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Müssen wir uns vor einem russischen Atomschlag fürchten?
Putins neuer Terror: Erstmals setzte Russland eine russische Hyperschall-Rakete ein. Bundesheer-Oberst Markus Reisner über die Eskalation, den Ukrainekrieg und ob die Gefahr besteht, dass Moskau tatsächlich Nuklearwaffen einsetzt.
Die jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg lassen derzeit rund um den Erdball die Alarmglocken schrillen. Die Ereignisse der vergangenen zwei Wochen im Schnelldurchlauf:
USA genehmigen Angriffe im russischen Hinterland Zunächst erlauben die USA (und kurz darauf auch Großbritannien) erstmals den Einsatz von Waffensystemen, mit denen die Ukraine auch Ziele tief im russischen Hinterland angreifen kann – eine Möglichkeit, die von den USA, den wichtigsten Verbündeten der Ukraine, zuvor über zweieinhalb Jahre lang kategorisch ausgeschlossen wurde.
Gute Verhandlungsposition für die Ukraine Dies passiert wohl unter dem Eindruck des Wahlsieges von Donald Trump. Da der Republikaner mehrfach angekündigt hat, den Ukraine-Krieg "binnen 24 Stunden beenden" zu wollen, wird erwartet, dass er schon bald nach der Amtsübernahme am 20. Jänner 2025 die Militärhilfe für die Ukraine drastisch drosseln und die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zwingen wird. Für diesen Fall soll die Ukraine jetzt, quasi auf den letzten Metern der Präsidentschaft von Joe Biden, mit militärischen Mitteln in eine möglichst günstige Verhandlungsposition gebracht werden.
Russland antwortet mit neuer Rakete Als Antwort auf diese Eskalation der Lage, feuert Russland am Donnerstag, dem 21. November, erstmals einen angeblich vollkommen neuen Raketentyp auf die ostukrainische Stadt Dnipro. Die Hyperschallrakete war mit konventionellen Bomben bestückt, hätte aber auch mehrere Atomsprengköpfe an ihr Ziel tragen können.
Die Rute ins Fenster gestellt In einer anschließenden Stellungnahme im TV stellt Russlands Präsident Wladimir Putin dem Westen unverhohlen die Rute ins Fenster. Er erklärt, der Ukraine-Krieg habe mittlerweile "Elemente eines globalen Charakters". Und Russland habe das Recht, Staaten anzugreifen, deren Waffen die Ukraine für Angriffe auf Russland verwende: "Im Fall einer Eskalation aggressiver Handlungen werden wir entschieden spiegelbildlich handeln", so Putin. Und alle Staaten, die der Ukraine den Einsatz eigener Waffen erlaubten, seien legitime Ziele.
Russland ändert Atomdoktrin Und um den Drohgebärden noch mehr Gewicht zu verleihen, verschärft Russland auch seine atomare Strategie deutlich und hält in seiner Atomdoktrin fest, dass es ab sofort die militärische Unterstützung von Atommächten für Nicht-Atom-Staaten als gemeinsamen Angriff dieser Länder auf Russland werten und dementsprechend reagieren werde.
Auch der Westen schärft nach Auf diese Änderung hin wollen nun auch die USA ihre Atomstrategie an die neue Situation anpassen. Und das Verteidigungsbündnis NATO hat für kommenden Dienstag, den 26. November, seinen Ukraine-Rat einberufen, um über die aktuellsten Ereignisse und die möglichen Schlüsse daraus zu beraten.
Die Konfliktparteien schaukeln sich also gegenseitig hoch und steigen die Eskalations-Leiter Sprosse für Sprosse nach oben. Und vielerorts wächst die Angst, dass sich dieser ohnehin bereits erbarmungslos geführte Krieg zu einer Auseinandersetzung entwickelt, bei der auch der Einsatz von Nuklearwaffen nicht mehr ausgeschlossen ist. Wie die aktuelle Eskalation einzuschätzen ist, wie (un-)überlegt die Kriegsparteien derzeit agieren und wie groß die Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs tatsächlich ist. Bundesheer-Oberst Markus Reisner ist Historiker, Rechtswissenschafter und TV-Experte. So sieht er die Lage:
Wie kam es zur Eskalation des Krieges nach der Wahl von Donald Trump?
