Kopfnüsse
Der Flugfeld-Churchill und das politische Geschäft mit der Liebe
Die Volkspartei wählte Christian Stocker in Wiener Neustadt zum neuen Parteiobmann. Was das mit Butterbroten zu tun hatte, wem Karl Nehammer "Zerstörungswahn" unterstellte und welche Sitzung Medienminister Andreas Babler vor Medien geheim hielt.

"Je schneller wir sind, desto schneller sind wir hinten ausse." Der entscheidende Satz des Tages fiel, als der 41. Parteitag der ÖVP in Wiener Neustadt schon so gut wie vorbei war.
Alles bangte dem Wahlergebnis von Christian Stocker entgegen. Schafft er 100 Prozent wie Nehammer? Oder 105 Prozent, gerechnet nach den Excel-Listen der SPÖ? Oder wird er von seinen eigenen Leuten mit nur 99 Prozent Zustimmung abgewatscht?
Mit KI-Stimme: Das politische Geschäft mit der Liebe
Die Moderatorin mahnte bei der Stimmabgabe zur Eile, weil: "Je schneller wir sind, desto schneller sind wir hinten ausse." Das sprach ein relevantes Problem an, klärte es aber nicht. Denn welches "hinten ausse" war gemeint – wenn wir die körperliche Variante einmal ausscheiden? Die Arena Nova in Wiener Neustadt hat nämlich zwei "hinten ausse", eines davon ist ein "vorne ausse".
Man sollte solche Fragen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn am Samstag führte der Umstand, dass die Mehrzweckhalle mindestens zwei Eingänge hat (oder zwei Ausgänge), zu diplomatischen Verwicklungen, die in höchste Kreise reichten. Aber vielleicht beginne ich die Erzählung eher von vorne ausse.

Die Regierungsparteien gehen momentan sehr gönnerhaft miteinander um. Alle gestehen sich mediale Spielwiesen zu, jeder darf sich austoben. Christian Stocker kaperte sich dieses Wochenende. Parteitag, ein paar Interviews, etwas Social Media, ein Video mit der Kronen Zeitung als Gedankenstütze am Schreibtisch: die Neigungsgruppe durfte sich gut serviciert fühlen.
Das vergangene Wochenende dagegen gehörte Andreas Babler. Der SPÖ-Vizekanzler war am Sonntag in der Pressestunde zu Gast. Am Freitag vorne ausse lud er zu einem Hintergrundgespräch in sein Ministerium in der Radetzkystraße. Die Inhalte waren für die Veröffentlichung gedacht, aber es gab eine Sperrfrist. Es durfte erst hinten ausse berichtet werden, also nach der Pressestunde.
Babler ist auch Medienminister, offenkundig zwar nicht für alle Medien, aber glücklicherweise zumindest für ein paar. Deshalb war zu dem Brötchentermin, der um 10 Uhr startete, auch nur eine handverlesene Gruppe von Journalistinnen und Journalisten geladen, etwa Standard, Presse, Kurier, ORF, APA. Wie hätte Babler auch auf die Idee verfallen sollen, dass alle Medien die Medienpläne des Medienministers interessieren könnten?

Als die ÖVP vor ein paar Jahren den Falter von einem Hintergrundgespräch aussperrte, brannte die Hütte. Es gab hitzige Debatten, ob die geladenen Reporter nicht aufstehen und gehen hätten müssen, um ihre Solidarität zu bekunden. Die Presseklubs meldeten sich fuchsteufelswild zu Wort. Social Media schwappte über vor Zorn und Wut. Und diesmal? Passierte nichts. Null.
Niemand stand auf, es gab nicht einmal eine Debatte darüber. Keine Branchenvertretung sagte auch nur einen Mucks. Der Medienminister schloss Kleine Zeitung, Oberösterreichische Nachrichten, Tiroler Tageszeitung, den kompletten Boulevard aus. Originelle Begründung: es gäbe in diesen Medien keine eigene Medienrubrik. C'est la vie!

