interview
"Wir haben im Asylsystem Personen, die dort nicht hingehören"
Migration neu gedacht. Expertin Judith Kohlenberger über den EU-Pakt mit Ägypten, "Flüchtlingsmüdigkeit" und warum Heidi-Zöpfe allein nicht Österreich ausmachen.
Judith Kohlenberger ist promovierte Kultur- und Sozialwissenschaftlerin, Migrationsforscherin an der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU) und Mitglied des Integrationsrates der Stadt Wien. Das sagt die im Newsflix-Podcast über:
Warum sie Migrationsforscherin wurde
Ich bin tatsächlich zufällig dazu gekommen. Ich war mit ganz anderen Themen befasst und bin durch die Ereignisse des Jahres 2015 wissenschaftlich damit in Kontakt geraten.
Wie dieser Kontakt zustande kam
Ich habe damals beim österreichischen Demografen Wolfgang Lutz gearbeitet, der eine Professur an der WU Wien innehatte. Er ist sehr spontan auf die Idee gekommen, dass es doch wichtig wäre, neben all dem humanitären Engagement, dass es im Sommer 2015 gab, neben all den politischen Debatten, das Ganze auch mit der wissenschaftlichen Brille zu bearbeiten, und das bedeutet für Demografen vor allem Daten zu generieren, die es nicht gab.
Wie sie den Stimmungsumschwung 2016 im Land erlebt hat
Das ist eigentlich bekannt in der Forschung. Wir nennen das die "Refugee fatigue", Flüchtlingsmüdigkeit. Also man wird ein bisschen müde mit der Zeit, jetzt schon wieder Decken zum Bahnhof bringen, wieder spenden … Irgendwann flaut das ab.
Wie sie das Migrationsabkommen mit Ägypten einschätzt
Es ist nicht das erste. Wir hatten erst im Sommer letzten Jahres ein ähnlich gelagertes Abkommen mit sehr ähnlichen Bildern, die durch die Medien gingen, aus Tunesien. Das hatte dann über die Sommermonate eher einen gegenteiligen Effekt. Es hat nicht dazu geführt, dass es zu weniger Asylanträgen beispielsweise in Italien kam, oder dass die Zahl der Überfahrten übers Mittelmeer gesunken ist, im Gegenteil, die Zahl ist angestiegen. Und das ist eine große Gefahr, die ich auch in Verbindung mit diesem Abkommen mit Ägypten jetzt sehe.
Was das Ägypten-Abkommen für Folgen haben wird
Es folgt einer üblichen Blaupause, die EU koppelt wirtschaftliche Hilfen mit Migrations-Prävention. Das gab es auch mit Marokko. Mit der Türkei. Ich kann sagen: Gut, ich verhindere dadurch irreguläre Migrationen, im Gegenzug schaffe ich mehr legale Möglichkeiten. Das ist tatsächlich Teil dieses Abkommens. Das gibt es aber bereits, Ausbildungspartnerschaften etwa. Junge Ägypterinnen und Ägypter können legal nach Europa kommen und hier arbeiten. Man will das ausbauen. Das ist gut und sinnvoll.
Was weniger gut ist
Wir wissen einfach nicht genau, was sich hinter Schlagworten wie Migrationskontrolle, Aufstockung des Grenzschutzes, Verhinderung von Überfahrten verbirgt. Eine große Unbekannte ist für mich, wie viel Handhabe die EU noch hat, wenn diese 7,4 Milliarden Euro ausgezahlt sind. Und an wen fließt das Geld? Soweit ich das den vorhandenen Texten entnehme, direkt ans autokratische Regime und nicht zum Beispiel an NGOs vor Ort. Da ist halt wieder die Gefahr groß, dass das in einem Korruptionssumpf verschwindet und das Regime stabilisiert, sodass das es dann wieder Menschenrechtsverletzungen durchführen kann.
Italien will sein Flüchtlingswesen zum Teil an Albanien auslagern. Wie sie das bewertet
Vorab: Ich finde den Deal mit Tunesien besser als jenen mit Ägypten. Tunesien ist zwar eine unfertige und nicht lupenreine Demokratie, aber doch als Demokratie einzustufen. Ägypten ist eine Autokratie. Und das bringt mich zur Frage nach Albanien. Ich glaube, dass man hier auch vorsichtig sein muss, wenn man Albanien und Ägypten in einen Topf wirft. Immerhin ist Albanien ein EU-Beitrittskandidat. Und wir wissen, dass dort zu einem großen Teil auch wirklich rechtstaatliche Strukturen vorhanden sind, auch im Asylwesen.
