Kopfnüsse
Wie der Wiener Wahlkampf zu einer Lachnummer wurde
In drei Wochen wählt Wien, aber der Sieger steht längst fest. Gleich drei Parteien hoffen auf eine Partnerschaft mit der SPÖ. Das macht den Wahlkampf skurril, lähmt aber auch den Bund. Dort ist die Regierung auf Suche nach Geld. Und nach Schuldigen.

Am Freitag kam mir Karl Mahrer auf der Straße entgegen. Es gibt Hollywoodfilme, die haben weniger Substanz.
Mahrer ist momentan der fröhlichste Mann von Wien. Er hat eine Art Grundheiterkeit, deren genauen Grund niemand kennt, vermutlich nicht einmal er selbst. Mahrer strahlt stärker als Tschernobyl in seiner besten Zeit und braucht nicht einmal einen Anlass dafür.
Mit KI-Stimme: Wie der Wiener Wahlkampf zu einer Lachnummer wurde
Der Spitzenkandidat der ÖVP wird bei der Wienwahl am 27. April nicht zu den großen Abräumern gehören, das lässt sich gefahrlos prophezeien, aber das scheint ihm nicht das Geringste auszumachen. Karl macht sich einen Karl, egal wo er ist. Verlieren ist für ihn das neue Gewinnen. Eine Herzensangelegenheit.
Politiker greifen sich momentan grundsätzlich gern ans Herz. Das geschieht parteiübergreifend, aber bei der Kür von Winston Stocker zum neuen Parteichef der ÖVP in Wiener Neustadt vor einer Woche war es besonders augenfällig.

Karl Nehammer, der am Parteitag eine berührende Abschiedsrede an sich selbst hielt, ist die Keimzelle des Herzgreifertums. Man könnte dazu übergehen, die entsprechende Handbewegung als Nehammer-Schleife zu bezeichnen.
Es soll Menschen geben, die sich diese Woche nicht ans Herz, sondern eher an den Kopf gegriffen haben, als sie den künftigen Job des gewesenen Kanzlers erfahren haben. Es war der 1. April, aber entgegen der Tradition des Tages war die Ankündigung kein Scherz.
Der frühere Kanzler Karl Nehammer, der nie mit Finanzen zu tun hatte, wird jetzt Banker bei der Europäischen Investitionsbank. Der frühere Finanzminister Magnus Brunner, der noch nie mit Asyl zu tun hatte, wurde Asylkommissar. Hand aufs Herz, wer konnte damit rechnen?
Als ich mit der Herzgreiferei die ersten Male konfrontiert war, irrte ich bei der Deutung. Ich dachte zunächst an ein kardiologisches Problem, Extrasystolen vielleicht. Oder an einen Griff zur Brieftasche.

Dann sah ich immer mehr Herzgreifer, die Welle dürfte von Amerika aus nach Österreich übergeschwappt sein, obwohl uns das gemeinsame Meer zum Überschwappen fehlt. Karl Mahrer jedenfalls wurden nicht benetzt, ihn hat die Welle regelrecht verschluckt. Oder er sie.
Als er mir also am Gehsteig neben dem Landtmann entgegenkam, wieder die Sonne selbst, streckte er mir die Hand entgegen. Ehe ich einschlagen konnte, bog seine Hand allerdings in Richtung seines Herzens ab und verweilte da für einen Moment.
Mahrer schlug kurz die Augen nieder, wie ein Pfarrer, der die Beichte abnimmt. Dann schnellte seine Hand nach vorn, sie schüttelte meine, er grüßte, lachte wie ein Hutschpferd. Und fertig.

Auch das Land legte in dieser Woche eine Beichte ab, es wählte dafür die Form des Offenbarungseides. Am Montag gab die Statistik Austria die tatsächliche Höhe der Staatsschulden bekannt. Österreich steht mit 394 Milliarden Euro in der Kreide. Das ist nicht nur abstrakt betrachtet recht viel Geld. Eine alte Oma muss ziemlich lange dafür stricken.
Nehmen wir einmal an, sie haben 394 Milliarden Euro in der Brieftasche, in großen Scheinen halt. Wenn Sie sich ab sofort jeden Tag einen Tesla, Model 3, kaufen, brauchen Sie ungefähr 25.000 Jahre, um das gesamte Geld auszugeben. Das Beispiel funktioniert übrigens auch mit anderen Automodellen.
Die Schulden sind innerhalb eines Jahres um 22,6 Milliarden Euro gestiegen, das Defizit betrug im Vorjahr 4,7 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das ist insofern von Bedeutung, als die EU eine Höchstgrenze von drei Prozent vorgibt. Und uns die Politik lange Zeit vorgegaukelt hat: " Des pack ma!"
Es war nicht die erste Fehleinschätzung, eine davon markiert den Ausgangspunkt der ganzen Misere. Am 18. März 2020, als die Pandemie gerade den ersten Anlauf nahm, stellte sich Kanzler Sebastian Kurz vor die Fernsehkameras und sagte einen verhängnisvollen Satz: "Koste es, was es wolle". Und es kostete, was es wollte.