Ziel der aktuellen US-Regierung ist es, die Ukraine in die Lage zu versetzen, die von ihr zwischenzeitlich eroberten Gebiete der russischen Region Kursk so lange zu halten, bis der neue US-Präsident Trump im Amt ist. Aus diesem Grund wurde der Ukraine unmittelbar nach der Wahl Trumps erlaubt, Boden-Boden-Raketen vom Typ ATACMS einzusetzen, was dann auch geschehen ist.
Was weiß man über diesen Angriff?
Die US-Regierung kündigte ganz konkret an, wo die ATACMS eingesetzt werden sollten, nämlich im Großraum Kursk. Tatsächlich wurde dann ein russisches Munitionsdepot in der Nähe von Brijansk getroffen. Man folgte also der Ankündigung, aber im begrenztem Umfang.
Danach erlaubte auch Großbritannien der Ukraine den Einsatz seiner "Storm Shadow"-Marschflugkörper …
Ja, und auch Frankreich jenen der baugleichen SCALP. Während Deutschland und Italien diesem Beispiel nicht folgten, sondern eine Erlaubnis des Einsatzes dieser Waffen ausschlossen. Auch hier sahen wir einen rationalen, abgestimmten Schritt.
Was konnten die britischen und französischen Waffen ausrichten?
Sie trafen das Hauptquartier der russischen "Nord"-Gruppierung in der Nähe von Maryino. Auch dieser Angriff kam für die Gegenseite nicht unerwartet und wurde in dem zuvor angekündigten Gebiet in der Region Kursk durchgeführt.
Wie reagierte Russland darauf?
Russland führte hybride Angriffe in der Ostsee und in Europa durch. So konnten wir gezielte Sabotage an zwei Unterseekabeln sehen, IT-Ausfälle bei British Airways, eine Störung in einem großen norwegischen Öl- und Gasfeld sowie technische Herausforderungen in zwei finnischen Kraftwerken, die zeitgleich geschahen. Zudem änderte Russland seine Nukleardoktrin und kündigte die Umsetzung weiterer Gegenmaßnahmen an. Als Höhepunkt der Eskalation wurde eine bisher unbekannte Mittelstreckenrakete vom Typ "Oreshnik" mit hoher Reichweite auf die ukrainische Stadt Dnipro abgefeuert.
Was weiß man über diese Rakete?
Sie fliegt mit bis zu 11-facher Schallgeschwindigkeit, führt mehrere Sprengköpfe mit sich und stößt vor dem Aufprall außerdem Täuschkörper aus. Zusätzlich zur Geschwindigkeit und Flugbahn erschweren auch diese Täuschkörper das Abfangen der Rakete. Sie steigt bis auf eine Höhe von etwa 2.500 Kilometer, damit ist sie in der äußersten Schicht der Erdatmosphäre unterwegs.
Ukrainische Videos zeigen die Hyperschallrakete im Anflug auf die Stadt Dnipro
Was wurde damit angegriffen?
Eine Waffenfabrik in Dnipro, die Raketenkomponenten herstellt. Mit der Auswahl des Ziels möchte die russische Seite zeigen, dass eine bedeutende ukrainische Raketenproduktion von russischer Seite verhindert werden kann.
Wie ist diese Eskalation der Auseinandersetzung zu bewerten?