Wo das Risiko dabei liegt
Wenn ich die ganzen menschenrechtlichen Bedenken außer Acht lasse, dann bleibt die Frage, ob das auf lange Sicht wirklich dafür sorgen wird, dass weniger Menschen irregulär nach Italien oder in die EU kommen? Jetzt kann ich mir noch so oft auf die politische Agenda schreiben, wie man es hierzulande tut, dass ich Rückführungen forcieren will. Aber wenn ich nicht mit den Herkunftsländern gesprochen und die mit ins Boot geholt habe, dann scheitert das meistens. Das heißt, auch bei Albanien ist die Gefahr groß, dass sich innerhalb kürzester Zeit ein Rückstau an abgelehnten Asylwerbern bildet.
Warum es trotzdem gemacht wird
Ein wichtiger Aspekt all dieser Abkommen ist das innenpolitische Signal. Eine Giorgia Meloni ist damit angetreten: Null Flüchtlinge, Grenzen dicht, und das soll jetzt eben auch der eigenen Bevölkerung signalisieren, sie tut was in der Richtung.
Großbritannien will Asylwerber während der Zeit ihres Verfahrens nach Ruanda bringen. Wie sie das sieht
Ich bin sehr skeptisch, dass das gelingt. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass solche Auslagerungspraktiken unglaublich teuer sind. Es wird als Beispiel immer Australien herangezogen. Migranten werden dort auf vorgelagerte Inseln gesteckt. Das kostet aber mehrere Millionen Euro pro Flüchtling pro Jahr.
Ob es irgendwo auf der Welt ein Vorbildland für Österreich gibt
Die Frage bekomme ich oft gestellt und ich antworte nie mit Kanada darauf. Ich habe ein persönliches Erlebnis dazu, 2016, am Canada Day, dem Nationalfeiertag, in der kanadischen Botschaftsresidenz hier in Wien. Der Botschafter hat in seiner Rede gesagt, dass Kanada wieder ein paar hundert syrische Flüchtlinge eingeflogen hat. Tosender Applaus. Ich fand das auf zwei Ebenen lustig. Einerseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass dasselbe am österreichischen Nationalfeiertag passieren könnte. Andererseits war das natürlich eine lächerlich kleine Zahl.
Ob es also kein Positivbeispiel gibt
Das überrascht viele etwas, aber der EU ist am 25. Februar 2022 etwas gelungen, als man nämlich die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert und ich glaube 28 Millionen aus der Ukraine vertriebenen Menschen in der gesamten EU sofort Schutz, sofort Arbeitsmarktzugang gegeben hat. Damit wurden Bilder von Chaos und Kontrollverlust vermieden.
Warum so viele Menschen nach Österreich flüchten
Um es positiv zu formulieren: Österreich ist das erste Land in einer Reihe von vielen Ländern, wo Rechtsstaatlichkeit und Freiheit noch lückenlos durchgesetzt werden. Aber das ist natürlich ein riesiges Problem, weil was nicht sein kann ist, dass Österreich 2022 rund 112.000 Asylanträge gehabt hat, mehr als 2015. Und Ungarn hatte im selben Jahr unter 50.
Warum uns dafür niemand auf die Schulter klopft
Ich sehe bei den Asylentscheidern, der Bundesbetreuungsagentur, der Grenzpolizei sehr viele, sehr konstruktive Kräfte, die auch wirklich einen Berufsethos haben, den man sich nur wünschen kann. Das ist mir viel zu wenig präsent in der ganzen Debatte, denn das sind die Leute, die unmittelbar nicht nur die Ankommensarbeit, sondern auch die erste Integrationsarbeit leisten. Das andere ist aber der Diskurs, die Rhetorik über Migration, Flüchtlinge, Flucht, Asyl, der in Österreich schon etwas explosiver geführt wird als in anderen Ländern.
Was an der Debatte anders ist
Migration ist Normalität in diesem Land. Wir haben 25 Prozent der Bevölkerung mit sogenanntem Migrationshintergrund. Sie können in kaum einen Wiener Supermarkt gehen, ohne auf einen Flüchtling zu treffen. Der hat nicht Flüchtling am Hirn stehen, sondern der trägt halt ein Billa-Kapperl mit seinen Namen am Schild und bedient an der Wursttheke oder gibt ihnen ein Semmel-Sackerl. Wir haben aber auf der anderen Seite einen unglaublich skandalisierenden, emotionalen Diskurs, und da gibt es natürlich nicht wenige politische Kräfte, die das zu instrumentalisieren verstehen.
