dass sie verbal immer häufiger ins Klo greift. Meine Worte kamen leider über die Nachhaltigkeit von Raumspray nicht hinaus, ihre Wirkung, die sich nie entfaltete, verpuffte, ohne dass jemand einen Lungenzug genommen hatte. Das Gemüffel wurde in der Folge nicht besser, eher übler, in der vergangenen Woche durchlief es sogar mehrere Spülgänge.
Am Freitag konterte Harald Vilimsky, FPÖ-Spitzenkandidat für die Europawahl, im "Standard" den Vorwurf, seine Partei habe eine allzu große Russlandnähe so: "Im Rektum Putins waren andere unterwegs".
Schon am Dienstag war Lena Schilling, vegane Antwort auf Vilimsky, dem Eindruck entgegengetreten, sie sei zu junges Gemüse für die EU: "Auch den Scheiß werden wir ihnen beweisen."
Die Arschkarte scheint die neue "Schallplatte der Woche" zu sein und sie wird jedem vorgespielt, ohne dass man dafür eigens eine Rufnummer wählen müsste.
Auf die Phase der Banalisierung folgte in Österreichs Politik zuletzt eine Epoche der Analisierung. Beides ist irgendwie oasch, ich darf das sagen, schließlich trete ich zu keiner Wahl an.
19. Mai Die Seifenoper um "Lena und Mena"
Chinas Schulterschluss mit Russland, US-Strafzölle, der Rechtsruck in Europa: Die Welt kalibriert sich neu. Und Österreich?
In all diese Gemengelange hinein erscheint der Blick auf das aktuelle Österreich einigermaßen verstörend. Ich kann mich täuschen, aber wenn wir in fünf Jahren auf das Jetzt zurückblicken, dann werden wir uns vielleicht Fragen stellen wie: "Was haben wir getan, um die EU zusammenzuhalten?" Oder: "Wie haben wir die europäische Autoindustrie zukunftssicher gemacht?"
Oder: "Was haben wir unternommen, um Europa im Konzert mit den USA und China eine Stimme zu verschaffen?" Was wir uns mutmaßlich nicht fragen werden: "Hat Lena Schilling einen festen Charakter oder lügt sie wie gedruckt?"
Die Beantwortung der Schillingfrage scheint derzeit aber der Dreh- und Angelpunkt des regionalen Weltgeschehens zu sein. Wunderlich!
In drei Wochen ist EU-Wahl und noch nie zuvor wurde in Österreich im Vorfeld mit so großer Intensität, Taktung und Leidenschaft über einen europäischen Wahlgang geredet. Aber halt nicht darüber, wie wir in Zukunft leben und wo wir Arbeit finden werden, sondern ob die Person A an die Person B über die Person C etwas Garstiges geschrieben hat, was der Person D unbehaglich sein könnte.
Das ist, mit Verlaub, ein Kindergarten und ich schreibe das als jemand, der zumindest gelegentlich auch am Bällebad teilnimmt. Der Lärmpegel in diesem Kindergarten wuchs in den vergangenen Tagen so stark an, dass inzwischen sogar die Bälle im Bällebad einen Tinnitus haben.
Die Grünen stolpern weiter durch die Kommunikation wie Pinguine, die sich nach New York verirrt haben. Statt für Klarheit zu sorgen, verrennen sie sich immer tiefer im Central Park.
Die Kandidatin, bei der keine Rolle spielen sollte, dass sie die einzige Frau ist und erst 23, wird immer öfter mit dem Argument verteidigt, dass sie die einzige Frau ist und erst 23.
Es fehlt nur mehr der Film, als Titel böte sich "Lena und Mena" an. Eine Seifenoper, perfekt für den Vorabend, ein "Bergdoktor", aber in der Stadt und mit Journalisten als Medizinmänner. Das würde die Zuschauerzahlen endgültig explodieren lassen.
26. Mai Mit Schilling wird noch etwas Kleingeld gewechselt
Wieder eine Woche, in der uns ein paar relevante Neigungsgruppen im Land dankenswerterweise in ihren Schriftverkehr einbezogen haben.
Wir bekommen jetzt ständig Post von Menschen, die wir gar nicht so richtig kennen, es wäre vermutlich nicht nur mir inzwischen lieber, es bliebe dabei. Vielleicht gibt es bald so Pickerln wie für die Briefkästen, wenn man keine Werbesendungen haben will. Die klebt man dann auf den Computer. "Bitte hier keine Lena Schilling einwerfen!", könnte draufstehen. Oder: "Bitte keine Sendungen mit Bohrn Mena zustellen, weder einzeln noch zu zweit."
