Mikhail Lemeshko

YouTube-Professor: "Ist fundamentale Physik nutzlos?"

Laser, MRT, Monitore: Mikhail Lemeshko, Professor für theoretische Physik am ISTA und YouTube-Influencer, erklärt die Magie der Grundlagenforschung.

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"Physik ist wie Sex." So hat es angeblich der amerikanische Nobelpreisträger Richard Feynman einmal zugespitzt: "Klar, sie liefert ab und führt auch zu praktischen Ergebnissen, doch deshalb tun wir's nicht."

Warum Grundlagenforschung? Um die Politiker und Investoren von der Sinnhaftigkeit der Grundlagenforschung zu überzeugen, braucht es schon ein bisschen mehr als diese amüsante Analogie. Wir müssen Krebs in Spitälern effektiver heilen, die Leistung von Batterien steigern, neue ultraleichte Materialien entwickeln. Warum konzentrieren wir uns nicht einfach darauf und überlassen die rein fundamentalen Entdeckungen, wie neue Elementarteilchen, exotische Quantenzustände oder Einblicke in den Ursprung des Lebens den Bewohnern von Elfenbeintürmen?

Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA)
Mikhail Lemeshko

Warum also? Die Frage, ob und wofür man Grundlagenforschung unbedingt braucht, ist überhaupt nicht blöd und wird gerade in vielen Ländern auf mehreren Ebenen diskutiert. Nachfolgend spitze ich diese Frage weiter zu und erkläre nicht nur, warum scheinbar unnütze Wissenschaft nützlich sein kann, sondern auch, warum es ohne sie in einer Industriegesellschaft gar nicht ginge.

Wissenschaft als Kulturpraxis Es gibt mehrere Gründe dafür, warum rein fundamentale Forschung der Gesellschaft zugute kommt. Man kann sie zum Beispiel als Teil der menschlichen Kultur betrachten: Wofür braucht man bitte Theater, Museen und moderne Kunst? In Zeiten wie diesen die geistige Distanz zwischen Mensch und Tier um ein paar Zentimeter pro Jahr zu vergrößern wäre ja auch schon eine ausreichende Motivation.

Anwendungen alleine sind nutzlos Darüber hinaus ist es von Anfang an eine selbstgebaute rhetorische Falle, die Grundlagenforschung durch Anwendungen zu rechtfertigen. Denn das wahre Ziel der Wissenschaft ist nicht nur Umsetzung und Technologie, sondern ein besseres Verständnis unserer Welt. Sogar rein pragmatisch gesehen ist "Verständnis pur" an sich wertvoll – im Sinne von "es geht nicht ohne".

Irgendwer muss sie verstehen Die verschiedenen Ebenen, auf denen man mit einer Technologie arbeiten kann, verlangen verschiedene Grade von Verständnis dieser Technologie. Nicht nur die Kunden, sondern auch die Arbeiter, die iPhones in der Fabrik zusammensetzen, müssen nicht unbedingt wissen, wie ein Transistor funktioniert. Die Ingenieure, die die iPhones konzipieren, müssen sich allerdings mit Transistoren auskennen, aber sie müssen keine Weltklasse-Experten in Sachen Quanten-Halbleiterphysik sein. Es muss aber irgendwo auf der Welt Leute geben, die alle fundamentalen Grundlagen der Technologie bis ins kleinste Detail verstehen. Viele solche Experten braucht man weltweit nicht, doch man braucht sie unbedingt.

Moderne Magie Das 3. Clarkesche Gesetz lautet: "Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden" – zumindest für "normale" Menschen, die Kunden, fügen wir hinzu. Ohne jene Forscher, die jede Technologie auf Anhieb "entzaubern" könnten, wäre die Weiterentwicklung der "Magie" unmöglich.

Rentiert sich Grundlagenforschung? Nehmen wir aber hier eine ganz pragmatische Perspektive ein – die von Politikern oder Investoren. Die Kultur und das Verständnis seien uns egal, wir interessieren uns ausschließlich für die wirtschaftlichen Anwendungen. Die Frage wäre also, wie sollte ich Steuer- oder Privatgelder am besten in Forschung investieren, damit ich in der langfristigen Perspektive mehr wirtschaftlichen Gewinn mache?

Patient in der "Röhre" bei einer MRT-Untersuchung
Patient in der "Röhre" bei einer MRT-Untersuchung
iStock

In einem Wort zusammengefasst: überall! Das Leben ist zu kompliziert und unvorhersehbar. Wie beim Aktienmarkt ist am gescheitesten, das Portfolio zu diversifizieren und mit dem Blick auf die langfristige Perspektive Jahr für Jahr zu investieren. Spekulieren und kurzfristiger Gewinn gehen sich zwar manchmal aus, sie sollten aber auf keinen Fall den Kern der Investitionsstrategie bilden.