Die Folgen davon hätte man vor fast genau einem Jahr erkennen können. Am 17. April 2024 warnte der Fiskalrat erstmals öffentlich: "Wir sind auf einem falschen Pfad." Was er nicht sagte: Wir sind auf diesem falschen Pfad im gestreckten Galopp unterwegs.
Das gesamtstaatliche Defizit werde klar über den von Finanzminister Magnus Brunner veranschlagten 2,7 bzw. 2,8 Prozent des BIP liegen, schrieb der Fiskalrat. Auch die Maastricht-Defizitobergrenze von 3 Prozent des BIP "wird damit deutlich überschritten".
Brunner reagierte auf Twitter eher pampig: "Österreich hält die 3%-Maastricht-Grenze ein, das bestätigen IHS, WIFO, IWF und Europäische Kommission. Einzig der Fiskalrat geht von einem höheren Defizit aus. Das ist nicht nachvollziehbar", schrieb er. Das Problem: Der Fiskalrat behielt recht.
Aber die Warnung passte so gar nicht in die Zeit. Am 9. Juni 2024 sollten Europawahlen stattfinden, am 29. September Nationalratswahlen und irgendwann dazwischen wollte sich Brunner aus dem Staub machen, um in die EU zu wechseln. Und das bei gutem Wind.

Also wurde auf Zeit gespielt. Fünf Monate lang schwebte die Defizitwolke über Österreich, die Regierung im Dauerwahlkampf sorgte dafür, dass sie nicht abregnete. Nach der Wahl passierte erst recht nichts, außer dass die echten Zahlen bekannt wurden, denn da begannen die Sesselkreis-Termine, um eine neue Regierung zu finden. Deshalb stehen wir jetzt da, wo wir jetzt stehen.
Der Fiskalrat ist ein unabhängiges Gremium, angesiedelt im Umfeld der Nationalbank. Die 15 Mitglieder sind weisungsfrei, seit 2021 ist Christoph Badelt Präsident. Er wird von Medien gern befragt und ist häufig in TV-Sendungen eingeladen. Badelt ist 74, er kann frei reden, zu Dancing Stars drängt es ihn nicht, als Politiker ist er keine Nachwuchshoffnung mehr.
Die Schelte von Brunner beeindruckte das Gremium wenig, es legte schon im April 2024 offen, warum Österreich finanziell das Hosentürl offensteht. Für die "Verlängerung der Strompreisbremse, die neuerliche Aussetzung der Energieabgaben, das Wohnbaupaket sowie die verzögerten, überproportionalen Ausgabensteigerungen durch die hohe Inflation der letzten Jahre" war viel Geld verjankert worden.
Als die Alarmleuchten angingen, saß ein Mann mitten in diesem Kreis: Markus Marterbauer war bis März quasi nebenberuflich Vizepräsident des Fiskalrates. Heute ist er Finanzminister dieser Schulden-Republik.

Die Warnungen verhallten. Am 10. Mai 2024 träumte Kanzler Karl Nehammer von der Errichtung eines Nationalstadions. Am 24. Mai startete die ÖVP in den EU-Wahlkampf. Slogan: "Jetzt das Richtige tun". Das will nun auch Christian Stocker. Er hat den Spruch kopiert. Das Richtige wird jetzt im zweiten Bildungsweg in Angriff genommen.
Statt über das Budgetdefizit, wurde in den TV-Duellen vor der EU-Wahl über Lena Schilling debattiert. Am 30. Juli durfte sich Magnus Brunner freuen, dass ihn die Bundesregierung als EU-Kommissar vorgeschlagen hat.
Dann kamen die ORF-Sommergespräche. Am 19. August sprach Christoph Badelt nach dem TV-Interview von Herbert Kickl auf ORF III erstmals das sich anbahnende Budget-Desaster an. Die EU-Kommission werde von Österreich Einsparungen von 2,2 Milliarden Euro verlangen "und das auf Dauer", sagte er. Aber zunächst einmal gab es Kuchen.
Am 2. September wurde der Kanzler am Traunsee von Martin Thür befragt. In die Abendsonne hinein führte er den Begriff "Zero based budgeting" in Österreichs Wohnzimmern ein. Dabei "werden alle Budgets in den Ministerien durchleuchtet, um Einsparungspotentiale zu heben", sagte Karl Nehammer. Ein begeisterte Magnus Brunner repostete die Passage auf X.