Nicht ganz drei Wochen nach Beginn der Enthüllungen, drängen sich jetzt zwingend ein paar Fragen auf: Wie haben wir eigentlich gelebt, als es Lena Schilling noch nicht gab, zumindest nicht in unserem Alltag? Womit haben wir die Zeit totgeschlagen oder die Zeit uns? Was war unser eigentlicher Daseinszweck? Noch viel banger: Was tun wir, wenn das einmal vorbei ist, was aber ohnehin niemals passieren wird?
Wenn das vorbei ist, was zu keiner Zeit vorbei sein wird, dann werden wir auf Entzug gehen müssen, soviel ist sicher.
Vielleicht betteln wir dann wildfremde Menschen in der Straßenbahn an, damit sie uns ihre Chatverläufe zeigen. Wir schenken Politikern und solchen, die es nach einem Amt gelüstet, ein oder zwei zusätzliche Smartphones, damit sie laufend Stoff für uns erzeugen können.
Wir schreiben uns selbst WhatsApp-Nachrichten, empören uns darüber, machen Screenshots, treffen uns mit uns selbst auf einer Parkbank und übergeben uns dann die Ausdrucke in einem braunen Kuvert. Unser Leben muss nicht wirklich ärmer werden, wenn unser Leben keinen Schilling mehr wert ist.
2. Juni Österreich wird zum Sumpfgebiet
Noch ein paar Tage bis zur Volksabstimmung über Lena Schilling, die in anderen Ländern irrtümlicherweise EU-Wahl heißt.
In den Kopfnüssen der Vorwoche hatte ich unvorsichtigerweise in einem Nebensatz das Wort Buchsbaumzünsler in die Hand genommen, ein grober Schnitzer. Ich hätte mir das denken können.
Unter all den Aufsätzen, die ich während der Pandemie verfasst hatte, war jener über Baumärkte und Gartencenter der mit Abstand leserträchtigste. Österreich liebt seine Baumärkte, die Eingangstore von Obi oder Hornbach sind unsere Pforten ins Wochenende, zwischen dem Jetzt und dem Schrebergarten steht dann nur mehr Kasse 3.
Ich bekam also recht viel fachkundige Post zum Buchsbaumzünsler, offenbar der Endgegner in Österreichs Vorgartenstraßen, zwischen Laub und Laube herrscht Mord und Totschlag. Menschen schilderten mir ergreifend die Leidensgeschichten ihrer Kämpfe mit den Raupen, die alles kahlfressen. Es wurden Ratschläge ausgetauscht, was am besten Abhilfe schafft, ich kam mir plötzlich vor wie Karl Ploberger auf Glyphosat.
Vielleicht sollte sich die nächste Koalition das Interesse zu Herzen nehmen und ins Regierungsprogramm zwischen Asyl und Arbeitsmarktpolitik ein Kapitel über Gartenarbeit einfügen, es gibt schließlich immer viel zu tun, jippie jippie yeeah.
Ein Preisdeckel für Rasenmäher zum Beispiel wäre sehr volksnah, ein Reparaturbonus für Gartenkrallen ebenso. Gratisdünger für alle würde ich in die Verfassung schreiben. Die Leute würden dem Kanzler und seinen ministeriellen Topfpflanzen aus lauter Dankbarkeit den ersten Zupfsalat der Saison schicken oder Kirschen vorbeibringen, es wäre wieder netter im Land.
Ein Schrebergarten-Ministerium wäre vernünftig. Man könnte dem Besten aus zwei Welten eine dritte Welt hinzufügen, die private Oase. Die SPÖ und die ÖVP würden die Grünen nicht von links oder rechts überholen, sondern von unten.
In der Republik der Gartenzwerge wird momentan darüber gestritten, ob wir der Natur wieder mehr Raum geben sollten. Grundsätzlich sind alle dafür, das Problem ist, dass diesen Raum, den die Natur jetzt zurückerhalten soll, irgendjemand hergeben muss (außer wir nehmen uns Liechtenstein dazu). Da beginnt es sich mehr zu spießen als zu sprießen, denn wer hat schon etwas zu verschenken?
Auch die EU nicht, da wird schon seit über drei Jahren über die Renaturierung debattiert. Das endete vorerst einmal so: Das Parlament der 27 EU-Länder stimmte für das entsprechende Gesetz, knapp danach musste es beim Rat der EU-Umweltminister von der Tagesordnung genommen werden, weil die 27 EU-Länder das Gesetz plötzlich nicht mehr haben wollten.
Auch Österreich spielt in dieser Inszenierung eine gewisse Rolle. Ein Teil der Regierung ist für die Renaturierung, ein Teil dagegen. Die Umweltministerin ist dafür, darf aber nicht dafür sein, weil die Landeshauptleute dagegen sind.