Die Maßnahmen zur Eskalation werden aktiv von den USA, von Großbritannien, Frankreich sowie von Russland ergriffen. Die Eskalation folgt einer Logik, sie ist rational. Und in ihren Handlungen – auch wenn uns das verrückt vorkommt – ist sie wohl überlegt. Jeder Schritt erfolgt im Moment noch kontrolliert und zeigt, dass sich beide Seiten an die Regeln halten. Alles in allem folgen die handelnden Parteien quasi einem "Nuclear Playbook", also einem definierten strategischen nuklearen Ablauf- bzw. Eskalationsplan. Im Moment sind die USA wieder am Zug. Der nächste Schritt Russlands wird von ihrem Verhalten abhängen.
Wer legt einen derartigen Ablaufplan fest?
Das Setzen von gezielten Eskalationsmaßnahmen ist Teil der Nuklear- und Abschreckungsstrategien von Atommächten. Man fährt die Eskalation wechselseitig Schritt für Schritt hoch, bis eine Seite einlenkt. Man eskaliert, um zu de-eskalieren. Im Kalten Krieg geschah dies immer wieder.
Wie müssten sich USA an diesem Punkt verhalten, wenn sie ihrem strategischen nuklearen Ablaufplan folgen?
Das kann man nicht sagen, denn der Einsatz der Mittelstreckenrakete "Oreshnik" war der erste seiner Art. Das heißt, von nun an weiß niemand, wie es weitergehen wird. Es gibt für diese neue Situation keine Regeln, nur Empfehlungen, gemäß der jeweiligen Ablaufpläne.
Welche theoretischen Möglichkeiten bestehen?
Entweder man klettert die Eskalationsleiter weiter hoch, oder man versucht wieder zu deeskalieren. Sollten sich etwa die Angriffe mit westlichen Waffensystemen auf russischem Boden ausweiten, könnte es z. B. zu weiteren hybriden Angriffen auf westliche Infrastruktur kommen, es könnte einen offiziell durchgeführten Atomtest geben oder zu einer Höhenzündung einer Atomwaffe über dem Schwarzen Meer kommen.
Was würde bei solch einer Atomexplosion in größerer Höhe geschehen?
Damit würde man die Lage weiter eskalieren, ohne zu große Schäden am Boden zu verursachen.
Aber welche Schäden würden dabei entstehen?
Es gäbe einen Elektromagnetischen Puls (EMP), also eine kurzzeitiges sehr starkes elektromagnetisches Feld von begrenztem Ausmaß, das zu Schäden an der elektronischen Infrastruktur führt. Aber der nukleare Fallout würde nur sehr gering ausfallen und zu keinen kurzfristigen Verstrahlungen am Boden führen. Vor allem aber wäre der weltweite Schockeffekt einer solchen Handlung gewaltig.
Wovon wird die Reaktion des Westens auf den Raketenbeschuss abhängen?
Die erste Maßnahem haben die USA bereits gesetzt, indem sie angekündigt haben, ihre Nuklear-Doktrin zu adaptieren. Alles Weitere wird auf jeden Fall davon abhängen, welche Waffen und Systeme man zur Verfügung hat – und welche man auch bereit ist einzusetzen. Das ist auf beiden Seiten die große Unbekannte. Niemand kann genau sagen, welche Pfeile der jeweils andere in seinem Köcher hat. Von westlicher Seite wurde etwa die für Russland verfügbare Zahl an Kh-47 "Kinschal"-Raketen in diesem Konflikt falsch eingeschätzt. Und ich denke, die USA haben auch noch ein paar Überraschungen für die Russen parat.
Inwiefern wurde die Zahl dieser Raketen falsch eingeschätzt? Und was ergibt sich daraus?
Man rechnete am Beginn des Krieges damit, dass Russland nur etwa 10 bis 12 Stück davon zur Verfügung hat. Bis jetzt wurden aber bereits weit mehr eingesetzt. Das bedeutet, Russland hat eine geringe, aber konstante Produktion dieses Waffensystems. Man schätzt jetzt, dass Russland im Monat trotz Sanktionen bis zu 150 Marschflugkörper produzieren kann.
Nach ukrainischen Angaben kämpfen mittlerweile auch nordkoreanische Soldaten auf russischer Seite. Was bedeutet diese Eskalation für den Konflikt?