Beim Brötchentermin mit beschränkter Haftung skizzierte der Vizekanzler die Bonsai-Entpolitisierung des ORF, die er allerdings seltsamerweise anders nannte. Auch ein paar Wunder müssen hinkünftig vollbracht werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll sparen, ohne allerdings Leistungen zu kürzen. Und er soll objektiver werden, obwohl ihn Babler derzeit für objektiv hält.
Die Zweckwidmung der Digitalsteuer sagte Babler ab. Im Regierungsprogramm steht zwar etwas von einer Prüfung, aber die dürfte schon abgeschlossen sein. Dafür soll ein Gratis-Abo für jüngere Leute kommen. Ich empfehle, das noch einmal durchzudenken. Denken kostet nichts. Das hilft angesichts der Budgetsituation.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Bei der Zahl der Funktionäre im Stiftungsrat muss der ORF in den nächsten Jahren nicht sparen, das sicherte die Bonsai-Reform ab. Verwaltungsfasten ist auch außerhalb der Osterzeit kein gängiges Brauchtum in Österreich.


Am Tag nach dem Hintergrundgespräch stieg Babler dann in eine laufende Debatte ein. Am Freitag hatte sich Falter-Chefredakteur Florian Klenk völlig zurecht über die Machenschaften der ATV-Sendung "Das Geschäft mit der Liebe" empört. Zu spät, die Sendung läuft schließlich schon seit 2010? Der Einwand zielt ins Leere, nach dieser Argumentation hätte man auch die Sklaverei nie abschaffen dürfen.
ATV hat das Pamphlet inzwischen aus dem Programm genommen. Vorübergehend, um daran ein bisschen herumzuschnipseln. Dauerhaft kann sich der Sender einen Stopp nicht leisten. "Das Geschäft mit der Liebe" gehört zu seinen erfolgreichsten Formaten.
Das "offene Zuschaustellen von sexueller Ausbeutung von Frauen hat weder medial im TV noch sonst irgendwo in unserer Gesellschaft etwas zu suchen," schrieb Babler in den Sozialen Medien. Natürlich hat auch er jedes Recht, die Sendung zu verurteilen, als Staatsbürger, als Elternteil. Als Medienminister ist er dazu nachgerade verpflichtet.
Babler schrieb allerdings auch, er werde "an die Geschäftsführung von ATV herantreten und die Inhalte dieser Sendung thematisieren". Das wiederum halte ich für übergriffig. Nur weil das in einem Fall passend erscheint, wird kein Schuh daraus. Bestellt er beim nächsten Mal einen Zeitungs-Chefredakteur ein, weil ihm ein Artikel nicht passt? Ruft er beim Kinderfernsehen an, weil seiner Tochter der Schluss beim Kasperl nicht getaugt hat?

Für einen Medienminister wäre es korrekt gewesen, die zuständigen Gremien mit dem Fall zu befassen, und da beginnt das Problem. Zeitungen unterliegen einer strengen Selbstkontrolle. Ich bin selbst Mitglied beim Presserat, er leistet wertvolle Arbeit, ich schätze die Debatten. Aber der Presserat ist natürlich aus der Zeit gefallen. Er ist wie ein Eisbär auf einer Scholle, dem das Eis unter dem Hintern wegschmilzt.
Der Presserat untersucht nur Regelverstöße, die in Printprodukten passieren oder auf Webseiten, die zu Printverlagen gehören. Er kümmert sich mit großer Leidenschaft um ein Marktsegment, das fortlaufend an Bedeutung verliert. Fernsehen, Social Media, von Facebook bis TikTok, alle Medienerzeugnisse, die in den vergangenen Jahren ein explosives Wachstum hingelegt haben, bleiben ein blinder Fleck.