Naturschutz ist in Österreich Landessache, deshalb gibt es neun Naturschutzgesetze. Und deshalb darf Naturschutzministerin Leonore Gewessler zwar zu den Gipfelreffen der EU-Umweltminister anreisen, dort aber nur als Astralkörper teilnehmen und nicht nach ihrem Wohlbefinden abstimmen, sondern so, wie es die Bundesländer gern möchten. Die neun Landescapos sprechen durch sie.
Alle halben Jahre treffen sich die Landeshauptleute zu einer Konferenz, die Protokolle der Sitzungen sind nicht öffentlich. Zuletzt fand das wahre Machtzentrum der Republik am 4. April 2024 in St. Pölten zusammen.
In dem nicht öffentlichen Protokoll der Konferenz findet sich eine Passage, die bei Gewessler beim nächsten EU-Rat für Schluckauf sorgen wird: "Die Landeshauptleutekonferenz erinnert die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie an die einheitlichen Länderstellungnahmen vom November 2022 und Mai 2023, mit denen der Verordnungsentwurf 'Wiederherstellung der Natur' abgelehnt wird, und ihre verfassungsrechtliche Verpflichtung, bei der anstehenden Schlussbestimmung im Rat der EU die Verordnung abzulehnen."
Die Landeshauptleute zeigten dem Renaturierungsgesetz also die rote Karte, und das schon zum dritten Mal.
Was Kärnten und Wien allerdings nicht gewusst haben wollen: Das EU-Gesetz war in der Zwischenzeit in neuer Form im Parlament beschlossen worden, ihre Ablehnung bezog sich aber auf den alten Entwurf.
Als Peter Kaiser und Michael Ludwig ihren – nennen wir es liebevoll – Irrtum erkannt hatten, schrieben sie einen Brief an Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und baten um eine "offene Diskussion", ob man dem Vorschlag "für die Umsetzung der Verordnung nicht doch nähertreten könnte".
Die "offene Diskussion" endete damit, dass sieben Länder den beiden die Tür zuschlugen, sogar das rote Burgenland, das ist wiederum eine geringere Überraschung.
Auch Kanzler Nehammer sah seinen Moment gekommen und nannte das Gesetz ein "dramatisches Beispiel für den Überregulierungswahn in Brüssel".
Es kam am 17. Juni dann doch anders. Am Montag sorgte Klimaministerin Leonore Gewessler für einen Sündenfall oder folgte einer göttlichen Eingebung, das wird von den Regierungspartnern doch recht unterschiedlich gesehen.
Gewessler stimmte beim Rat der EU-Umweltminister in Luxemburg dem Renaturierungsgesetz zu, das gab den Ausschlag für die Annahme. Österreich wird jetzt wieder in ein Sumpfgebiet zurückverwandelt oder bleibt zubetoniert, auch das ist Ansichtssache.
Das Beste aus beiden Welten ist jetzt böse aufeinander.
9. Juni Die ÖVP wird bei der EU-Wahl zum Phönix aus der Tasche
Die FPÖ gewinnt die EU-Wahl, bleibt mit 25,4 Prozent aber knapper vor ÖVP (24,5 %) und SPÖ (23,2 %).
Wieder ein Beben. Wann war eine Wahl in Österreich eigentlich das letzte Mal kein Beben? Also ganz simpel eine Wahl, die Leute geben ihre Stimmen ab, daraus errechnet sich ein Ergebnis, die einen freut's, die anderen nicht? Bei uns: immer Gezische.
Ich denke, an Wahlsonntagen kommen die Reporter in die Newsrooms, fahren ihre Computer rauf, tippen das Wort "Beben" in die Textmasken für Onlineartikel und Zeitungsberichte und dann sagen sie: "So, jetzt können die Resultate kommen, wir wären bereit."
Mein Lieblingsmoment vom Sonntagabend stammt vom Montagabend. Da reichte die ZiB 1 dankenswerterweise die Bilder aus der ÖVP-Zentrale vom Vorabend nach.
Zu sehen war Generalsekretär Christian Stocker, allein in vorderster Front, ganz nah der Fernsehkamera, leicht von unten gefilmt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, so starrte er auf einen Bildschirm, der nicht zu sehen war. Dahinter hatten sich ÖVP-Claqueure versammelt, Schulter an Schulter standen sie da und starrten auf einen Bildschirm, der immer noch im Dunklen lag.
Dann brandete plötzlich Applaus auf, Hände gingen in die Höhe, ein paar Smartphones auch, Gejohle war zu hören, strahlende Gesichter waren zu sehen.
