Kopfnüsse
"Operation Zuckerguss": Warum plötzlich alle die Regierung anbeten
Serien-Interviews ohne Aussage, der Schmäh um den Familiennachzug, Debatten Fehlanzeige: Trotzdem schlägt der neuen Regierung eine Welle des Wohlwollens entgegen. Woran das liegt und warum sie sich darauf nicht ausruhen sollte.

Die bessere Nachricht ist die Feindin der guten. Also: Claudia Plakolm muss nicht mehr am Boden sitzen, Mittzon wurde inzwischen geliefert. Nur falls Sie sich vergangene Woche vollkommen berechtigt Sorgen um die Bundesministerin gemacht haben sollten. Sie ist zwar weiter ohne Portefeuille, das allerdings nun immerhin mit Fauteuil. Aber vielleicht alles der Reihe nach.
Mit KI-Stimme: Warum alle die neue Regierung anbeten
Ein bisschen Ordnung schadet dem Leben nämlich nicht. Das erkannten auch unsere deutschen Nachbarn und zogen daraus den einzig richtigen Schluss: es wurde Zeit für eine Handreichung.
In den vergangenen Monaten hatte Deutschland mit etwas Argwohn auf Österreich geblickt. Es ging dabei zunächst um die Frage, welche Pläne wir mit den Blauen hegen, danach, was bei Türkis, Rot und Pink schwarz auf weiß dasteht. Jetzt sind auch in Deutschland Regierungsverhandlungen angelaufen und sie haben selber den Schriftsalat.



In Österreich herrschte ein gewisser Wildwuchs. Offiziell bastelten im Herbst so ungefähr genau 300 Personen an einer neuen Regierung, tatsächlich waren es 238, einige Verhandler saßen in mehreren Gremien. Die 33 Untergruppen waren unterschiedlich groß, trafen sich häufig oder selten zu unterschiedlichsten Zeiten an unterschiedlichsten Orten und redeten dabei ohne nennenswerte Vorgaben über dies und das.
In Deutschland nicht. Da bestückten CDU/CSU und SPD exakt 16 Untergruppen mit exakt je 16 Personen. Und damit die nicht ewig quatschen, tickt die Uhr. Montag, 24. März 2025 muss alles fertig sein und das nicht irgendwann, sondern Punkt 17 Uhr.
In Österreich herrschte das Prinzip Kraut und Rüben. Dokumente, die von den Arbeitsgruppen abgegeben wurden, hatten unterschiedliche Farben, Schriftarten, sie waren ausformuliert oder reine Punktationen, verschieden markiert, einige dicht, andere luftig gestaltet.
In Deutschland: "Schriftgröße 11, Schriftfarbe schwarz Calibri, Zeilenabstand 1,5".

So wurde es in einer eigenen "Handreichung zu den Koalitionsverhandlungen 2025" festgeschrieben, der Spiegel berichtete darüber. Sogar die Arbeitszeiten wurden klar geregelt. "Verhandlungen können an allen Tagen stattfinden. Die Verhandlungszeit liegt in der Regel zwischen 11 und 17 Uhr".
So viel lässt sich sagen: Was immer bei den deutschen Koalitionsverhandlungen herauskommen mag, es wird jedenfalls zu Bürozeiten passiert sein.
Kichererbsen-Möhrensuppe oder doch Königsberger Klopse? Wünsche zum Essen können "über zentrale E-Mail-Adressen mitgeteilt werden", wurde in der Handreichung fixiert. Nimmt man sein Mahl auswärts zu sich, soll die Rechnung "an die CDU-Bundesgeschäftsstelle geschickt werden." Von dort werden die Kosten später "auf alle Beteiligten aufgeteilt." Das Kapitel Bürokratieabbau beginnt vielversprechend.
Am Ende wird den Verhandlern noch eingeschärft, die Klappe zu halten, es ist in der Handreichung freilich etwas eleganter formuliert. "Medienarbeit" solle man "bitte nicht machen". Also: "keine Statements, keine Pressekonferenzen, keine Kommunikation von Zwischenergebnissen". Vor allem aber: "keine Selfies."