Fürs Fernsehen ist die KommAustria zuständig. Sie überprüft Regelverstöße, aber sie scannt kein Programm, sie darf gar nicht auf Fehlersuche gehen. Wer sich beim Presserat über einen Artikel beschweren will, schreibt ein Mail. Wer sich über einen Fernsehbeitrag ärgert, muss direkt davon betroffen sein, kann eine Sachverhaltsdarstellung einbringen oder Unterschriften für eine Popularbeschwerde sammeln. Es ist eine hohe Hürde.
Der Presserat hat 2023 gesamt über 407 Fälle beraten und dabei 20 Verstöße festgestellt. Bei der KommAustria kommen Beschwerdefälle nur alle heiligen Zeiten einmal vor. Die Behörde wickelt rund 3.000 Verfahren im Jahr ab, mit dem Inhalt von Sendungen hat sie selten zu tun. Über "Das Geschäft mit der Liebe" hat sich noch niemand aufregt. Niemand, in all den 15 Jahren.
Vor ein paar Jahren lief auf Servus TV ein Verschnitt aus "Aktenzeichen XY" im Hauptabendprogramm. Es wurde ein Kriminalfall aus Kärnten gezeigt, ein Messerstecher ging auf eine andere Person los, eine Überwachungskamera filmte mit. Das Video davon im Fernsehen zu zeigen, führte zu keinerlei Beschwerden. Die Screenshots in der Zeitung aus dem Video brachten eine Verurteilung durch den Presserat ein.


Die KommAustria hat nun "amtswegig" ein Verfahren gegen ATV eingeleitet. Der Privatsender wurde aufgefordert, Videomaterial zu "Das Geschäft mit der Liebe" vorzulegen. Ende offen.
Der Manager, der die Sendung bei ATV zum Start ins Programm hievte, ist heute übrigens Unterhaltungschef im ORF.
Der Vorfall wäre eine gute Gelegenheit, über einen Medienrat nachzudenken. Der Eisbär gehört von der Scholle geholt. Nicht die Art der Ausspielung, sondern der Inhalt sollte Richtschnur der ethischen Beurteilung sein. Dieser Medienrat wäre mit ausreichend Geld auszustatten. Vielleicht bespricht das Andreas Babler bei Gelegenheit einmal mit der Branche. Es könnten ja ausnahmsweise einmal alle Medien eingeladen sein.

Zum Parteitag der ÖVP in Wiener Neustadt am Samstag waren alle Medien zugelassen. Aber nicht alle fanden sofort hin.
Ich habe Wels einmal unvorsichtigerweise als "New Jersey von Linz" bezeichnet. Vor etwas mehr als einem Jahr startete die ÖVP dort ins Superwahljahr 2024, Karl Nehammer präsentierte erstmals zum zweiten Mal seinen "Österreichplan".
Aber wenn Wels das "New Jersey von Linz" ist, was ist dann Wiener Neustadt? Vielleicht ist Wiener Neustadt einfach Wiener Neustadt. Ein Ort, der zufällig entstanden ist, weil man am Weg in den Süden irgendwo die Pferde tränken musste, später dann die Eisenbahn.
Hier versammelten sich Samstagmittag ÖVP-Funktionäre aus ganz Österreich, um ihren Buddha zum neuen Parteichef zu machen. Das endete zunächst im Stau, weil sich die Buddhisten mit den Einkaufsgläubigen mischten, die an diesem verregneten Samstag in die Shoppingmeile von Wiener Neustadt pilgerten.
Wer nie in den Banlieues von Wiener Neustadt im Stau gestanden ist, hat nie gelebt.

Die Shoppingmeile liegt nämlich unglücklicherweise in der Nähe des Flughafens und der Flughafen gleich neben der Arena Nova. Genau dort wollten die Buddhisten hin. Ihr Navi lotste sie von der Südautobahn über fünf Kreisverkehre zur Halle, dort aber zeigte sie den Buddhisten den Mittelfinger. Denn die Halle hat eine Vorderseite und eine Rückseite, zu viel der Auswahl.
Es war so wie beim Brot, das immer auf die Butterseite fällt. Wer vorne rein musste, landete hinten, und umgekehrt.
Der Sachverhalt forderte durchaus prominente Opfer, etwa Wolfgang Sobotka (ohne Schirm) und Thomas Stelzer (ohne gute Laune). Große schwarze Limousinen rollten heran, Parteiprominenz entstieg den Schlachtschiffen und stand vor grauen Betonwänden, die schwiegen wie ein Grab.
Also setzte eine Wanderbewegung ein. Wer vorne war, was auch hinten gewesen sein kann, musste nach hinten gehen, was auch vorne gewesen sein könnte. Männer in Tracht stapften missmutig durch Regenlacken, die Hände in den Taschen ihrer Janker verborgen. Assistenten hielten tapfer Regenschirme über ihre Köpfe.

Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer hatte inzwischen per Handy erfahren, dass er die Arena Nova ebenfalls von der falschen Seite her aufgezäumt hatte. "Ich gehe jetzt sicher nicht rundherum", giftete er ins Handy, "warum ist da nichts angeschrieben?" Was er meinte: In Wels war alles besser.
Also wurden einige schwarze Limousinen neu gestartet, rollten ein paar hundert Meter um die Halle herum und stellten die Fracht diesmal ordnungsgemäß zu.
In der Arena Nova war da schon Halli Galli. Wie üblich hatten der ÖVP 2.000 Gäste zugesagt, die Partei aber den Medien 1.600 Gäste kommuniziert, um die eigenen Erwartungen, die es nie gegeben hatte, zu übertreffen.

Der Parteitag war bescheidener angelegt, keine Band, kein Video im Stil von James Bond wie bei Karl Nehammer in der Wiener Eisarena. Die Veranstaltung vor der Haustür des neuen Parteichefs passte so gut zur aktuellen ÖVP wie der Dreiteiler zu Christian Stocker.
Die Volkspartei gibt sich nun erdiger. Zum neuen Selbstverständnis gehört die Betonung der Einigkeit. Stocker ist der zehnte Parteiobmann seit 1990. Bis auf den verstorbenen Erhard Busek und Reinhold Mitterlehner waren alle da, sogar Josef Riegler, inzwischen 86 Jahre alt.
Die neue Volkspartei hat auch Sebastian Kurz wieder in ihren Schoß aufgenommen und er weiß das zu nutzen. Der Ex-Kanzler kommt fünf Minuten vor Stocker in den Saal, Elisabeth Köstinger an der Seite. Kurz räumt die Interviews und die Selfies ab, als sein Nachnachnachfolger kommt, ist das Feld abgegrast.
Der folgende Parteitag ist eine Orgie an Lob und Hudelei, eine Dauerwerbesendung für Erreichtes und Erreicher, ein Geschäft mit der Liebe. Kurz nimmt einen erstaunlich großen Raum in den Danksagungen ein, Stocker lässt ihn gewähren.

Wie immer gibt August Wöginger den Einpeitscher. Er erzählt von schachtelweise verdrückten Schokobananen während der Verhandlungen und dem Licht im Parlament, das um Mitternacht abgeschaltet wurde.
Für die FPÖ, mit der er noch vor eineinhalb Monaten eine Schokobananen-Koalition zustande bringen wollte, hat er nur noch Spott übrig. Sie hätte sich gegen die Digitalisierung gestemmt und aufs Fax als Zukunftstechnologie gesetzt. In den Papieren durften keine englischen Ausdrücke vorkommen, nicht einmal "community nurse". Wie Wögingers daheim halt so reden, im Innviertel.
"Aasgeier", nennt Generalsekretär Nico Marchetti die FPÖ, Karl Nehammer, der über 20 Minuten lang redet, erwähnt weder Kickl noch die Freiheitlichen namentlich. Er schießt sich auf den ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss ein, "Zerstörungswahn", unterstellt er den Beteiligten.

Dann schnallt er seine Rolex wieder an, die er aufs Pult gelegt hatte, um sich zeitlich zu disziplinieren, bekommt von Stocker eine hässliche Fotocollage als Abschiedsgeschenk überreicht. Damit endet seine Ära.
Am Ende spricht der Kanzler selbst, seine Partei vermarktet ihn nun als Winston Churchill. Good luck!
Der neue Parteichef ist kein großer Redner, an diesem Tag zudem hörbar nervös. Sein 91-Jähriger "Papa" sitzt im Saal, selbst er glaubte nicht, dass der Sohn Kanzler werden könnte. "Eher gewinnt der SC Wiener Neustadt die Champions League," habe er gesagt, so Stocker.
Mit 98,4 Prozent wird Winston Churchill schließlich zum neuen Parteichef gewählt. Und dann waren alle schnell hinten ausse.
Ich wünsche nach vorne ausse einen geruhsamen Sonntag. Bis in einer kleinen Weile!