"Row Zero"

1 Jahr nach Rammstein: So frauentoxisch ist das Musik-Business

Wieder eine Illusion, die zerplatzt. Zwei deutschen Investigativjournalisten werfen in einem neuen Buch einen ungeschönten Blick hinter die Kulissen der Musikindustrie.

Rammstein-Frontman Till Lindemann bei einem Konzert der Band im Rahmen der Europa-Tour 2019. Missbrauchsvorwürfe gegen den Sänger warfen im Frühjahr 2023 dunkle Schatten auf die Gruppe und später auf weite Teile des Musik-Business
Rammstein-Frontman Till Lindemann bei einem Konzert der Band im Rahmen der Europa-Tour 2019. Missbrauchsvorwürfe gegen den Sänger warfen im Frühjahr 2023 dunkle Schatten auf die Gruppe und später auf weite Teile des Musik-Business
Christophe Gateau / dpa / picturedesk.com
Newsflix Redaktion
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Sex, Drugs and Rock'n'Roll. Spätestens seit der Erfindung vom Letzterem sind die ersten beiden wohl die wichtigsten Treibstoffe im Musikbusiness. Dass sie es in den Jahrhunderten davor ebenfalls gewesen sein könnten, liegt zwar auf der Hand, die Faktenlage dazu ist allerdings eher dünn. Aber gerade das Thema Sex hat im Musik-Business längst einen toxischen Beigeschmack. Immer wieder tauchten in der Vergangenheit Geschichten auf, die zumindest berechtigte Zweifel daran aufwarfen, wie einvernehmlich es dabei in manchen Fällen tatsächlich zugeht.

Der Fall Rammstein Doch während die schöne Fassade der Branche in der Vergangenheit durch derartige Geschichten vielleicht gelegentlich ein paar Kratzer und Dellen abbekam, sonst aber heil blieb, wurde sie durch den Fall Rammstein mit einem Schlag weggesprengt. Ziemlich genau vor einem Jahr, zu Pfingsten 2023, tauchten Gerüchte und Anschuldigungen auf, dass der Frontman der deutschen Hardrock-Band Rammstein, Till Lindemann, seine Position als Musik-Idol ausnutzen könnte, um junge weibliche Fans – Lindemann, mittlerweile 61, zieht hier die Altersgrenze angeblich bei Mitte 20 – zum Sex mit ihm zu bewegen.

Das "System Till" Angeblich, so berichteten es nach dem Aufkommen der Vorwürfe zahlreiche junge Frauen aus mehreren Ländern, lasse der Rammstein-Sänger die jungen Frauen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern scouten, diese würden zuvor daraufhin "abgeklopft", ob sie auch wirklich zum Sex mit ihm bereit wären. Wankelmütigkeit oder gar Ablehnung sind dabei absolute No-go's. Angeblich würde sich Lindemann sogar während der Shows für einige Minuten in eine versteckte Kammer zurückziehen, während seine Kollegen auf der Bühne weiterspielen, um sich hier oral befriedigen zu lassen, so die übereinstimmenden Aussagen mehrerer Frauen.

Die junge Irin Shelby Lynn brachte mit ihren Postings über eine Begegnung mit Rammstein-Leadsänger Till Lindemann während eines Konzerts in Litauen den Skandal ins Rollen. Binnen kürzester Zeit meldeten sich auf ihren Aufruf hin zahlreiche weitere junge Frauen, die von ähnlichen, teils sehr verstörenden Begegnungen berichteten
Die junge Irin Shelby Lynn brachte mit ihren Postings über eine Begegnung mit Rammstein-Leadsänger Till Lindemann während eines Konzerts in Litauen den Skandal ins Rollen. Binnen kürzester Zeit meldeten sich auf ihren Aufruf hin zahlreiche weitere junge Frauen, die von ähnlichen, teils sehr verstörenden Begegnungen berichteten
Christoph Soeder / dpa / picturedesk.com

Die Justiz stellte die Ermittlungen ein Nicht immer, so die Berichte mehrerer junger Frauen, sei es dabei wirklich ohne jeden Druck zugegangen, einige erklärten auch, dass sie sich an Teile der Ereignisse nicht mehr erinnern könnten, so als wären sie unter Drogen gesetzt worden. Die Empörung über diese Vorwürfe war groß, in mehreren Städten gab es Protestkundgebungen gegen Auftritte von Rammstein. Doch auch wenn es zu einigen Anzeigen kam und die Justiz ermittelte, letztlich wurde alles eingestellt. Es gab schlicht nichts Illegales, das beweisbar gewesen wäre.

Journalisten recherchierten weiter Die beiden Investigativjournalisten Daniel Drepper und Lena Kampf von der "Süddeutschen Zeitung", die gleich zu Beginn in die Recherchen zum Fall Rammstein eingestiegen waren (und dazu auch, gemeinsam mit dem NDR, einen beachtenswerten Podcast vorgelegt haben), wollten sich mit diesem ernüchternden Ergebnis allerdings nicht zufrieden geben. Die beiden recherchierten weiter, über Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie.