Warum Muslime nicht in muslimische Länder flüchten
Also der allergrößte Anteil der Flüchtlinge weltweit will im eigenen Land bleiben oder geht unmittelbar in die Nachbarländer. Schauen wir zum Beispiel Syrien an, da habe ich viel dazu gearbeitet. In Jordanien ist jeder vierte bis jeder sechste dort lebende Mensch ein syrischer Flüchtling. Im März 2015, auch wenn das für Europa als Rekordjahr in die Geschichte eingegangen ist, kamen nur insgesamt sechs Prozent aller Flüchtlinge weltweit nach Europa. Aber natürlich war das viel, viel mehr als in den Jahren zuvor.
Ob Geld entscheidet, in welches Land Flüchtlinge gehen
Man muss jetzt unterscheiden zwischen Flüchtlingen auf der einen Seite und Migranten auf der anderen Seite. Die Realität der Migrationsbewegung in Afrika, aber auch aus Afrika hinaus, ist die sogenannte gemischte Migration. Das heißt, Flucht- und Migrationsgründe gehen ineinander über. Beispiel Eritrea: Dort haben wir massive Menschenrechtsverletzungen. Viele Menschen brechen trotzdem aus wirtschaftlicher Not auf.
Was im Asylwesen falsch läuft
Man muss ehrlicherweise schon sagen, dass wir derzeit im europäischen Asylsystem einen gewissen Anteil von Personen haben, die dort nicht hingehören, und die dort auch nicht hinwollen. Wir erinnern uns an die Diskussion vor einigen Jahren über Inder in Österreich. Wenn man mit denen, etwa im Flüchtlingslager Traiskirchen, offen gesprochen hat, dann haben sie gesagt: Na ja, eigentlich wollen wir ja gar nicht nach Österreich, wir ruhen uns jetzt ein paar Tage hier aus, dann gehen wir weiter nach Spanien, Portugal, wo wir bei diesen großen Erntefarmen unterkommen. Das ist Arbeitsmigration, hier fehlen legale Einreisemöglichkeiten. Diese Menschen müsste man rausnehmen aus dem Asylsystem, weil Asyl ist die mit Abstand teuerste Form der Einwanderung. Da muss ich für jeden Asylantrag ein gesamtes rechtsstaatliches Verfahren starten.
Wie sie Jugendkriminalität und Migration sieht
Da bin ich jetzt ein bisschen außerhalb meiner Expertise. Ich kann nur das sagen, was ich dazu aus der Kriminalsoziologie weiß. Was wir halt schon sehen ist, dass es eine Risikogruppe für Straftaten gibt, das sind junge Männer. Und was leider auch stimmt – und das ist einfach diesem selektiven und unfairen Migrationssystem zuzuschreiben, das wir jetzt haben und das aus meiner Sicht geändert gehört: Es ist vor allem diese demografische Gruppe, die überhaupt den Weg nach Europa schafft. Wir sprechen immer davon, schutzbedürftige Menschen, Frauen und kleine Kinder, aufnehmen zu wollen. Aber wenn wir keine sicheren Fluchtrouten für diese Gruppe schaffen, dann haben die weder das Geld dafür, noch körperlich die Kraft.
Was sie tut, wenn Sie Integrationsministerin werden sollte
Dieser Kelch möge ich mir vorübergehen. Aber: Das eine ist, was mache ich auf gesetzlicher Ebene anders? Das andere ist aber schon, wie rede ich über das Thema? Und ich glaube, wir brauchen eine andere Erzählung, was es bedeutet, Österreicherin, Österreicher zu sein. Das heißt jetzt nicht, alles andere über Bord werfen zu müssen, auch nicht diese ganzen schönen, aufgeladenen Symbole und Insignien wie Dirndl und Schnitzel und so weiter. Aber wenn wir um uns blicken, 25 Prozent der österreichischen Bevölkerung mit sogenanntem Migrationshintergrund, da können wir eine vielleicht etwas modernere Erzählung wagen.
Was sie darunter versteht
Zu sagen, ja, es gibt Österreicherinnen, die haben weiße Haut und blaue Augen und sind blond und haben zwei Heidizöpfe. Und dann gibt es andere, die schauen ein bisschen anders aus, die leisten aber auch einen wichtigen Beitrag. Das ein bisschen aufbrechen und verdeutlichen, was noch möglich ist, auch mit Blick auf Innovation, Kreativität, Weltoffenheit, gerade weil wir uns im Herzen Europas befinden, das würde ich ganz schön finden.
Was sie gesetzlich ändern würde
Österreich hat eines der restriktivsten Einbürgerungsgesetze weltweit, vor allem aber auch sehr, sehr hohe finanzielle Hürden, die ökonomisch selektiv sind. Also wer reich ist, kann sich die Staatsbürgerschaft leisten, wer zu wenig verdient, eben nicht. Und das hat leider auch integrative Folgewirkungen. Wir haben eine ganze Generation von jungen Erwachsenen, die noch nie erlebt hat, dass irgendjemand in der Familie am Sonntag zur Wahl geht.