In solchen Momenten stellt sich für viele Politikerinnen und Politiker aktuellen Zuschnitts die Sinnfrage. Ein Leben ohne Social Media ist natürlich möglich, aber sinnlos. Das war spätestens diese Woche auch in Österreich zu beobachten. Da nahmen die Mitglieder der neuen Bundesregierung die Zügel in die Hand, einige davon vor allem auf Instagram oder ähnlichen Handreichungen.
Der designierte Bildungsminister postete das Titelbild der aktuellen Profil-Ausgabe, es zeigt ihn selbst. Der designierte Wirtschaftsminister empfahl ein Interview im Standard, es war mit ihm geführt worden. Die designierte Familienministerin veröffentlichte ein Foto von sich, es zeigt sie beim Telefonieren, sie sitzt dabei am Boden. Dort, wo ihr Konferenztisch hinkommen sollte.
Der stand zu diesem Zeitpunkt noch bei Ikea, Modell Mittzon in weiß, 140 Mal 68 Mal 105 Zentimeter für 149 Euro.* Ein eher hässliches Möbelstück, was das Büro von Claudia Plakolm wild bestreitet. Vielleicht ist es so wie bei vielen Dingen im Leben, man gewöhnt sich daran. Denn inzwischen wurde Mitzon geliefert und unfallfrei aufgestellt, auch einen Sessel gibt es.
Ich kann mir ein Werturteil erlauben, denn ich kenne inzwischen die gesamte Verwandtschaft von Mittzon. Ich war nämlich am Samstag, wenn auch aus anderen Gründen, bei Ikea und habe mir die Sippschaft anschaut. Auf Augenhöhe natürlich.

Am Samstag war bei Ikea Pyjamatag, das wussten alle, außer ich. Wer im Schlafgewand kam, erhielt ein Frühstück gratis. Eines hat der Österreicher immer, egal wie die Zeiten sind – Hunger. Deshalb war der Möbelladen ziemlich voll, zwischen die Besucher hätte kein Imbusschlüssel gepasst.
Als ich die ersten Kunden in Bademänteln sah, dachte ich, da trifft sich der Fanklub von Udo Jürgens. Aber dann tauchten immer mehr Menschen in Seidenpyjamas mit Mond-Ornamenten oder gewagteren Modellen in Frottee auf, einige trugen dazu Schlafmasken auf der Stirn. Es war traumhaft.
Auch die Angestellten von Ikea hatten sich den Umständen angepasst. Man fragte an diesem Samstag also Menschen mit Schlafmützen auf dem Kopf nach Regalnummern von Produkten. Oder nach dem Ausgang.
Mittzon gibt es auch in höhenverstellbar, jeder Schreibtisch, der etwas auf sich hält, ist das momentan. Rauf, runter, wer im Büro jetzt noch einen klassischen Schreibtisch hat, telefoniert auch mit Festnetz und faxt. Die anderen fahren den ganzen Tag über die Tischplatte nach oben und nach unten, das soll gut fürs Kreuz sein. Gut ist es jedenfalls für Möbelgeschäfte, die können ein paar Kreuzer mehr verlangen.

Die Mitglieder der Regierung Stocker I. begannen diese Woche damit, sich selbst hochzufahren. Plötzlich wollten alle Interviews geben, in Schwärmen flogen sie aus, obwohl einige erst Anfang April auf ihre tatsächlichen Ämter angelobt werden.
Die Medien das Landes wurden mit Anfragen so stark bedrängt, dass sie sich kaum mehr zu wehren wussten. Also versuchten sie es erst gar nicht.
Der Politikteil vieler Zeitungen bestand in den vergangenen Tagen mehr oder weniger aus einer Abfolge von Interviews. In der Kronen Zeitungen entäußerten sich innerhalb von drei Tagen sechs Ministerinnen oder Minister. Claudia Plakolm postete am Freitag auf Instagram freudig, zehn Interviews am Stück absolviert zu haben, immer in anderer Damenoberbekleidung.
Für den Standard ("mein Leitbild ist das von Vater, Mutter und Kindern") trug sie einen türkisen Blazer. In der Presse ("unsere Systeme stoßen an die Grenze") war der Blazer beige, in der Kleinen Zeitung ("unsere Hilfsbereitschaft darf nicht missbraucht werden") petrolfarben, in den Bezirksblättern ("aufhören, mit christlichen Traditionen zu fremdeln") blau.
Für die Kronen Zeitung zeigte sich Plakolm (beiger Mantel) "offen wie nie zuvor" und spazierte aus diesem Grund für ein Lichtbild "mit Freund Christoph Bauer den Donaustrand Kramesau entlang". Sie brüstete sich damit, dass es "bis heute kein gemeinsames Foto" mit dem Partner in den sozialen Medien gegeben habe. Ich kenne Leute, die litten deswegen an gar keinen groben Mangelerscheinungen.