Natürlich war das eine reine Show. Als der ORF knapp nach 23 Uhr seine erste Hochrechnung vorlegte, wusste die ÖVP längst Bescheid in welche Richtung sie gehen würde. Nicht aus dem ORF, nicht aus dem Innenministerium, sondern weil ihr aus ihrer Infrastruktur heraus Daten zugegangen waren und sie sagten aus: Wir sind viel knapper an der FPÖ dran als in der Trendprognose um 17 Uhr gemutmaßt worden war.
Also wurde nach 22 Uhr eine neue Strategie ausgerollt. In der Parteizentrale wurden Leute zusammengetrommelt, die sonst um diese Zeit vielleicht schon daheim in Pyjamas gesteckt wären und platzierte sie für 23 Uhr so vor die TV-Kamera wie die Wiener Sängerknaben beim "Ave Maria".
Zu diesem Zeitpunkt hatten einige Zeitungsredaktionen schon diskrete Anrufe erhalten, um das Schlimmste zu verhindern. Dass nämlich die Berichterstattung vom Wahltag in den Morgenausgaben noch mit einer alten Tonalität unterlegt wird. Nicht der Absturz der ÖVP bei der Wahl sollte die neue Leitkultur sein, sondern das vermeintliche Wunder, dass nämlich die Kehrtwende zum Guten längst vollzogen worden war.
Der Plan ging voll auf. Im Vergleich zur EU-Wahl 2019 hatte die ÖVP 441.893 Stimmen verloren, fast genau ein Drittel. Aber das war nicht mehr Thema. Vielmehr machte sich die Erzählung breit, dass die Volkspartei um 17 Uhr zu Tode prognostiziert worden war, Auferstehung gefeiert hatte und nun um 23 Uhr bereitstünde, um in den Himmel aufzufahren.
Die Aufholjagd der Volkspartei, die noch nicht einmal begonnen hatte, trug bereits erste Früchte. Innerhalb von sechs Stunden, in der Zeit von 17 Uhr bis 23 Uhr, konnten schon 1,2 Prozentpunkte auf die Blauen gutgemacht werden. Wenn das in dem Tempo weitergeht, dann wird die ÖVP am 29. September zwischen 80 und 90 Prozent erreichen.
25. Juni Der Kanzler feiert eine Kabinenparty
Österreich schlägt bei der Fußball-EM in Deutschland die Niederlande 3:2. Das lässt sich die Politik nicht entgehen.
Unsere Regierung hat ein neues Lieblingsspielzeug. Als hätte es das Nationalteam nicht schon schwer genug, rückt nun zu jedem Match eine Abordnung aus der Heimat an und verbreitet vor Ort eine Art von Fröhlichkeit, die daheim abhanden gekommen zu sein scheint.
In der abgelaufenen Woche setzte sich der Kanzler in einen Flieger und der Vizekanzler in einen Zug, es ist schön zu sehen, dass es für jede politische Bewegung mittlerweile ein passendes Verkehrsmittel gibt.
Die beiden nahmen Kurs auf die deutsche Hauptstadt. Karl Nehammer hatte seinen Fotografen mit, der hielt bildlich fest, wie dem Kanzler der Schal im Nacken saß und das von vorne, von hinten und von der Seite.
In Berlin traf Österreich am Dienstag auf die Niederlande, die Ehrentribüne war gut gefüllt. Karl Nehammer war da, weil er Kanzler ist, Werner Kogler war da, weil er witzigerweise Sportminister ist, Magnus Brunner war da, weil er gut Tennis spielt und Wolfgang Sobotka war da, weil er es so wollte. Nur Fußballmaus Johannes Rauch musste daheimbleiben.
Nach dem überraschenden Sieg eilten der Kanzler und der Vizekanzler in die Kabine von "The Burschen". Kaum war der Kanzler in der Kabine, hielt er das Handy hoch und schoss ein Selfie, der grinsende Vizekanzler dahinter kam gerade noch dazu, einen "Schumi-Daumen" zu formen.
Vielleicht finde nur ich das seltsam. Daheim erweckt die Volkspartei den Eindruck, als würde sie nach dem als grobes Foul empfundenen Verhalten von Leonore Gewessler knapp vor der Forderung nach Spielabbruch stehen. In der Fremde aber feiern die Spitzen von ÖVP und Grünen eine Kabinenparty.
Daheim werden Ministerräte abgesagt, in der Fremde trifft man sich zum Gruppenselfie. Die Wählerschaft kann sich nun aussuchen, was sie für glaubwürdiger hält, das Wedeln mit der Roten Karte oder den freundschaftlichen Leiberltausch. Wieder so eine kleine Feinsinnigkeit, die den Unterschied macht.
Ich wünsche einen wunderbaren Montag. Ich hoffe, ich darf Sie auch bei Teil 3 des Kopfnüsse-Rückblicks auf 2024 begrüßen. Bis in einer kleinen Weile!
* die jeweiligen Originaltexte sind kursiv gesetzt