Eine widerrede
Warum Medien kein Pflegefall sind, aber irgendwie doch
Hubert Patterer, Chefredakteur der "Kleine Zeitung", hat den Kurt-Vorhofer-Preis gewonnen. Zu Recht! Er hielt eine wunderbare Dankesrede, die bejubelt wurde. Zu Unrecht!
Nein, es spielt keine Rolle, dass er Villacher ist und ich Klagenfurter. Ich schätze Hubert Patterer außerordentlich, er weiß das. Der Chefredakteur der "Kleinen Zeitung" ist sprachlich herausragend begabt, den verhaltensoriginellen politischen Ablauf in Österreich häufig so gekonnt abzubilden wie er, erfordert literarisches Geschick. Es setzt auch Selbstzweifel voraus, auch die besitzt Patterer mehr als ihm vermutlich lieb ist. Mein Intellekt reicht oft nicht aus, um alles zu verstehen, was der Peter Handke der Medienpublizistik so von sich gibt, aber auch das für mich Unverständliche bereichert mein Leben. Oft mehr als das Verständliche.
Nun wurde Patterer mit dem Kurt-Vorhofer-Preis ausgezeichnet, es fehlt nur mehr der Professor zum irdischen Journalistenglück. Meine Skepsis gegenüber der Vielzahl an Auszeichnungen, die verliehen werden, ist bekannt, spielt in diesem Fall aber keine Rolle. Irgendwann wird der Kipppunkt erreicht sein, dann werden mehr Medaillen unter die Leute gebracht als gedruckte Exemplare von Tageszeitungen.
Aber Patterer ist ein verdienter Preisträger, ich will nicht als mieselsüchtiger Neider daherkommen, einer aus Klagenfurt obendrein. Zur Verleihung hatte der Bundespräsident am Donnerstag zum Tagesausklang in seine Räumlichkeiten geladen, das strich die Bedeutung der Auszeichnung heraus. Der Medien-Handke hielt eine bemerkenswerte Rede, den Wortlaut können Sie hier nachlesen, auch seine Stimmbänder sind Edelfedern. Das ändert nichts daran, dass der Text in seinem Grundgedanken einen Kardinalfehler aufweist: er vergemeinschaftet Versäumnisse.
Patterer hadert mit der Berichterstattung der vergangenen Jahre über Flüchtlingswelle, Kriminalität, Pandemie, Gendern. Die Ansprache unter dem Titel "Wir sind kein Pflegefall", gemünzt auf Medien, wurde vielerorts gelobt, teils mit Euphorie bedacht. "Endlich sagt das einer", lautete der Tenor.
Aber was sagt endlich einer? Patterers prachtvoll hingeworfenen Sprachbildern kamen im Flug allerlei relevante Farben und Schattierungen abhanden, aber das ging angesichts ihrer Opulenz unter. Die Selbstgeißelung sparte Körperstellen aus, vorrangig solche, an denen Züchtigungen besonders wehtun. Die vermeintliche Abrechnung mit der eigenen Branche, dem eigenen Ich, geriet dadurch ebensowenig zur Abrechnung wie "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" eine Auseinandersetzung mit der Fußball-EM ist.
Ich meine jetzt gar nicht den Teil, in dem sich Patterer mit Medienförderung und Inseratenvergabe auseinandersetzt, mir ist die Form dieser Debatte sowieso aus tiefstem Herzen zuwider. Die Politik bevorzuge den Boulevard, sagt er und scheint nicht mehr auf dem letzten Stand. Jedenfalls handelt es sich um einen Moment der Tollkühnheit, wenn der Vertreter eines Hauptprofiteurs des Systems genau dieses System an den Pranger stellt. Aber ich verstehe schon, das gehört zum Regelwerk derartiger Veranstaltungen und ihres Besucherkreises, die Wiederholung des Windschiefen eint und scheint ebenso eine Frage der Höflichkeit zu sein wie die Begrüßung der Anwesenden und ihre Verabschiedung.
Der Kern der Rede behandelt aber die Vertrauenskrise, in die Medien geschlittert sind, und da lohnt ein Blick in die Tiefe, für die Breite hat schon Patterer gesorgt. In all der sprachlichen Eleganz wendet der literarisch Betuchte einen subtilen Trick an: Er verallgemeinert Sündenfälle, er erzeugte ein Wir-Gefühl. Das verteilt die Vergehen auf alle Schultern, macht das Tragen des Kreuzes für einen selbst erträglich, auch die Sandalen drücken nicht so.