Schließlich wurde Nehammer fachlich grundsätzlich. "In der Wirtschaftspolitik" dozierte er, sei es "entscheidend, dass wir den Kuchen größer machen. Das Ziel seien "2 Prozent mehr Wirtschaftswachstum. Wir wollen in den nächsten 5 Jahren ein Gesamtwachstum von 10 Prozent erreichen." Wieder repostete Brunner den Tweet.
Holger Bonin, Direktor am Institut für Höhere Studien, wollte in der Analyse danach auf ORF III nicht unhöflich sein. Die Sache mit dem Kuchen könne "funktionieren", räusperte er sich, "wenn es denn so einfach wäre. 2 Prozent zusätzliches Wachstum pro Jahr, also 3 Prozent, da müsste schon ein ziemliches Wunder passieren."
Das Wunder passierte, aber anders als erhofft. Als der Kanzler dem Budgetkuchen eine Ladung Testosteron injizieren wollte, litt unsere Wirtschaft schon längst an Muskelschwund. Das reale BIP pro Kopf ging zwischen 2019 und 2024 um 1,7 Prozent zurück. Länder wie Kroatien (plus 23,3 %), Irland (plus 20,6 %) oder Dänemark (plus 9 %) wirkten wie von einem anderen Stern.
Nur fünf Länder schafften in dieser Zeit ein Negativwachstum, Österreich stand am Stockerl ganz oben. Wir waren hinten ganz vorne dabei. Und das ist bis heute so.


"Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt", diesen Satz höre ich jetzt oft. Aber wer ist wir? Wer die Debatte der vergangenen Tage mitverfolgt hat, könnte den Eindruck haben, der Bevölkerung werde jetzt die Schuld an den Budgetnöten gegeben. Unersättlich sei sie gewesen, hätte dem Staat Förderungen abgeluchst und schwindelerregende Lohnerhöhungen herausgepresst.
Und jetzt sitzt dieses undankbare Pack daheim und stopft die Tausender in die Sparstrümpfe. Die Krise gebe es nämlich nur, weil die Leute zu wenig von dem Geld ausgeben, das sich die Politik vor der Verteilung mühsam vom Mund abgespart hat.
Tatsächlich ist es so, dass sich die Menschen grundvernünftig verhalten. Klüger und vorausschauender als so manche Regierung, aus einem Instinkt heraus.
Die Haushalte haben zwei Energieschocks hinter sich, die von der Regierung recht amateurhaft gemanagt wurden. Wenn sie im Herbst erfahren, dass Nachzahlungen drohen, dann legen sie sich fürs Frühjahr Geld auf die Seite. Ein sorgsamer Kaufmann handelt so. Ein sorgsamer Haushalt auch. Etwas anderes zu erwarten, ist lebensfremd.

Die aktuellen Wahrnehmungen dazu könnten unterschiedlicher nicht sein. Von klammen Haushalten ist zu lesen. Dass sich immer mehr Menschen den Alltag nicht leisten können. Dass schon 75.000 Armutsbetroffene von der Tafel Österreich mit Lebensmittel versorgt werden müssen, so viele wie noch nie.
Die andere Seite: Als ich am Freitagabend am "Schwarzen Kameel" vorbeigegangen bin, reichte die Warteschlange bis zur gegenüberliegenden Straßenseite. Wer einen Handwerker braucht, wird monatelang vertröstet, weil die Auftragsbücher voll sind. Wer zuhört, wo die Menschen zu Ostern überall hinfahren, fragte sich, ob die Krise auch Urlaubsanspruch hat. Dubai sein ist alles.
Vielleicht stimmen beide Befunde und stehen nicht im Widerspruch zueinander. Vielleicht fehlt dem Konsum einfach die Mitte. Hier das Vertrauen aufzubauen, ist der eigentliche Job dieser Regierung. An dem wird sie gemessen werden.
Bis zur Wienwahl wird wenig Messbares geliefert werden, bis dahin muss man sich mit Krisengipfeln Zeit kaufen. Nur keine Wähler verprellen. Nach dem 1. Mai aber ist das Feld offen. Die nächste Wahl in Österreich findet planmäßig erst 2027 statt. Zeit für Reformen. Oder sich über Reformen zu zerstreiten.
Am Ende fordern ÖVP und NEOS vielleicht eine Erbschafts- und Vermögensteuer und SPÖ-Finanzminister Markus Marterbauer lässt die Koalition deshalb empört platzen.