Elektromagnetismus war nutzlos Mein Lieblingsbeispiel in diesem Zusammenhang ist Elektromagnetismus – die Entdeckung aus dem 19. Jahrhundert, dass Strom, magnetische Anziehung, Radiowellen und Licht verschiedene Facetten desselben Phänomens sind. Heute versucht man Gravitation mit Quantenmechanik zu vereinheitlichen – damals schien die Vereinheitlichung von Elektrizität und Magnetismus durch den schottischen Physiker Maxwell und die anderen genauso praktisch nutzlos. Heute beeinflusst diese Entdeckung wortwörtlich das Leben jeder Person auf der Welt.

Quantenphysik war nutzlos Die Quantenphysik ist auch so ein wunderschönes Beispiel. Vor 100 Jahren hat man sich stark mit Gedankenexperimenten befasst: Schrödingers Katze im Kasten ist ein abgedroschenes Beispiel. Heute bildet die Quantenphysik die Basis fast aller Technologien, die unseren Alltag prägen. Die gesamte Elektronik, Halbleitertechnologie, Bildschirme, Laser, Medizintechnik und vieles mehr.

Nicht nur bloße Quanten-Spin(n)er Unter den Quantenphänomenen war die Entdeckung des "Spin" – des inneren Drehimpulses von Elektronen, Protonen und Neutronen – besonders folgenreich. Vor hundert Jahren war diese neu entdeckte Eigenschaft nur eine Angelegenheit der Teilchenphysik, heute beeinflusst sie unser Leben unmittelbar, unter anderem in der medizinischen Diagnostik. Die Magnetresonanztomographie (MRT) basiert auf der Kernresonanzspektroskopie – der Manipulation von Kernspins (der "Drehung" von Atomkernen) mithilfe der elektromagnetischen Strahlung (Gruß von Maxwell).

Revolutionäre Technologien basieren auf revolutionärer Forschung Die Kernspinresonanzspektroskopie wurde in den 1930er-Jahren entwickelt, um die Eigenschaften von Atomen in verschiedenen Materialien zu studieren. Damals bestand eine der größten Herausforderungen darin, ein reines und homogenes Stück eines Materials herzustellen, um in einem hochpräzisen Experiment die Drehung von Atomkernen beobachten zu können. Wer hätte damals gedacht, dass ein paar Jahrzehnte später genau diese Methode in der Medizin angewandt werden wird? Und genau dieses Problem, dass die meisten Materialien nicht homogen sind, hat sich in einen Vorteil verwandelt. Bei MRT werden verschiedene Elemente ins Blut injiziert und die Drehung von Atomkernen durch Kernspinresonanzspektroskopie gemessen. Und genau deswegen, weil der menschliche Körper nicht homogen ist, kann man MRT zur Diagnostik verwenden, da sie einen Tumor vom normalen Gewebe unterscheidbar macht.

Roboterarme in einer Produktionsstraße für Halbleiter
Roboterarme in einer Produktionsstraße für Halbleiter
iStock

Selbst der Laser war "nutzlos" Laser haben auch eine eigenartige Geschichte. Wie bitte? Was kann noch praktischer als ein Laser sein? Laser verwendet man in der Augenchirurgie, Katzen schätzen Laserpointer sehr, die ältere Generation meiner Leser erinnert sich auch noch an CDs und DVDs.

"How the laser happened" In diesem Buch beschreibt einer seiner Pioniere, Charles Townes, allerdings die grausame Realität: Er wurde von etablierten Physikern anfänglich jahrelang verhöhnt. Die einen konnten nicht glauben, dass sowas wie ein Laser überhaupt funktionieren kann. Die anderen meinten: "Wofür braucht man bitte sowas? Das ist die Lösung für ein Problem, das nicht existiert. So ein Gerät lohnt sich einfach nicht." Nobelpreisträger auf beiden Seiten. Und das beim Laser! Bei der Entdeckung, die wahrscheinlich am schnellsten in der Technikgeschichte in die Praxis umgesetzt wurde. Das erste Stahlblech hat man 1967 mit einem Laser geschnitten – nur sieben Jahre nach dem ersten arbeitsfähigen Prototyp.

Basis war Grundlagenforschung: Laser-OP an einem Auge
Basis war Grundlagenforschung: Laser-OP an einem Auge
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Wir verwenden überall "Nutzloses" Es gibt viel, viel mehr Beispiele: In den technischen Geräten, die wir jeden Tag verwenden, steckt fast überall irgendeine "nutzlose" fundamentale Entdeckung drin. Betrieben und förderten wir also fundamentale Wissenschaft nicht mehr, hätten wir bald nichts mehr anzuwenden. Wie der österreichische Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger gesagt haben könnte: "In Sachen Grundlagenforschung ist nichts für die Katz."

Mikhail Lemeshko ist Professor für Theoretische Physik am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Nach seinem Doktorat am Fritz-Haber Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin forschte der gebürtige Russe an der Harvard Universität in den USA. Seit 2014 ist er am ISTA in Klosterneuburg und erforscht atomare, molekulare und optische Physik. Auf seinem YouTube-Kanal Prof. Lemeshko beantwortet er Alltagsfragen aus Physik und Naturwissenschaft.

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