In der Sonntags-Krone machte sich Conny Bischofberger daran, den Buddha von Wiener Neustadt zu enträtseln. Ich weiß jetzt immerhin, dass Christian Stocker (blaues Sakko) in der Volksschule Zigaretten der Marke Nil geraucht hat. In der Volksschule, das steht so da. Mir hatten im Alter von 9 Jahren sogar die Schoko-Glimmstängel zu viel Nikotin.
Aber vielleicht war Stocker als Bub ein wilder Hund, so eine Art Indiana Jones vom Flugfeld, der Buddha kam erst später. Bis dahin hat er sicher wilde Sachen gemacht. Nach ein paar Zügen Nil das Highriser-Radl vom großen Bruder kurzgeschlossen oder sich eine neue Folge Dschi Dschei Wischer illegal auf den Walkman runtergezogen.
Die Mitglieder der neuen Regierung, das stellte sich in der Interview-Orgie schnell heraus, waren nicht angetreten, um sich zu offenbaren. Sie folgten einem inneren Drang, sich zu äußern. Und einem äußeren Druck, ihr Innerstes nicht nach außen zu kehren. Sie wollten ihre Anwesenheit dokumentieren, das ist gelungen, mehr aber auch nicht.

Ein picksüßer Zuckerguss legt sich über das Land und die Medien helfen emsig beim Auftragen mit. Der Kanzler, der Vizekanzler, die Ministerinnen und Minister werden derzeit in Serie als nette Leute präsentiert und porträtiert. Nach der Lektüre würde man gerne das Reihenhaus neben ihnen kaufen, dann kann man abends hin und wieder zum Grillen über den Zaun kommen.
Sogar der Finanzminister ist jetzt ein Netter. Eben noch galt Markus Marterbauer als ultralinker Fundi, am Sprung, Kreuze gegen Karl Marx-Statuen auszutauschen. Zwei Wochen im Amt, ein paar Interviews, jetzt erwarten wir ihn in der nächsten Staffel Dancing Stars. Zuckerguss.
Erbschaftssteuern? Vermögenssteuern? Findet Marterbauer immer noch gut, stehen aber nicht im Regierungsprogramm, also kommen sie bis 2029 nicht. Ende der Geschichte. Cha Cha Cha.
Der Kanzler gab am Freitag eine simple Pressekonferenz, der Strom an Neuigkeiten uferte dabei nicht aus. Stocker saß da wie Stocker, sah aus wie Stocker, redete wie Stocker, blieb vage wie Stocker, aber nicht wenige Berichte über die Veranstaltung lesen sich, als wäre eine neue Version von "Das Leben des Brian" zur Aufführung gelangt. "Christian, gib uns ein Zeichen!" Zuckerguss.

Ich verstehe das. Nach Monaten voller Zank und Hader ist Harmonie gefragt. Auch in den Medien. Ich lese jetzt überall, dass der Kanzler wunderbar fad sei und die Regierung so nett und freundlich miteinander umgehe. Ganz ein anderer Stil sei das, ein Segen für das Land. Ein mutiger Befund nach nicht einmal zwei Wochen. Zuckerguss.
Vor allem unter diesen Umständen. Im Nationalrat sitzen fünf Parteien, davon gehören drei der Regierung an. Die Grünen befinden sich im Interregnum, Werner Kogler steht vor dem Rückzug, was danach kommt, ist unklar. Die Fortsetzung des Kogler-Kurses, oder kantige Oppositionspolitik unter Sigi Maurer? Bis dahin: Zuckerguss.
Natürlich gibt es eine Opposition, die FPÖ. Leckt ihre Wunden, macht FPÖ-Sachen, aber sonst? Die Regierung hat erstaunlich wenig Widerstand.


Der Zuckerguss ist auch eine Gefahr. Er greift die Zähne an. Er nimmt den Biss. Er deckt Diskussionen zu, die dringend zu führen wären. Über die Aufrüstung etwa. Über die 800 Milliarden Euro, die von der EU nun in die Hand genommen werden sollen.
Wir müssen den alten Muatterln mehr Geld für die Krankenkasse aus der Tasche ziehen, aber Europa gibt einfach so 800 Milliarden Euro aus? Sie klopfen dir auf die Finger, wenn dein Budgetdefizit ein Fußbreit das Limit überschreitet. Aber wenn du richtig die Sau rauslässt, interessiert das kein Schwein.
Auch über die Show der Regierung wird wenig geredet. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn eine Koalition aus FPÖ und ÖVP den Stopp des Familiennachzugs verkündet hätte. Empörung, Demos, Lichtermeere, jede Zweigstelle der "Omas gegen Rechts" wäre vor dem Kanzleramt aufmarschiert. Aber so? Ein laues Lüfterl. Zuckerguss.

