Wahl-Kopfnüsse, Folge 14
Wieso ein Alarm in Österreich nicht einfach ein Alarm ist
Die Hochwasser-Katastrophe legt ein gefährliches Problem offen: Wir haben momentan kein taugliches System, um die Bevölkerung zu alarmieren. Obwohl es eigentlich zwei Warnsysteme gibt. Oder neun, weil Ländersache. Es ist kompliziert.
"Ich meine, 95 Prozent der Politik, die geboten wird, besteht aus Inszenierung". Christian Kern, Kanzler, SPÖ, 1. Februar 2017.
Am Ende des Tages kam Karl Nehammer dann doch. Gestern fuhr der Kanzler nach Hadersdorf ins Kamptal, die Region wird von der Hochwasser-Katastrophe derzeit besonders schlimm gebeutelt. Übers Wochenende war Nehammer lieber im Bunker und in den Einsatzzentralen geblieben, ich habe das rätselhaft gefunden. Wobei: Wenn ich in einem Rätsel nach einem anderen Wort für Rätsel gefragt werde, dann schreibe ich immer Österreich hin. Auch wenn nur drei Felder Platz sind.
Hier spricht wieder meine KI zu Ihnen:
Aber ein Regierungschef muss Präsenz zeigen, auch Nähe. Es ist sein Job. Er muss die Krise in die Hand nehmen. Auch das ist sein Job. Natürlich hilft das im Wahlkampf. Politik ist in solchen Zeiten nicht nur zu 95 Prozent Inszenierung, sondern zu fast 100 Prozent. Niemand kann sich dem entziehen.
Für alle Parteien, außer der ÖVP, wird es jetzt schwierig. Der Kanzler kann auf offener Bühne Mitgefühl zeigen, Hilfe versprechen, vor allem Geld. Ihm gehören ab sofort die großen Bilder. Damit sie groß genug geraten, lässt er sie im eigenen Haus herstellen. Die Lichtbildnisse der Kamptal-Visite fluteten gestern am Abend die Austria Presse Agentur. Ihr Ursprung liegt im Kanzleramt, das lässt sich ohne viel Detektivarbeit ermitteln.
Der Wahlkampf wandelt sich momentan, er wird aus den Fernseh-Studios nach draußen getragen wie die Schanigärten im Frühjahr. Gestern wurden alle TV-Duelle abgesagt. Sie werden ab jetzt wie aus der Zeit gefallen wirken. Im Fernsehen über Messenger-Überwachung debattieren, über neue und alte Steuern und Koalitionen, mit und ohne Ampel, während draußen Menschen um ihre Existenz kämpfen? Seltsam!
Dreht das nun das Wahlergebnis? Ich habe immer noch meine Zweifel, aber ein Satireprojekt wäre das schon: Die Partei der Donauinsel-Verhinderer, der Verbrenner-Versteher, der Klimaschutz-Hausverständler, der Renaturierungs-Betonmischer holt sich ausgerechnet wegen einer Umweltkatastrophe den Wahlsieg? Wie ging das noch mit dem Rätsel und den drei Feldern?
Es sind herzzerreißende Geschichten, die man nun erzählt bekommt. Sie handeln von Menschen, deren bisheriges Leben im Schlamm liegt. Die nicht wissen, wo sie die kommende Nacht schlafen sollen. Die auf das schauen, was sie bisher ihr Zuhause nannten, aber es nicht mehr wiedererkennen. Die Flut hat vielen vieles genommen, manchen alles.
Weite Teile Österreichs sind Land unter. Es wird Tage dauern, um einen Überblick zu bekommen, Wochen und Monate, um die Schäden zu beseitigen, ein Leben lang, um die Bilder aus dem Kopf zu kriegen.
Am Montag schickte der Teufel noch eine Ladung Regen. Er traf auf eine ohnehin schon zermürbte Bevölkerung. Am Sonntag hatte es Pausen gegeben, da hofften viele, es ist vorbei, die Talsohle durchschritten. Dann kam der nächste Schwung Wasser und machte alles noch viel schlimmer.
Unter die Tränen mischt sich zunehmend Ärger. Die Politik wird hier viel aufzufangen haben. Ähnlich wie bei der Pandemie war das Land auf einiges nicht vorbereitet, das wird immer klarer. Als das Hochwasser begann, Wasserkübel über uns auszuschütten, verfügte Österreich über kein funktionierendes Warnsystem. Dabei gibt es sogar zwei davon, eines davon aber fast nicht mehr, und das andere noch nicht ganz.
