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Protokoll einer Pleite: Wie Leuchttürme zu Ruinen wurden

Politische Chaostage in Wien: 96 Tage nach der Nationalratswahl wurde am Freitag keine Regierung fixiert, das aber so richtig. Wie die NEOS ab Silvester ihren Absprung planten, warum ÖVP und SPÖ nichts ahnten und was jetzt passiert.

Schuld und Bühne: NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger am Freitag bei der Ansage der Absage
Schuld und Bühne: NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger am Freitag bei der Ansage der Absage
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Historische Ereignisse haben oft ihre eigene Symbolik. Über diesen Freitag wird vielleicht später einmal in den Schulbüchern der Satz zu lesen sein: Am 3. Jänner 2025 fiel um 10.38 Uhr an der Adresse Heumarkt 7 in Wien das Blatt eines Gummibaums zu Boden und das durchaus geräuschvoll.

Dieser Gummibaum, und das macht ihn bedeutsam, steht in der NEOSphäre. So nennen die NEOS ihre Parteizentrale. Als sich am Freitagvormittag das Blatt wendete, stand Beate Meinl-Reisinger drei Meter vom Gummibaum entfernt und beendete gerade ein Stück Zeitgeschichte, dem noch gar keine Chance eingeräumt worden war, ein Stück Zeitgeschichte zu werden.

Mit KI-Stimme: Wie Leuchttürme zu Ruinen wurden

Die österreichische Dreier-Koalition* wird es in dieser Form nicht geben, das steht seit Freitag fest. Der Lichtblick an diesem 3. Jänner war: Für das fragile Konstrukt aus ÖVP, SPÖ und NEOS muss nun kein Name mehr gesucht werden. Der Zuckerl-Koalition ging der Süßstoff aus.

Als dieses Was-auch-immer beendet wurde, machte sich Österreich gerade warm fürs Skispringen. Die Vierschanzentournee legte in Innsbruck ihren dritten Halt ein, am Freitag stand das Qualifikationsspringen am Plan. Das Land erlebte an diesem Tag also zweierlei Arten von Absprüngen: eine führte in den Schnee, die andere aus der Regierung.

Der erste gemeinsame Auftritt der Dreier-Combo am 18. November ...
Der erste gemeinsame Auftritt der Dreier-Combo am 18. November ...
Helmut Graf
... über das gegenseitige Beäugen kam man in Wahrheit nie hinaus
... über das gegenseitige Beäugen kam man in Wahrheit nie hinaus
Helmut Graf

Die Dramatik dahinter hatte nicht einmal Baba Wanga am Radar. Die blinde bulgarische Wahrsagerin wird in Medien gern zu Jahreswechseln zur Zukunft befragt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten natürlich. Baba Wanga ist nämlich schon seit 28 Jahren tot, für die Astro-Show im ORF wäre sie kein geeigneter Studiogast mehr.

Die Seherin hat aber in weiser Voraussicht angeblich bis ins Jahr 5079 Prognosen abgegeben. Schriftlich und eher in groben Linien. Es ist kompliziert.

Für 2025 sagte sie einen Konflikt auf europäischem Boden vorher, der die Zerstörung der Menschheit einleitet. Nun passierte am 3. Jänner in Österreich tatsächlich Gravierendes, Stand jetzt wurde dadurch aber lediglich die eine oder andere Karrieren zerstört, nicht jedoch gleich die gesamte Menschheit.

Der Freitag begann in Österreich mit einer gewissen Unbeschwertheit. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Regierungs-Verhandlungen tatsächlich schon geplatzt waren, erschienen die Tageszeitungen des Landes mit fröhlichen Spekulationen über künftige Ministerinnen und Minister.

Das gehört zur Folklore von Koalitionsgesprächen, zur österreichischen Leitkultur also, und sollte in einem künftigen Regierungs-Programm unbedingt festgeschrieben werden. Man weiß nun nur nicht mehr von wem.

Null Inhalt: Der zweite gemeinsame Auftritt am 17. Dezember sorgte für Kopfschütteln
Null Inhalt: Der zweite gemeinsame Auftritt am 17. Dezember sorgte für Kopfschütteln
Helmut Graf

Die Regierungsverhandler hatten sich in den vergangenen beiden Wochen immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen getroffen. Am Tag vor dem Heiligen Abend bis 17.30 Uhr, am 27. Dezember ohne Parteichefs, am 30. und 31. Dezember in der größeren Budgetrunde. An die Öffentlichkeit drang wenig, wie man heute weiß, aus gutem Grund. Es gab nicht viel, was an die Öffentlichkeit hätte dringen können.