Der Kanzler und der Innenminister kamen sogar mit dem Schmäh der Unmittelbarkeit durch. "Sofort" werde der Familiennachzug gestoppt, verkündeten beide. Aber was heißt "sofort" und wann beginnt es? Ist "sofort" also gleich, unverzüglich, postwendend? Oder wie das Ablaufdatum bei Backerbsen? Tritt in Kraft, das bedeutet aber nichts. Es stellte sich heraus: "Sofort" ist das neue bald.
Präsentation des Regierungsprogrammes am 27. Februar: "Der Familiennachzug wird mit sofortiger Wirkung vorübergehend gestoppt."
ORF-Interview am 3. März: Sofort ist jetzt", sagt der Kanzler.
Pressekonferenz nach dem Ministerrat am 5. März: "Wir haben entschieden, dass wir den Familiennachzug mit sofortiger Wirkung aussetzen wollen", wiederholt der Kanzler.

Der Paragraf könne "in spätestens einem halben Jahr" in Kraft sein, sagt der Innenminister dann am Mittwoch. Am Abend desselben Tages sitzt er bei Armin Wolf in der ZiB 2. "Ab jetzt ist der Familiennachzug gestoppt," so Gerhard Karner dort. Aber auch: Das Gesetz werde gerade von den Legisten ausgearbeitet.
Am nächsten Tag schickt sein Ministerium aus: "In der Ministerratssitzung am 12. März 2025 wurde ein sofortiger Stopp des Familiennachzugs nach Österreich beschlossen."
Die SPÖ nickt das ab. Am 22. Juni 2024 hatten Parteichef Andreas Babler, seine heutige Frauenministerin Eva-Maria Holzleitner und der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser den "Masterplan zu Asyl, Migration und Integration" präsentiert. Das seit 2018 bestehende "Doskozil-Kaiser-Papier" sei "nachgeschärft" worden, herausgekommen sei ein "offensives Papier" mit Handlungsansätzen, sagte Babler.
Unter der Überschrift "Integration ab dem 1. Tag" findet sich darin ein aus heutiger Sicht bemerkenswerter Satz: "Familiennachzug ist ein Recht".

Räumen wir einmal den Zuckerguss weg: Die Politiker waren wohl die Einzigen im Land, die vor drei Jahren nicht geahnt haben, was beim Familiennachzug passieren wird. Sonst hätten sie das ja gemanagt. Nicht alle Familien in Wien ansiedeln lassen, sondern auf die Bundesländer verteilt. Die Schulen vorbereitet, Sprachkurse gecheckt. Pläne aufgestellt, wer wann kommen kann.
Nachzug ist ja nichts grundsätzlich Teuflisches. Wenn er gut organisiert wird, hegt er im besten Fall die vielen allein angereisten jungen Männer in einen Familienverband ein.

Geschehen ist dann das: 2023 kamen 9.254 Angehörige nach, 2024 waren es 7.762 Personen. Nachdem also 17.016 Menschen ins Land gekommen waren, ziehen der Kanzler und der Innenminister und in ihrem Sog die gesamte Regierung Zornesfalten auf, stampfen mit dem Fuß auf den Boden und verfügen einen sofortigen Stopp der Vorgänge.
Die sind allerdings schon gestoppt, aus natürlichen Gründen und weil bereits Maßnahmen gesetzt wurden. Im März 2024 gab es noch 1.300 Einreisen, im August 2024 nur mehr 100, im Februar 2025 dann 60, im März 2025 werden es 30 bis 40 sein, sagt der Innenminister selbst.
Wenn die Legisten im Herbst dann ihr Gesetz fertig haben, wird es vielleicht gar niemanden mehr geben, der gestoppt werden kann.
Ich wünsche einen zuckergusssüßen Sonntag. Am Freitag feierte Dancing Stars ein Comeback und Moderatorin Mirjam Weichselbraun definierte, was in der Show schon als Erfolg gilt: "Niemand hat's bumm-zack auf die Goschn g'haut". Vielleicht sollte die Regierung das als Richtschnur nehmen.
Bis in einer kleinen Weile!
*Die Daten von Mittzon wurden korrigiert.