Einen Tag, nachdem sich Karl Mahrer vor mir ans Herz gegriffen hatte, wurde mein Herz berührt. Ich wollte das frühlingshafte Wetter ausnutzen und ein paar Tieren in Schönbrunn auf die Nerven gehen. Beileibe nicht als Einziger, wie sich rasch herausstellte. Der Wiener macht sich nicht gern zum Affen, aber er schaut gern Affen zu, wie sie sich zum Affen machen.
Vor dem Hietzinger Tor warben die NEOS um Stimmen für die Wienwahl, genau genommen ein pinkes Einhorn, das Gummibärchen verteilte. Das Einhorn war nicht echt, denn natürlich weiß jeder, dass echte Einhörner keine Gummibären verteilen, egal für welche Partei. Man sollte den NEOS beizeiten sagen, dass es bisher zu keiner Absenkung des Wahlalters unter 10 Jahre gekommen ist.
Die Aktion könnte dagegen Ältere verwirrt haben. Vielleicht wollen manche jetzt am 27. April das Einhorn wählen, finden es aber nicht am Stimmzettel. Das politische Leben in Österreich hält sehr unterschiedlich gelagerte Enttäuschungen bereit.


In drei Wochen wählt Wien. Der Wahlkampf zeichnet sich bisher dadurch aus, dass es ihn nicht gibt. Natürlich sind jetzt alle auf der Straße aktiv, geben Interviews, verkleiden sich als Einhörner oder greifen sich ans Herz. Aber eine Auseinandersetzung im eigentlichen Sinn? Fehlanzeige.
Das liegt an der ausbleibenden Spannung, der Sieger steht längst fest. Deshalb führt Michael Ludwig keinen Wahlkampf, sondern er moderiert ihn. Der Bürgermeister greift keine anderen Parteien an, er meidet direkte Konfrontationen, soweit möglich, viel lieber vermarktet er Wien als lebenswerteste Stadt im Orbit. Und sagt beiläufig dazu, wem wir das alles zu verdanken haben.
Ludwig liegt in allen Umfragen, den öffentlichen und den parteiinternen, um die 40 Prozent. Wenn es für ihn super läuft, schafft er es auf das Ergebnis von 2020, da holte die SPÖ 41,6 Prozent.
Die FPÖ wird sich verdreifachen, ein Großteil der Stimmen steuert die ÖVP bei. 2020 trat noch Gernot Blümel für die Volkspartei an, daran lässt sich ermessen, wie schnelllebig die Politik geworden ist.

Fünf Parteien haben gute Chancen, in den Landtag zu kommen, für die KPÖ wird die 5-Prozent-Hürde schwer überwindbar sein. Von diesen fünf Parteien wird eine den Bürgermeister stellen, gleich drei aber wollen mit ebendiesem Bürgermeister eine Koalition bilden. Es ist offenbar sogar ihr vorrangiges Wahlziel und auch deshalb ist der Wahlkampf so wie er ist.
Weil keiner den potentiellen Seniorpartner vor den Kopf stoßen will, wissen ÖVP, NEOS und GRÜNE nicht so recht, was sie auf ihre Wahlplakate schreiben sollen. Sie lösen das Dilemma, indem sie Rätsel aufgeben. "Zu Hause zu teuer", plakatieren die GRÜNEN. Oder "Mutig ist Wien am schönsten". Was immer das bedeuten soll.
Die ÖVP will Autos verbieten verbieten, und dass Wien Wien bleibt, das eine wie das andere steht nicht zur Disposition. Die NEOS wagten sich lange nicht, ihre Spitzenkandidatin zu affichieren, bis jetzt war Christoph Wiederkehr zu sehen, der gar nicht mehr antritt. Er kann jetzt im Bund versuchen, was er in der Stadt nicht zustande gebracht hat.

NEOS und GRÜNE schafften es sogar, idente Slogans zu plakatieren. "Du wählst nicht nur für dich" gibt es einmal auf pinkem Hintergrund, einmal in pinker Schrift, in diesem Fall aber als Werbung für die Grünen. Eine Frage drängt sich auf: Wenn ich jetzt nicht für mich wähle, für wen wähle ich dann? Fürs Einhorn?
Immerhin, die SPÖ gibt eine grobe Orientierung, worum es bei der Wiener Wahl geht. "Es geht um Wien", schreibt sie auf ihre Plakate. Das kapiert jeder Gummibär. Einer wird sogar hergezeigt.
Ich wünsche einen plakativ schönen Sonntag! Bis in einer kleinen Weile!