Proteste gegen die Band Rammstein vor dem Olympiastadion in München im Juni 2023. Nur Tage zuvor waren schwerwiegende Vorwürfe gegen den Leadsänger der Gruppe bekannt geworden
Proteste gegen die Band Rammstein vor dem Olympiastadion in München im Juni 2023. Nur Tage zuvor waren schwerwiegende Vorwürfe gegen den Leadsänger der Gruppe bekannt geworden
+FOTO / Action Press / picturedesk.com

"Row Zero" – eine Bestandsaufnahme Nun, ein Jahr nach bekanntwerden der Vorwürfe gegen Till Lindemann, legen die beiden Journalisten mit ihrem Buch "Row Zero" eine umfassende Bestandsaufnahme über die – teils verheerenden – Zustände im weltweiten Musik-Business vor. Hier die wichtigsten Passagen aus ihrem Buch:

Weswegen gerade jetzt immer mehr Fälle von fragwürdigem Verhalten im Musik-Business bekannt werden
"Manches, das jahrzehntelang verherrlicht oder als gewöhnlicher Teil des Showbusiness angesehen wurde, wirkt heute verstörend", schreiben die beiden Journalisten. Es wären oftmals gar keine neuen Fakten, die auf einmal irritieren, sondern die Bewertung dieser Fakten durch die Gesellschaft hätte sich geändert. So wie es heute übel aufstößt, wenn sich jemand in einem Lokal eine Zigarette anzündet. Und weiter: "Immer mehr Stars geraten in diesen neu vermessenden Blick der Öffentlichkeit. Und von denjenigen, die auf irgendeine Weise von jenem Machtgefälle, betroffen waren oder sind, fühlen sich immer mehr ermächtigt, sich Gehör zu verschaffen."

Weshalb es überhaupt zu solchen Vorgängen kommen kann
"Es geht um eine Art Organisationsversagen", so die Autoren. "Fehlende Kontrolle oder Sanktionen, Mitwissende, die die Taten decken oder ganz einfach schweigen." Es gäbe immer Machtgefälle und Abhängigkeiten, die ausgenutzt würden.

Was mit der "Row Zero" gemeint ist
Es handelt sich dabei um die so genannte "Reihe Null", also jenen abgesperrten Bereich direkt vor der Bühne, in den nur eigens Eingeladene kommen. Hier wird gefeiert, getanzt, Party gemacht, hier sind jene unter sich, die "dazu gehören". Und immer wieder sollen die Gäste dieser "Row Zero" auch vor allem deshalb dort Einlass finden, um später als Sex-Partnerinnen für die Stars auf der Bühne herzuhalten. Nicht immer soll dabei Druck ausgeübt werden, aber es komme schon vor, so die Berichte betroffener Frauen.

Läuft für Till: Rammstein-Sänger Till Lindemann stand monatelang massiv in der Kritik, was sein Verhalten gegenüber jungen, weiblichen Fans betrifft. Doch strafrechtlich fand sich nichts, was geahndet hätte werden können, und die öffentlichen Proteste sind längst wieder abgeebbt. Doch mit dem "Fall Rammstein" kam erstmals Bewegung in die Debatte um Missbrauchsfälle in der Musikindustrie
Läuft für Till: Rammstein-Sänger Till Lindemann stand monatelang massiv in der Kritik, was sein Verhalten gegenüber jungen, weiblichen Fans betrifft. Doch strafrechtlich fand sich nichts, was geahndet hätte werden können, und die öffentlichen Proteste sind längst wieder abgeebbt. Doch mit dem "Fall Rammstein" kam erstmals Bewegung in die Debatte um Missbrauchsfälle in der Musikindustrie
Axel Heimken / EPA / picturedesk.com

Wie lange es dieses "System Till Lindemann" bereits gibt
Nach den Recherchen der "SZ"-Journalisten jedenfalls bereits seit einigen Jahren. "In die Tausende müsste die Zahl der Frauen mittlerweile gehen, mutmaßt ein Vertrauter Lindemanns bereits vor einigen Jahren (…) Der Sänger habe ein 'Fließband', schreibt eine andere Person aus dem Kreis, (…), er springe 'von F… zu F…' * Wohl über Jahre läuft dieses Castingsystem." Erst durch die junge Irin Shelby Lynn, die auf einem Rammstein-Konzert in Litauen ein für sie besonders irritierendes Erlebnis mit Lindemann hatte und daraufhin eine Warnung an andere junge Frauen auf Social Media absetzte, sei "etwas in Bewegung" gekommen, so die Journalisten.

Wie die Musikindustrie an Frauen ihre Macht missbraucht
In Großbritannien nahm sich die Politik dieser Frage an, ein ganzes Jahr lang hätten ab Oktober 2022 Abgeordnete mit Vertreterinnen und Vertretern der Branche gesprochen, berichten die SZ-Journalisten in ihrem Buch. Das Anfang 2024 veröffentlichte Ergebnis: "Auf allen Ebenen der Industrie würden Frauen Nachteile erfahren, heißt es in dem Abschlussbericht. Die Abgeordneten prangern darin auch den weit verbreiteten Gebrauch von Verschwiegenheitserklärungen an, die Opfer sexuellen Missbrauchs mundtot machen würden."