Die Verhandlungen traten auf der Stelle, wenn man dieses Treten überhaupt als Form von Bewegung bezeichnen mag. Zu Silvester stellten die NEOS ernüchtert fest: "Die Sache gerät in Treibsand".

Es war der entscheidende Wendepunkt in den Gesprächen. An diesem 31. Dezember begann in den Köpfen der pinken Führungscrew ein Gedanke zu reifen: verdammt, das droht zu scheitern. ÖVP und SPÖ bekamen davon nichts mit.

Jetzt wollen es Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und SPÖ-Parteichef Andreas Babler solo zu zweit probieren
Jetzt wollen es Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und SPÖ-Parteichef Andreas Babler solo zu zweit probieren
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Es gab zu diesem Zeitpunkt der Verhandlungen mehrere Gremien. Eine Gruppe suchte Leuchttürme, die andere Geld, eine weitere den Weg zueinander. Von einem Gremium bekam die Öffentlichkeit wenig mit. Im Hintergrund wurde nämlich bereits an einer schriftlichen Ausfertigung des Regierungsprogramms gearbeitet. Es platzte also am Freitag zumindest etwas mit Substanz.

Die "Programmrunde" bestand aus neun Personen, sie sollte zusammenführen, was in den von den drei Parteien eingesetzten Untergruppen erarbeitet worden war. Die Ergebnisse der Beratungen in diesen 33 Gruppen waren in einem Maßnahmenkatalog zusammengefasst worden, er war verdichtet rund 330 Seiten dick. Das Problem: es gab ihn in drei Versionen.

In einigen Untergruppen war nach jeder Sitzung ein gemeinsames Protokoll erstellt worden, in einigen Untergruppen wurden diese Protokolle jeweils sogar von allen Teilnehmern unterfertigt. Aber nicht überall lief es so.

Es gab also von verschiedenen Sitzungen drei Protokolle, eines von der ÖVP, eines von der SPÖ und eines von den NEOS. In diesen drei Maßnahmenkatalogen war einiges grün, es bestand darüber also Einigkeit, und einiges rot, da gab es noch Gesprächsbedarf. Ein bisschen was war auch orange, bei diesen Punkten herrschte Unklarheit, was damit überhaupt gemeint war.

Der Job der "Programmrunde" war es, daraus ein fertiges Regierungsprogramm zu fabrizieren. Es sollte zügig um Themen ergänzt werden, über die in der Chefgruppe Einigung erzielt werden konnte. Aber es hakte.

"Österreich erneuern", jetzt halt von der Outlinie aus: Beate Meinl-Reisinger flankiert vom NEOS-Team: Sophie Wotschke, Yannick Shetty, Christoph Wiederkehr, Nikolaus Scherak, Markus Hofer und Douglas Hoyos
"Österreich erneuern", jetzt halt von der Outlinie aus: Beate Meinl-Reisinger flankiert vom NEOS-Team: Sophie Wotschke, Yannick Shetty, Christoph Wiederkehr, Nikolaus Scherak, Markus Hofer und Douglas Hoyos
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Dann kam der Donnerstag und die NEOS gingen bereits mit einer etwas anderen Grundstimmung in die Sitzung. Das Treibsand-Gefühl hatte sich verfestigt. Aber man wollte den Gesprächen noch eine Chance geben. Aus Sicht der NEOS führten sie noch tiefer in den Sand.

Dafür gab es nun aber einen "Plan B", an dem wurde bereits seit Silvester gearbeitet. Die Rede, die Beate Meinl-Reisinger am Freitag hielt, entstand nicht spontan und auch nicht in der Nacht davor. An ihr wurde mehrere Tage lang gewerkt. Am Ende lag sie weitgehend fertig in der Schublade bereit und nun schien ihr Tag gekommen.

Als sich die Koalitionsverhandler an diesem Donnerstag wieder einmal in größerer Runde trafen, fand das nicht mehr im Parlament oder im Palais Epstein statt, sondern im Kanzleramt. Ab 16 Uhr redeten die Parteichefs, ihre Generalsekretäre, die Budgetrunde miteinander, sieben Stunden lang.

Die Sitzung ging um 23 Uhr ohne Streit zu Ende. Vereinbart wurde ein weiteres Treffen am Freitagnachmittag. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.