Patterer sagt nicht, "ich habe gesündigt", oder "mein Medium und ich haben in Tateinheit gefehlt" und wer mag, soll sich mir in diesem Befund anschließen. Nein, er macht aus der Buße ein Gemeinschaftserlebnis, einen Wellness-Ausflug der Geläuterten in die Ablass-Therme.
Am 23. April 2015 saß ich am Abend im Presseclub Concordia, der Saal war rappelvoll, es ging um die "Herausforderung Vielfalt und Integration in Österreichs Medien", also um die Berichterstattung über migrantische Gruppen, deren Vertreter den Großteil des Publikums bildeten. Ich war als der böse Bube geladen, der Mann vom Boulevard, dessen Berichterstattung Zugewanderte stigmatisiere. In der Zeitung habe die Nennung der Herkunft nichts verloren, war die Saalmeinung, ich hielt dagegen. Wer etwas verschweige, mache es größer und größer bis es schließlich den gesamten Raum einnehme, lautete mein Argument. Das Wohlwollen der Zuhörerschaft ereilte mich an diesem Abend nicht.
Drei Sessel von mir entfernt saß Sebastian Kurz, damals Außenminister, vorher als Integrations-Staatssekretär für viele ein Hoffnungsträger. Später sollten einige bemerken, dass er diese Hoffnungen vorrangig für sich selbst hegte. Er habe umgedacht, sagte der frühere Hoffnungsträger damals. Er sei ursprünglich auch gegen die Nennung der Herkunft gewesen, aber nun finde er sie richtig. Der großgewachsene Herr ihm gegenüber widersprach. Wo immer auf der Welt Menschen hergekommen sein mögen, es spiele keine Rolle. Mit dem Augenblick der Überschreitung der Landesgrenzen würden sie zu Österreicherinnen und Österreichern, sagte Heinz Faßmann. Der studierte Geograph beriet damals schon Kurz in Migrationsthemen, später wurde er sein Bildungsminister.
Die Debatte verlief zivilisiert, aber endete ergebnislos. Ich versuchte den Umgang mit der Herkunft bei "Heute" zu erklären. Ja, wir sprechen aus, ob ein Tatverdächtiger aus der Steiermark, aus Tirol oder einem anderen entlegenen Teil der Erde stamme. Aber wir stellen das Faktum nicht in den Vordergrund, außer es ist für eine Erzählung essenziell. Also: Keine Nennung der Herkunft in der Betitelung, sehr wohl aber im Text. Da war vor 2015 so, während 2015 so und nach 2015 so, es steht im Redaktionskodex und niemand hat meine Festlegung im Verlag je in Frage gestellt.
Zum Zeitpunkt der Debatte aber war das im Journalismus keine Mehrheitsmeinung, zumindest nicht des vorlauten Teils der Zweckgemeinschaft. Die Mehrheit der Menschen im Land, vermute ich einmal, wird nicht verstanden haben, warum das überhaupt ein Streitfall sein sollte, aber in der Medienbranche machte diese Sichtweise zum Paria, zum Inselbegabten, zum Ethikvergesser.
Dann kam Köln, die Silvesternacht. Migrantische Gruppen wurden in größerer Zahl übergriffig. Nach ein paar Tagen der Schockstarre begannen Medien Ross und Reiter zu benennen, mit erstaunlich großer Geschwindigkeit räumten sie alle Hürden beiseite, die sie nun mit einem Mal als von anderen aufgestellte Hürden sahen. Plötzlich war das Feld frei und wurde in aller Zügellosigkeit beritten. Medien, die sich vorher über jede Nennung der Herkunft empört hatten, empörten sich nun darüber, dass zuvor niemand die Herkunft genannt hatte. Wer früher mit Samtpfoten unterwegs war, kam jetzt auf tönernen Füßen daher.
