"Erinnerungen"

"Meine Tochter rief meine Frau an: 'Ich glaube, der Papa ist tot'"

Vier Monate nach seinem Ableben erscheinen die Memoiren von Deutschlands Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble. Eine politische Weltschau über fünf Jahrzehnte, Merkel, Umsturzpläne und das Attentat.

Wolfgang Schäuble (CDU), früherer Präsident des deutschen Bundestages, 2022 bei einer Feier zu seinem 80. Geburtstag
Wolfgang Schäuble (CDU), früherer Präsident des deutschen Bundestages, 2022 bei einer Feier zu seinem 80. Geburtstag
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Newsflix Redaktion
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Generationen von Politikern kamen und gingen, er blieb. Bis ganz nach oben ins Kanzleramt schaffte er es nie, aber das lag mehr an Wolfgang Schäuble selbst und an den Umständen als an fehlenden Möglichkeiten. Zeitlebens blieb Schäuble Kumpanei fremd, er konnte schroff sein, war mit allen Regierungskollegen per sie, selbst mit Angela Merkel. Nur mit dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber pflegte er das Du, aus historischen Gründen, aber das spielt jetzt wieder eine Rolle, weil ihn der Du-Freund zum Sturz von Angela Merkel überreden wollte. Schäuble ging nicht mit, die Episode erklärt wohl auch, weshalb er nie Kanzler wurde.

Schäuble hat die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt, von 1972 an (da hieß der Kanzler noch Willy Brandt) saß er im Bundestag, die letzten vier Jahre bis 2021 war er dessen Präsident.

656 Seiten Politikgeschichte Am 26. Dezember 2023 starb der dreifache Ex-Minister (für besondere Aufgaben, Innen, Finanz) und Ex-Bundestagspräsident (2017 bis 2021), er wurde 81 Jahre alt. Die letzten Monate fast bis zum Schluss arbeitete er an seinen Memoiren, in den nächsten Tagen erscheint "Erinnerungen", es ist ein 656 Seiten starker Durchlauf von fünf Jahrzehnten politischer Geschichte, durchsetzt mit einigen persönlichen Momenten, etwa dem Schuss-Attentat auf ihn im Jahr 1990.

"Das gehört dann zum Leben dazu" Jens Hacke, Historiker und Politikwissenschafter, und Hilmar Sack, Historiker und einige Jahre Mitarbeiter des Bundestagspräsidenten, haben Schäuble beim Schreiben der Memoiren geholfen. Der "Stern" druckt in seiner aktuellen Ausgabe die ersten Passagen ab, am Ende beschreibt das Magazin das Zustandekommen des Buches: "Der nahende Tod war ein ständiger Begleiter, die Arbeit an seinen Memoiren dadurch auch ein Wettlauf mit der Zeit." Das Erscheinen der "Erinnerungen" sollte Schäuble nicht mehr erleben, es war ihm bewusst. "Als wir am Weihnachtswochenende das letzte Mal Kontakt hatten, verabschiedete er sich mit einem dieser Sätze, die unverwechselbar für ihn waren: 'Das gehört dann wohl zum Leben dazu.'" Die ersten Stellen aus dem Buch:

Wolfgang Schäuble am 22. November 1990 nach dem Attentat auf dem Weg zur Pressekonferenz
Wolfgang Schäuble am 22. November 1990 nach dem Attentat auf dem Weg zur Pressekonferenz
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Wie er das Attentat überlebte

12. Oktober 1990, Deutschland liegt in einem Euphorietaumel, neun Tage davor war die Wiedervereinigung gefeiert worden. Wolfgang Schäuble hat noch einen Termin in einer CDU-Ortsgruppe im badischen Oppenau, 250 Menschen sind da, die Stimmung ist gelöst. Gegen Ende hin will Schäuble vor die Tür des  Gasthauses "Brauerei Bruder" treten, drei Schüsse fallen. "Zwei Kugeln trafen mich, eine in die Wange, unterhalb des rechten Ohres, die zweite in den Rücken. Die dritte fing mein Leibwächter Klaus-Dieter Michalsky mit seinem Körper ab, als er sich auf den Schützen warf. Hätte auch sie mich getroffen, ich hätte wohl nicht überlebt", schreibt der CDU-Politiker nun in seinen Memoiren.