Weißt du, wann unsere Pressekonferenz jetzt ist? SPÖ-Parteivorsitzender Andreas Babler, Vizeklubchef Philip Kucher
Weißt du, wann unsere Pressekonferenz jetzt ist? SPÖ-Parteivorsitzender Andreas Babler, Vizeklubchef Philip Kucher
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Die NEOS marschierten vom Kanzleramt in ihre Klubräumlichkeiten im Parlament und dort ging es Schlag auf Schlag. Um Mitternacht war die Dreierkoalition Geschichte, es gab unter den Spitzenfunktionären keinen nennenswerten Widerspruch gegen die Entscheidung. "Das wird nichts mehr", lautete der einhellige Tenor.

In den folgenden eineinhalb Stunden wurde der Ablauf des kommenden Tages besprochen, die Teams wurden mit der Vorbereitung der Pressekonferenz in der Parteizentrale beauftragt. Und die weitgehend fertige Rede von Beate Meinl-Reisinger bekam ihren letzten Schliff. Um 1.30 Uhr zerstreute sich die Runde.

Am Freitag um 7.30 Uhr waren wieder alle versammelt, diesmal in der NEOSphäre am Heumarkt. Um 8.30 Uhr griff Beate Meinl-Reisinger zum Handy und rief Karl Nehammer an. Das Gespräch dauerte nur ein paar Minuten. Danach informierte sie Andreas Babler über den Ausstieg aus den Verhandlungen, zuletzt den Bundespräsidenten. Alle drei traf die Nachricht aus heiterem Himmel.

Es gab in den Verhandlungen in den vergangenen Wochen immer wieder Momente, in denen die NEOS sagten: "Na, dann ohne uns!" Niemand nahm das ernst. Poker halt. Jetzt hat sich das Blatt für alle verschlechtert.

Um 9.35 Uhr luden die NEOS zu einem "Statement zu den Koalitionsgesprächen" ein. Das roch nach "Persönlicher Erklärung", dem politischen Code für Rücktritt. Und so kam es auch.

Während sich der Gummibaum eines Blattes entledigte, hielt Beate Meinl-Reisinger eine knappe Stunde später eine rund 27 Minuten lange Brandrede, merklich übernachtig und unter dem Eindruck kontrollierter Wut. Der Ansprache fehlte lediglich ein relevanter Bestandteil: das Eingeständnis, auch nur eines einzigen persönlichen Fehlers in den Verhandlungen.

Ohne das Wort in den Mund zu nehmen, karikierte sie ÖVP und SPÖ als Altparteien, ohne Vision, reformunwillig, den gegenwärtigen Strukturen hilflos ausgeliefert. Am Ende habe "ein Abtausch wie auf einem Basar" stattgefunden. Klientelpolitik. Schenkst du mir etwas für meine Gruppe, schenke ich dir was für deine Gruppe.

Zwischen den Zeilen wurde klar, wen die NEOS-Chefin für das Scheitern der Gespräche verantwortlich macht – die SPÖ. Sie dankte Karl Nehammer namentlich, Andreas Babler erwähnte sie mit keinem Wort.

Meinl-Reisinger nannte die Schuldenlast, das Budget, den überbordenden Föderalismus, das teure Gesundheitswesen, vor allem die Finanzierbarkeit der Pensionen als Stolpersteine. Sie ging nicht ins Detail, aber am Ende wunderte man sich, worüber die Parteien eigentlich seit dem 18. November Einigkeit erzielt hatten. Außer über den Termin des nächsten Treffens.

Im Anschluss an den Paukenschlag herrschte zunächst Stille. Nichts von Karl Nehammer, nichts von Andreas Babler. Nur die Generalsekretäre erledigten pflichtschuldig ihren Job. Der SPÖ-Chef kündigte schließlich für 14 Uhr eine Pressekonferenz an und es wurde kurios.

ÖVP und SPÖ begannen sich nämlich zu belauern. In den beiden Parteien herrschte die Auffassung, dass der Chef der jeweils anderen Partei noch am selben Tag abgelöst werde. Die SPÖ dachte, dass die ÖVP Karl Nehammer in die Wüste schickt. Die ÖVP dachte, dass die SPÖ Andreas Babler ablöst.

Deswegen warteten beide mit dem Beginn ihrer Gremiensitzungen zu. Keiner wollte als Erster eine Entscheidung treffen und das Schweigen ging weiter. In den Klubräumlichkeiten der SPÖ warteten die Journalisten auf Babler, aber der kam nicht. Dreimal wurde der Termin verschoben, dann das Rednerpult entfernt, später wurden vier Rednerpulte in den Raum getragen.

Am Nachmittag empfing Bundespräsident Alexander Van der Bellen zunächst Andreas Babler, dann Karl Nehammer. Auf ein Gespräch mit Beate Meinl-Reisinger verzichtete er.