Hier geht es vor allem um die Symbolik. Russland möchte zeigen, man hat die besseren Verbündeten. Nordkorea liefert dieses Jahr bereits zum zweiten Mal 3 Millionen Artilleriegranaten.
Wie verhält sich China? Ist abzusehen, ob bzw. in welcher Form Peking in den Konflikt eingreifen könnte?
China beobachtet aufmerksam die Reaktion der USA und Europas. Es lernt daraus und zieht Rückschlüsse für etwaige eigene Pläne. Dies betrifft z. B. eine mögliche Eskalation des Taiwan-Konflikts.
Putin rasselt derzeit sehr laut mit dem Säbel. Müssen wir uns vor einem russischen Atomschlag fürchten?
Diese Frage haben wir uns offiziell schon während der Kubakrise im Jahr 1962 gestellt und noch ein paar weitere Male innoffiziell in den Folge-Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges. Schließlich kamen die Entscheidungsträger immer zur Vernunft und zu einer Einigung.
Die russischen Hyperschallraketen können ganz Europa – und damit auch Österreich – binnen Minuten erreichen. Ist so eine Eskalation des Krieges denkbar?
Das deutet Russland mit dem Abfeuern der Rakete bewusst an und führt damit gezielt einen Krieg gegen uns, und zwar im sogenannten Informationsraum. Also überall dort, wo öffentliche Meinung entsteht und öffentliche Debatten stattfinden. Das klingt zwar hart, ist aber so. Denn der Informationsraum ist ein wichtiges Schlachtfeld der modernen Kriegsführung geworden. Und wir alle sind Teil davon. Ziel der Provokateure sind Einschüchterung, Panik und Angst. So wird Druck auf die relevanten Entscheidungsträger ausgeübt. Im Prinzip sehen wir eine nukleare Erpressung, der wir hier ausgesetzt sind.
Wird der designierte US-Präsident Donald Trump den Krieg wirklich "binnen 24 Stunden beenden" können, wie er behauptet?
Das wird alleine schon deshalb nicht möglich sein, weil die Ukraine vorerst weiterkämpfen wird. Jedoch werden die ukrainischen Streitkräfte bei einem Ausbleiben wichtiger militärischer Unterstützung schnell an ihre Grenzen stoßen und im schlimmsten Fall kapitulieren müssen. Ob Europa die USA punkto Militärhilfe ersetzen kann, ist äußerst ungewiss.
Welches Szenario ist als Kriegs-Ende am wahrscheinlichsten? Und wann könnte das frühestens eintreten?
Im Moment ist es am wahrscheinlichsten, dass auch dieser Krieg irgendwann schließlich am Verhandlungstisch Gegenstand von Gesprächen wird. Und das Ergebnis dieser Verhandlungen, also z.B. zuerst ein Waffenstillstand, wenn auch vorerst nur fragil und von kurzer Dauer, wird vom Zustand der jeweiligen Kriegsparteien abhängen. Im Moment verschlechtert sich die Lage für die Ukraine stetig, während sich Russland auf der Siegerstraße wähnt. Mit permanenten Angriffen auf die kritische Infrastruktur der Ukraine wird Russland im bevorstehenden Winter massiv Druck ausüben. Über das Ergebnis etwaiger Friedensverhandlungen entscheiden schließlich die USA und Russland. Indien und China agieren dabei als mögliche Vermittler, Europa ist zum Zusehen verdammt.
Markus Reisner ist promovierter Historiker und Rechtswissenschafter. Der Oberst des Österreichischen Bundesheeres leitet seit 1. März 2024 das Institut für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Er hat Auslandseinsätze in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan, im Tschad, im Irak und in der Zentralafrikanischen Republik absolviert, war aus Studiengründen mehrmals in Moskau, hat zahlreiche Fachbücher geschrieben. Die meisten kennen ihn von den vielen TV-Auftritten im Fernsehen in Österreich und Deutschland sowie aus Interviews in anderen Medien