Tochter als Augenzeugin Der Leibwächter überlebt, der dritte Schuss verletzt ihn an Hand und Bauch. Schäuble hat mit Ehefrau Ingeborg (Hochzeit 1969) vier Kinder, drei Töchter einen Sohn. Seine älteste Tochter Christine wird Augenzeugin des Attentats im Gasthaus. "Schockiert rief sie meine Frau noch vom Tatort aus an: 'Ich glaube, der Papa ist tot.' Die Tage darauf wachte sie gemeinsam mit meiner Frau an meinem Krankenbett, damit jemand bei mir war, wenn ich, ohne zu wissen, was passiert war, aus dem Koma aufwachte", heißt es dazu in dem Memoiren, aus denen der "Stern" zitiert.

Schäuble lebte fortan im Rollstuhl Dem Attentäter machte Schäuble in der Folge keine Vorwürfe, zumindest trug er keine nach außen. Der Sohn eines Bürgermeisters litt unter einer Psychose, Schäuble war ein Zufallsopfer, er hatte ihm sogar einmal geholfen. "Ich hatte mich dafür eingesetzt, ihn aus einem ausländischen Gefängnis nach Deutschland zu verlegen." Das Attentat sah Schäuble als Unfall. "Ich habe fortan die Folgen einer Krankheit eines anderen Menschen zu tragen." Es folgte ein Leben im Rollstuhl, seine Frau suchte unermüdlich nach Reha-Möglichkeiten, alle Versuche prallten am Kopfmenschen Schäuble ab. "Auf mehr als Akupunktur ließ ich mich nicht ein."

Relativ förmlich: Das schrieb die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel ins Kondolenzbuch des Bundestages
Relativ förmlich: Das schrieb die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel ins Kondolenzbuch des Bundestages
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Warum er sich mit Kohl überwarf 

Das Verhältnis zwischen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble hatte seine Höhen und Tiefen, während der Flüchtlingskrise kam es in den Niederungen an. Schäuble kannte das, er war mit Helmut Kohl hochgeflogen, ehe der ihn abstürzen ließ. Ihn als Maschinisten des Langzeitkanzlers zu bezeichnen wäre unter seiner Würde, aber er bestellte für Kohl das Hinterland, hielt ihm den Rücken frei, die Partei bei Laune, im Zweifel auch mit groben Übellaunigkeiten. Innerhalb von ein paar Wochen erarbeitete Schäuble den Einigungsvertrag, der aus BRD und DDR ein Land machte, Kohl ging dafür in die Geschichte ein.

Kohl trickste ihn aus Er war der logische Nachfolger, aber Logik ist in der Politik nicht immer zwingend eine treibende Kraft. Kohl machte sich öffentlich für Schäuble als seinen Nachfolger stark, trat dann selbst zur Bundestagswahl 1998 an, das Fenster schloss sich. Schäuble sollte nie Kanzler werden.

Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Ehefrau Ingeborg, Tochter Juliane and und Ex-US-Außenminister Henry Kissinger 2017 in Berlin
Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Ehefrau Ingeborg, Tochter Juliane and und Ex-US-Außenminister Henry Kissinger 2017 in Berlin
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Wie er die Flüchtlingskrise sah

2015 kommt es zu einem starken Anstrom von Flüchtlingen vor allem aus Syrien. Auch Deutschland ist davon massiv betroffen. Schäuble leidet unter der Zauderhaftigkeit von Angela Merkel, aber man muss zwischen den Zeilen lesen können, um das zu erkennen. "Eigentlich konnte Merkel in jeder Phase wissen, dass sie sich auf mich verlassen konnte", ist in den "Erinnerungen" zu lesen. Umgekehrt formuliert er den Satz nicht, damit lässt er offen, ob er sich "in jeder Phase" auf Merkel verlassen hätte können.