Ob der Missbrauch von Frauen im Musikbusiness ein neues Phänomen ist
Auf keinen Fall. Die Autoren listen zahlreiche bestätigte Missbrauchsfälle auf, die bis in den Sechziger- und Siebzigerjahren zurückreichen, seinerzeit aber zu keinerlei Konsequenzen geführt hätten. Immerhin würden einige der Fälle von damals inzwischen neu aufgerollt und nach den aktuellen Rechtsgrundlagen bewertet – und auch, wo möglich, noch geahndet.

Gibt sich heute geläutert: der deutsche Rapper Kool Savas
Gibt sich heute geläutert: der deutsche Rapper Kool Savas
Max Patzig / Action Press / picturedesk.com

Ob die Täter inzwischen einsichtig sind
Selten, aber es passiert. Der deutsche Rapper Kool Savas etwa erklärte in einem Interview, dass er "das Wort 'schwul' nicht mehr als Schimpfwort benutzen wolle, seinen Song 'Lutsch mein' Sch…' * nicht mehr spiele und auch angefangen habe, darüber nachzudenken, wie er Frauen behandelt habe, nämlich absolut unkorrekt". Und am Ende dieses Interviews stellt der Sänger sogar in Frage, ob Sex zwischen einem Star und einem Groupie überhaupt gleichberechtigt sein könne. "Er selbst habe 'viel zu spät verstanden, dass man nicht mit Groupies schlafen darf'. Mittlerweile finde er das falsch."

Nicht überall hatte das "System Till" Erfolg
2010 sei etwa der damalige Geschäftsführer des "Festival d'été" in Quebec in Kanada, Daniel Gélinas, vor einem Rammstein-Auftritt von Seiten der Band gebeten worden, junge Frauen für die Aftershow-Party aufzutreiben. Der Frankokanadier habe das abgelehnt mit dem Hinweis, dass "man so etwas hier nicht mache". Und beim Deichbrand-Festival in Norddeutschland gebe es mittlerweile einen Verhaltenskodex, der Teil der Verträge mit den auftretenden Künstlern istz. Darin steht u.a.: "Ihr solltet euch dessen bewusst sein, dass es zwischen Fans oder Mitarbeitenden und Künstler*innen immer ein Machtgefälle gibt und dass deshalb Beziehungen, Sex und sonstige Handlungen immer kompliziert sind und ihr dies bei allen euren Aktionen und Kommunikationen berücksichtigen solltet."

Welche Rolle Austro-Rapper Money Boy in dem Buch spielt
"In der Regel finden Übergriffe nicht vor Zeugen statt", schreiben die "SZ"-Journalisten in ihrem Buch. "Aber es gibt Ausnahmen. Am 12. Juli 2015 geht auf dem YouTube-Kanal des MDR (Regionalsender in Deutschland, Anm.) ein achtminütiges Video online. Reporterin Sissy Metzschke ist dort auf dem wohl wichtigsten HipHop-Festival Deutschlands zu sehen, dem Splash. Dort trifft sie den österreichischen Rapper Money Boy zu einem Interview in dessen Backstage-Container. Auch die Crew des Rappers ist dabei. Nach einer kurzen Begrüßung beugt Metzschke sich über den Tisch, um ein Crewmitglied zu befragen. Auf dem Video ist sehr gut zu sehen, wie Money Boy währenddessen im Hintergrund dreimal so tut, als würde er Metzschke an den Hintern fassen."

Ob der "Fall Rammstein" mittlerweile zu den Akten gelegt worden ist
Bis heute hat sich weder Till Lindemann, noch die Band gemeinsam zu den Anschuldigungen gegen ihren Frontman geäußert. Mit einer Ausnahme: Christoph Schneider, der Schlagzeuger, habe sich, so die Autoren Daniel Drepper und Lena Kampf in ihrem Buch, auf Instagram geäußert. "Till Lindemann habe sich in den vergangenen Jahren von der Band entfernt, heißt es in der Stellungnahme. 'Gewisse Strukturen' seien gewachsen, 'die über die Grenzen und Wertvorstellungen der restlichen Bandmitglieder hinausgingen'. Die Betroffenen täten ihm leid, strafrechtlich relevante Taten seien aber nicht passiert. Schneider beendet sein Statement mit den Worten: 'Wir stehen zusammen'."

Backstage auf der dunklen Seite des Showgeschäfts: "Row Zero" von Daniel Drepper und Lena Kampf, Eichborn Verlag
Backstage auf der dunklen Seite des Showgeschäfts: "Row Zero" von Daniel Drepper und Lena Kampf, Eichborn Verlag
Eichborn

"Row Zero – Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie", Eichborn Verlag, 272 Seiten, € 23,50

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