Das steckte an. Bis Köln waren die Polizeibehörden mit Veröffentlichungen von Sexualstraftaten sehr zurückhaltend umgegangen. Der Eingriff in den höchstpersönlichen Lebensbereich wog schwerer als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Der Druck der Ereignisse schien plötzlich die Publikation jedes einschlägigen Delikts vorzuschreiben. Niemand wollte mehr ein Vertuscher sein. Das Publikum las das und bekam den Eindruck, die Zahl der Vergewaltigungen würde sich verhundertfachen. Das war nicht der Fall, aber es wurde so wahrgenommen und das läuft auf dasselbe hinaus.
Weil das gut in die Karten spielte, begannen sich alle möglichen Parteien mit den Verstößen gegen die sexuelle Integrität zu beschäftigen. Die Debatte verselbständigte sich, das Verschweigen davor hatte auch dieses Thema groß und größer gemacht. Mich überraschte das nicht, sehr wohl aber verblüffte mich, wie behände Medien zwischen den widersprüchlichsten Positionen hin und her hüpften, stets unter Bedachtnahme auf Absolutheitsanspruch und moralische Erhabenheit. Wer keinen eigenen Sündenbock zur Hand hatte, bediente sich des Boulevard.
Auf Phase 1, dem Leugnen, und Phase 2, dem Erkennen, folgte Phase 3, die Schuldzuweisung. Die Bürde wurde anderen aufgeladen oder gemeinschaftlich verteilt. Wer sich davor, mittendrin oder danach einer gemäßigten Berichterstattung befleißigt hatte, wurde zum Kollateralschaden der Ethik-Hofräte.
So war das auch während der Flüchtlingswelle 2015 und in den Jahren danach. Wer Probleme thematisierte, verging sich am Gemeinwohl. Man überließ den Extremauslegern und den Zuspitzern nicht nur das Schwarz, sondern auch alle Grautöne. Medien zeigten erstaunliche Elastizität. Bei jedem Anlassfall brannte die Erde, dazwischen schickte man allen, die in die Flammen bliesen, die Feuerwehr vorbei.
Bei der Pandemie lief es ähnlich. Als wir – nicht in der Masse, um zu verzerren, oder Angst zu erzeugen, aber im gebotenen Anlassfall – Geschichten über Menschen publizierten, denen die Impfung nicht gutgetan hatte, wurde das als Volksverrat interpretiert. So als würde man das Land und seine Bewohner durch das Aussprechen des Offensichtlichen kollektiv in den Abgrund führen. Journalisten, die heute die mangelnde Offenheit der Berichterstattung kritisieren, kritisierten damals unsere Berichterstattung für ihre Offenheit.
Das redet nicht der Schwurbelei das Wort, aber der Zugang vieler Medien während der Pandemie hat die Schwurbelei erst groß gemacht, das sollte in aller Schönheit der Sprache nicht vergessen werden. Das jetzt allen umzuhängen, wie Patterer das versucht, ist eine Zumutung.
Jedes Medikament, jede Impfung birgt ein Risiko. Die Beipackzettel stecken in den Arzneimittel-Packungen nicht drin, um den Pillendosen eine Schulter zum Anlehnen zu bieten. Der Job der gesamten Politik und der gesamten Medien wäre es gewesen, den Menschen klar zu machen, dass die Impfung einen weitaus größeren Nutzen hat als sie Gefahren birgt. Nicht mehr, nicht weniger. Der Job war es nicht, die Gefahren zu verschweigen.
Das Leben ist nun einmal lebensgefährlich, jeder Moment bringt Interessensabwägungen. Wer aus dem Haus geht, setzt sich dem Risiko aus, von einem Stein am Kopf getroffen zu werden. Man tut es trotzdem, weil das Interesse fortzugehen höher wiegt als die Angst, erschlagen zu werden. Deshalb ist das Risiko aber nicht weg, es kann benannt werden. Sine ira et studio, ohne Zorn und Eifer.
In diesem Sinne ist die Rede von Hubert Patterer über "die Medien" sprachlich ein Platzkonzert, inhaltlich aber Katzenmusik.
Ich bin überzeugt: Beim nächsten Anlassfall wird das Orchester in derselben Formation Aufstellung nehmen wie davor und wie vor dem davor. Danach wird wieder ein Dirigent dastehen, zurecht einen Preis überreicht bekommen und in seiner Dankesrede Asche auf das Haupt aller streuen, weil verteilte Asche gute Asche ist.