Stimmengewirr
Wiener Wahl: Schminkt Euch bitte diese Trendprognosen ab!
In Wien gab es am Sonntag eine Wahl, aber zwei Ergebnisse. Ehe das erste Ergebnis zu Ende interpretiert war, tauchte ein neues Ergebnis auf, es fiel gravierend anders aus als das erste. Das mag gut für die Show sein, letztlich ist es ein Ärgernis. Ich weiß, warum.

Schon 2015 war es eng, aber in Wirklichkeit auch wieder nicht. Am 11. Oktober fanden Wiener Gemeinderatswahlen statt. Schon die Wochen davor hatte es gedampft und gebrodelt, der FPÖ wurden erstmals Chancen eingeräumt, das rote Wien zu stürzen.
Mit KI-Stimme: Schminkt Euch bitte diese Trendprognosen ab!
Die SPÖ unter Michael Häupl hatte ihren Wahlkampf ganz auf diesen Abwehrkampf ausgerichtet. Es galt, einen Bürgermeister Heinz-Christian Strache zu verhindern. Eben jenen Heinz-Christian Strache, der bei der aktuellen Wahl am Sonntag 1,1 Prozent der Stimmen erreichte. Von den 1,1 Millionen Wahlberechtigten gaben ihm lediglich 7.244 ihre Stimme.
Das ist nicht arg viel für jemanden, der ausgezogen war, um nicht weniger als "Wien zu retten". Dieser Rettung widmeten sich 300 Dreiecksständer und 1.100 Plakate. Es soll schon Wahlkämpfe gegeben haben, in denen Geld effizienter investiert wurde.

Vor zehn Jahren war das noch anders. Da stand Strache am Höhepunkt seiner politischen Karriere in der regionalen Arena. In der Elefantenrunde des ORF wurde sein Stierkampf gegen Häupl sogar – einigermaßen grell – als "Duell der Giganten" bezeichnet.
Das vorläufige Wiener Wahlergebnis
- SPÖ 39,51 %
- FPÖ 20,75 %
- GRÜNE 14,19 %
- NEOS 9,81 %
- ÖVP 9,71 %
- KPÖ 3,97 %
- HC 1,12 %
- SÖZ 0.86 %
Ob es dieses "Duell der Giganten" jemals gegeben hat, ist bis heute umstritten. Aber es gab viele Profiteure der Show. Die FPÖ, der enorm viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die SPÖ, die Stimmen von den GRÜNEN kapern konnte. Der grünen Wählerschaft wurde vermittelt, dass nur Gigant Häupl einen Giganten Strache als Bürgermeister verhindern könnte.
Für die Medien war sowieso Halligalli. In den Umfragen rückten im Vorfeld die Köpfe in diesem Kopf-an-Kopf-Duell immer näher zusammen. Es war alles angerichtet für ein großes Finale. Und dann kam der Wahltag.

Der ORF hatte mich gebeten, am Wahlsonntag an einer ersten kurzen Analyse-Runde teilzunehmen. Im Rathaus war ein Studio errichtet worden, knapp nach 17 Uhr sollte ich mit Christian Rainer, damals Chefredakteur des "Profil", auf Sendung gehen. Basis waren die Zahlen einer "ersten Trendprognose". Die hatten einen Haken: sie waren falsch.
Also die Zahlen waren nicht grundlegend falsch, sie waren seriös ermittelt worden. Aber weil sich niemand um Warnungen und Schwankungsbreiten und derlei Firlefanz kümmerte, gab es auch noch um 17 Uhr ein Kopf-an-Kopf-Rennen und damit es noch ein bisschen spannender wurde, visionierten viele Heinz-Christian Strache plötzlich auf Platz 1.
Das war der zweite Haken an der Geschichte, denn auch das stimmte nicht. Davon wussten Christian Rainer und ich nichts, als wir auf Sendung gingen und etwas analysierten, was es nicht gab. Ich war vergleichsweise zurückhaltend im Ton, der Brite im Kärntner schlug durch, Christian Rainer aber zog vom Leder. Er malte den Untergang der Bundeshauptstadt unter einem Bürgermeister Strache an die Wand.
Dazu kam es nicht, denn eine Stunde später traf die erste Hochrechnung ein und von diesem Zeitpunkt an entfernte sich der Gigant Häupl vom Giganten Strache immer weiter je länger der Abend dauerte. Am Ende erreichte die SPÖ 39,59 Prozent und die FPÖ 30,79 Prozent. Das Kopf-an-Kopf-Duell endete mit dem Gardemaß-Abstand von 73.322 Stimmen.