"Wir schaffen das" fand er richtig Trotzdem, ihre Entscheidungen verteidigt er in den Memoiren, etwa in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 die deutschen Grenzen für die vielen aus Ungarn kommenden Flüchtlinge nicht zu schließen. "Auch Merkels Ende August 2015 geäußerten Satz 'Wir schaffen das!' fand ich richtig, ich habe mir ihn in öffentlichen Äußerungen ebenfalls zu eigen gemacht; und auch ihr emotionales Bekenntnis zum 'freundlichen Gesicht Deutschlands' an die Adresse derjenigen, die ihren Entschluss für offene Grenzen kritisierten – 'dann ist das nicht mein Land' –, fand ich glaubwürdig. Das waren starke Statements." Dann schränkt er ein: "Sie hätten eben nur von einer Vielzahl weiterer Maßnahmen und Anstrengungen begleitet werden müssen, um zu verdeutlichen, dass diese einmalige Notmaßnahme unwiederholbar war. (…)"

Merkel zögerlich Schäuble drängte auf einen Flüchtlings-Deal mit der Türkei, hier wird die Kritik an Merkel deutlich. Er habe appelliert, "nicht lediglich die Entwicklungen abzuwarten, um zu spät zu reagieren, sondern planvoll zu agieren und das Heft des Handelns in der Hand zu behalten". ... aber Merkel "blieb zögerlich" ... reiste dann doch in die Türkei, aber "bedauerlicherweise eher zu spät".

50 Jahre Mitglied im Bundestag: Wolfgang Schäuble (CDU) bei einer Rede am 15 Dezember 2022
50 Jahre Mitglied im Bundestag: Wolfgang Schäuble (CDU) bei einer Rede am 15 Dezember 2022
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Ob er Merkel wirklich stürzen wollte

Der Vorgang an sich war weiten Kreisen in Deutschland seit Jahren bekannt, nun wird ihm neue Aufmerksamkeit zuteil. 2015, im Jahr der Flüchtlingskrise, wurde im Hintergrund an der Demontage von Angela Merkel gearbeitet. Der Putsch in der eigenen Partei ging von der bayerischen CSU aus.

"Fast antiquiert" Schäuble beschreibt das in seinen Memoiren so: "Inzwischen wurde auch Edmund Stoiber aktiv und feuerte Seehofer, seinen Nach-Nachfolger im Ministerpräsidentenamt, in dessen Attacken gegen Merkel an. Und mich wollte er dazu bewegen, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden. Ich lehnte das entschieden ab. Wie Jahrzehnte zuvor bei Kohl blieb ich bei meiner Überzeugung, dass der Sturz der eigenen Kanzlerin unserer Partei langfristig nur schaden könnte, ohne das Problem wirklich zu lösen. Das war mein Verständnis von Loyalität, das nach heutigen Maßstäben vielleicht ein wenig antiquiert erscheint."

"Fast ein wenig amüsiert" habe ihn die Debatte, schreibt er, "weil ich ja mein Alter kannte, seit mehr als einem Vierteljahrhundert querschnittsgelähmt war und insgesamt eine angeschlagene Gesundheit hatte. Vielfach hatte ich in den Jahren zuvor meine Nachrufe lesen können – und jetzt sollte ich, dessen Karriere angeblich immer 'unvollendet' geblieben war, endlich den Sprung ins Kanzleramt wagen? Das war einigermaßen absurd."

Wolfgang Schäuble, "Erinnerungen: Mein Leben in der Politik", 656 Seiten, Klett-Cotta, 39,10 Euro

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