Erst kam er gar nicht, dann mit Verstärkung: Andreas Babler mit SPÖ-Vizeklubchef Philip Kucher, Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner und Sozialsprecher Josef Muchitsch
Erst kam er gar nicht, dann mit Verstärkung: Andreas Babler mit SPÖ-Vizeklubchef Philip Kucher, Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner und Sozialsprecher Josef Muchitsch
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Die ÖVP ließ schließlich verlauten, dass der Parteivorstand Karl Nehammer "den Rücken gestärkt" habe, was immer das auch heißen mag.

In der SPÖ traf sich ab 16 Uhr das Parteipräsidium und vollzog eine Kehrtwende. Andreas Babler hatte vorab überlegt, ebenfalls aus den Koalitions-Verhandlungen auszusteigen. Dann hätte Karl Nehammer den Regierungsauftrag wohl zurücklegen müssen.

Dazu kam es nicht. Die Wiener SPÖ bestand auf einer Fortsetzung der Regierungsgespräche, Babler stimmte zu.

Wer mit seiner Ablöse gerechnet hatte, wurde bitter enttäuscht. Im Präsidium herrschte Einigkeit wie zuletzt selten und dafür war ausgerechnet die ÖVP verantwortlich. Generalsekretär Christian Stocker hatte Andreas Babler ohne Not die Schuld am Scheitern der Verhandlungen in die Schuhe geschoben. "Das Verhalten von Teilen der SPÖ hat zur aktuellen Situation geführt", schrieb er in einer Aussendung.

"Das hat Babler einzementiert", sagt jemand, der in der zweistündigen Präsidiumssitzung dabei war. Auch die Analyse fiel einhellig aus. Die Regierungs-Verhandlungen sind gescheitert, jetzt geht es nur mehr darum, wer das Bummerl dafür bekommt. Die SPÖ werde die Hand ausstrecken und der ÖVP die Fortsetzung der Gespräche anbieten. So kam es dann auch, schon Freitagabend gab es im Kanzleramt die nächste Sitzung.

Das soll nicht darüber hinwegtäuschen: In der SPÖ waren am Freitag alle überzeugt davon, dass nun Blau-Schwarz kommt und dass die Tage von Nehammer gezählt sind.

Der Kanzler meldet sich gegen Abend hin dann doch zu Wort. Das etwa zweiminütige Statement auf X wirkte eher wie ein Wahlkampfvideo. Auch der Auftritt von Andreas Babler, der schließlich doch vor ein Mikro fand, hätte gut in der Zeit vor dem 29. September stattfinden können. Wer glaubt, hier wächst noch etwas zusammen, den beneide ich um seinen Optimismus.

Am Ende des Tages ließ sich Alexander van der Bellen in die ZiB 1 zuschalten. "Karl Nehammer und Andreas Babler haben mir heute in persönlichen Gesprächen berichtet, dass sie weiterhin an einer Koalition arbeiten", sagte der Bundespräsident. "Das muss ohne Zeitverzug geschehen. Das habe ich heute sehr deutlich zu verstehen gegeben. Ich will Klarheit. Schnelle und umfassende Klarheit."

Wir auch! Es ist nach 96 Tagen Verhandlungen ohne gemeinsame Vision, ohne Ziel vor Augen, ohne entfachte Begeisterung, mit einer grottenschlechten Kommunikation, falsch geweckten Erwartungen, absurd aufgeblähten Verhandlungsteams, handwerklich hanebüchen orchestriert und einer Einstellung, als hätte man ewig Zeit, wohl nicht zu viel verlangt.

Es ist ja nicht so, als würden uns 2025 Milch und Honig erwarten. Nein, wir stehen am Beginn eines Krisenjahres und in einer solchen Situation ist das Scheitern von Regierungs-Verhandlungen ein Ärgernis, ein Debakel und eine Blamage.

Ich wünsche trotzdem ein wunderbares Dreikönigs-Wochenende. Das hier ist wieder eine etwas längere Textsorte geworden, dafür lasse sich Sie am Sonntag in Ruhe. Außer es fällt wieder irgendwo ein Blatt von einem Gummibaum. Bis in einer kleinen Weile!

* hier stand ursprünglich "erste Dreier-Koalition", das war nicht korrekt. Ein aufmerksamer Leser hat mich dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass es auch in der Provisorischen Regierung Renner 1945 und in der Regierung Figl I von 1945 bis 1947 drei Parteien (ÖVP, SPÖ und KPÖ) gab.

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