Seit 2017 wird Österreich über "Katwarn" gewarnt. Theoretisch. Die App ist in Deutschland ein Erfolg, bei uns war sie nie ein Straßenfeger. Es gab nur rund 100.000 Downloads, das Innenministerium verlor zunehmend das Interesse daran. Ein Leser schickte mir gestern einen Mail-Verlauf mit den Betreibern. Als in Wien am 2. November 2020 ein Terroranschlag verübt wurde, langte die erste Alarmmeldung von "Katwarn" zwei Stunden nach (!) den Breaking News des ORF ein. Der Leser fand das seltsam, erkundigte sich, das Team von "Katwarn" bedankte sich höflich dafür. Mehr nicht. "Katwarn" werde ausgelöst, sobald das "intendiert" sei, hieß es.
Alle bisherigen Wahl-Kopfnüsse
- Folge 1: So wurde ich für den Kanzler zu einer KI
- Folge 2: Bestäubungs-Staberln und ein Wasserträger
- Folge 3: "Natürlich hat er das, ich bin kein Vollidiot"
- Folge 4: Zwischen starker Mitte und Impotenz
- Folge 5: So führt uns der Kanzler in Wien aufs Glatteis
- Folge 6: Die Volkspartei und ihr Tom Cruise von Kagran
- Folge 7: Brandherde, Brandreden und eine Brandmauer
- Folge 8: Hurra, Hurra, der Bildungsminister ist da!
- Folge 9: Halleluja, endlich wird der Wahlkampf göttlich
- Folge 10: Fasst Euch doch an die eigene Nase!
- Folge 11: Und Ihr wollt echt eine Koalition eingehen?
- 11 Folgen in einer Story gesammelt
- Folge 12: Geben Gummistiefel dem Wahlkampf Gummi?
- Folge 13: Das Hochwasser und ich, aber wo ist der Kanzler?
Als es im August 2022 in Teilen Österreichs Rekord-Niederschläge gab, warnte "Katwarn" ebenfalls nicht. Auf der App fanden sich aber zweieinhalb Jahre alte Alarm-Meldungen für Wien und Tamsweg. Wegen Corona. Reaktion der Betreiber: "Es liegt im Ermessen der zuständigen Behörden, ob für ein Ereignis Katwarn ausgelöst wird."
Das ist tatsächlich so: Was eine Katastrophe ist, bestimmen die Länder. Es gibt neun Katastrophenschutz-Gesetze, wann, wofür Alarm geschlagen wird, ist Ansichtssache. Beim aktuellen Hochwasser gab es 13 Alarm-Auslösungen für bestimmte Regionen. Neun in der Steiermark, eine im Burgenland, aber nur drei in Niederösterreich, obwohl das gesamte Bundesland am Sonntag zum Katastrophengebiet erklärt worden war.
Die Warnungen bleiben Ländersache, wenn "AT-Alert" am 5. Oktober startet, ohnehin zwei Jahre verspätet. Das neue System funktioniert automatisch, man muss keine App herunterladen. Warnmeldungen werden auf jedes Handy geschickt, das sich innerhalb bestimmter Funkzellen befindet. 20.000 gibt es davon in Österreich.
Aber: Wer in Wien wohnt und zur Datscha ins Waldviertel fährt, wird nicht vorab gewarnt, wenn dort was los ist. Es gibt zwar ein Dashboard, auf dem alle Alarm-Meldungen Österreichs gesammelt auffindbar sind, angeschaut darf das Dashboard aber nur im Ministerium werden.
Und "Katwarn"? Bleibt vorerst bestehen, kann im App-Store runtergeladen werden, wird auf der Webseite des Innenministeriums weiter eifrig beworben, ist aber von den Daten her mausetot. Mitgeteilt wird einem das nirgends. Eigentlich müsste die Warn-App vor sich selbst warnen.
Ich wünsche einen sonnigen Dienstag. Die gemeinsame Pressekonferenz von Karl Nehammer mit Michael Ludwig war gestern interessant. Fast wie ein Fingerzeig, dass die ÖVP doch mit der SPÖ kann. Mit der anderen SPÖ halt. Bis morgen!