10 Jahre später erreichte der Nachfolger von Michael Häupl am Sonntag fast auf die Dezimalstelle gleich viele Prozente. Was Michael Ludwig zu denken geben sollte: Die 39,59 Prozent vor zehn Jahren waren 329.773 Stimmen. Die 39,51 Prozent diesmal waren 256.513 Stimmen. Über 73.000 Stimmen gingen verloren.
Seit 2015 fremdle ich deshalb mit "Trendprognosen" und besonders mit "ersten Trendprognosen". Ich verstehe ihren Sinn auch nicht. Ist es tatsächlich eine Zumutung, wenn man ein mögliches Wahlergebnis nicht um 17 Uhr, sondern erst um 18.40 Uhr erfährt?
Rufen die Leute dann beim ORF an und fordern im forschen Ton die Herausgabe von Daten? Fahren Menschen verfrüht aus den Schrebergärten heim, um vor Sonnenuntergang zu erfahren, ob die NEOS nun sieben, acht oder neun Prozent geschafft haben? Und brechen sie dann, wenn die Sender ihnen diese Information vorenthalten, gebeugt über ihre frisch geernteten Karotten und Kohlrabi-Knollen in Tränen aus?
In denke nicht. Österreich scheint mir stark und gefestigt genug zu sein, um 100 Minuten später zu erfahren, wie der Hase läuft. Auf den neuen Papst müssen wir schließlich auch wochenlang warten und deshalb stürzt auch nicht gleich der Südturm vom Stephansdom ein.

Natürlich, "Trendprognosen" machen Wahlabende fürs Fernsehen, für die Digitalmedien und Social Media erst so richtig zur Sause. Der Nervenkitzel, bevor die ersten Zahlen kommen, das Gesumse und Gesimse danach, die Erforschung der Gründe, alles Folklore. Aber ist es uns nicht schon zu oft passiert, dass wir voreilig sezieren, was noch lebt und atmet?
In Wien schließen die Wahllokale einheitlich um 17 Uhr. Es gibt keine Gemeinden wie in Vorarlberg, die – Pardon – aus drei Misthaufen bestehen und die an Wahltagen nur ein paar Wimpernschläge offen haben. Lange genug aber, dass sich aus ihren Kaffeesätzen Herleitungen auf Wahlergebnisse treffen lassen. In Wien kommt bis 17 Uhr nichts, dann alles im Schwall.
Die "Trendprognose" hatten diesmal ein zusätzliches Problem zu schultern: Ostern. Da sind viele Menschen schwer erreichbar, denn man muss wissen, dass "Trendprognosen" zwar einen pfiffigen Namen tragen, aber auch nichts anderes sind als Umfragen. Sie wurde diesmal von ORF, APA, ATV und Puls24 beauftragt und von Foresight und Peter Hajek durchgeführt.
Anders als etwa in den USA gibt es in Österreich keine Exit Polls, es werden also keine Menschen interviewt, die das Wahllokal verlassen. Tatsächlich wurden diesmal insgesamt 3.600 Personen befragt und das in drei Wellen zu je 1.200 Personen. Die erste Welle wurde vor Ostern durchgeführt, die beiden anderen bis zum Samstag vor der Wahl. 1.200 Menschen wurden per Telefon kontaktiert, 2.000 via Internet.

Umfragen bilden Entwicklungen ab. Sie sind Momentaufnahmen, das kann nicht oft genug erwähnt werden. Diese Momentaufnahmen waren in den vergangenen Wochen erstaunlich präzise, sämtliche Parteien lagen am Ende des Tages innerhalb der Schwankungsbreite, wurden also korrekt dargestellt.
Die "erste Trendprognose" aber war ein Schlag ins Wasser, auch weil ihr stets eine überzogene Erwartungshaltung zugrunde liegt. Sie wird mit einer Hochrechnung auf eine Stufe gestellt, es wird Präzision erwartet, das aber kann eine "Trendprognose" nicht leisten. Sie führt zu Fehlschlüssen, deshalb ist ihr Sinn zweifelhaft.
In der "Trendprognose" erlitt die SPÖ eine schwere Niederlage, die FPÖ kam deutlich über 20 Prozent, die ÖVP verlor moderater.

Am Ende gab es fast lauter Gewinner. Die SPÖ verlor, aber gewann überlegen den ersten Platz. Die FPÖ verdreifachte sich. Die GRÜNEN verloren ein bisschen was, lagen aber über ihren eigenen Erwartungen. Die NEOS legten ein gutes Stück zu. Nur die ÖVP wird keinen Hebel finden, sich das Ergebnis schön zu reden. Wien ist nicht ihr Pflaster.
Michael Ludwig will nun mit allen drei Parteien, die sich ihm im Wahlkampf an den Hals geworfen haben, in Sondierungsgespräche eintreten. Es ist kein Grund ersichtlich, warum er die Koalition mit den NEOS nicht fortsetzen sollte. Einen derart netten Partner bekommt er so schnell nicht mehr wieder.

Michael Häupl lachte sich 2015 die GRÜNEN an. Der "Report" analysierte einen Tag nach der Wahl die Wahl und fing dafür auch Stimmen im FPÖ-Zelt ein. Eine junge Frau wurde gefragt, warum Heinz-Christian Strache aus ihrer Sicht nicht Erster geworden sei. Sie dachte kurz nach, dann sagte sie: "Die Wähler sind ein bisschen dumm".
In der selben Sendung kam auch ein jugendlich wirkender Mann vor. Er sprach vom "massiven Gegenwind", der seiner SPÖ ins Gesicht blase. "Hut ab" vor dem Wiener Ergebnis, aber der "Ruf nach Erneuerung", inhaltlich und personell, sei "überall erster Punkt". Das Insert wies den jugendlich wirkenden Mann als "Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen" aus.
Ich wünsche einen wahllos schönen Montag. Bis in einer kleinen Weile!