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"Eric": Wieso Sherlock jetzt in New York seinen Sohn sucht
Benedict Cumberbatch, Star der Serie "Sherlock", spielt in "Eric" einen psychisch labilen Vater, dessen Sohn spurlos verschwindet. Mitreißend und bewegend. Ab sofort auf Netflix.
Die Wodkaflaschen versteckt er hinter Schreibtischschubladen, an seinem Arbeitsplatz und im Spülkasten der Toilette, den ersten Schluck gönnt er sich bereits, wenn er morgens das Haus verlässt und wenn in der Disco eine Line Kokain auf dem Glastisch liegt, weiß er genau, was damit zu tun ist. Seine Kollegen beleidigt er am laufenden Band, der abendliche Krach mit Ehefrau Cassie wird in voller Lautstärke und mit unzähligen "Fick dich!" ausgetragen und wenn er mit seinem Sohn um die Wette läuft, dann lässt er diesen nie gewinnen, auch wenn sich der Neunjährige noch so anstrengt.
Kein Bild von einem Vater Kurz: Vincent Anderson ist kein netter Mensch. Und ganz sicher ist er kein guter Vater, auch wenn er sich selbst dafür hält. Doch als sein Sohn Edgar eines Morgens auf dem Weg zur Schule plötzlich verschwindet und kurz darauf nur sein blutiges T-Shirt gefunden wird, bricht für den Borderliner Vincent eine Welt zusammen und er droht, vollkommen aus der Spur zu geraten. Erst als ihm die zwei Meter große, blaue Plüschmonsterpuppe Eric erscheint, bekommt er seinen Geist allmählich wieder in den Griff. Das ist, kurz gesagt, der Inhalt der neuen, fabelhaften Netflix"-Serie "Eric", die seit 30. Mai abrufbar ist.
Worum geht es in "Eric"? Die sechsteilige Miniserie (also ohne Aussicht auf eine zweite Staffel) ist im New York des Jahres 1985 angesiedelt. Vincent (Benedict Cumberbatch) kommt aus einer der reichsten Familien der Stadt, er hat aber mit seinen Eltern gebrochen und lebt mit Ehefrau Cassie (Gaby Hoffmann) und dem neunjährigen Edgar (Ivan Morris Howe) in einfachen Verhältnissen und arbeitet als Puppenspieler bei einer Kinder-Fernsehshow, die an die "Sesamstraße" erinnert. Obwohl Vincent seinen Sohn abgöttisch liebt, gelingt es ihm nicht, das diesem zu zeigen
"Durchgefallen!" Statt dessen wird das abendliche Tischgespräch da schon einmal zum Ideen-Pitch, bei dem Edgar ein "määh, durchgefallen" von seinem Vater erntet, wenn es ihm nicht gelingt, rasch genug zu erklären, wie die Monsterfigur "Eric", die sich der ebenso kreative wie feinfühlige Bub für die Puppenshow seines Vaters ausgedacht hat, am Ende aussehen soll.
Jeder hat seine eigenen Probleme Auch Edgars Mutter Cassie liebt ihren Sohn sehr, doch sie ist in der Ehe mit Vincent schon längst nicht mehr glücklich, hat ein Verhältnis begonnen und weiß nicht, wie es für sie weitergehen soll. Währenddessen liegt Vincent mit seinen Arbeitskollegen im Dauerclinch, weil die Show eine Auffrischung benötigt, er aber alle Vorschläge und Ideen, die vom Team kommen, für untauglich hält.
Die Kinder werden übersehen In all diesem Stress läuft Edgar mehr oder weniger nebenbei mit und keinem der beiden fällt auf, wie unglücklich der Bub eigentlich ist. Am Morgen, als er verschwindet, streiten seine Eltern gerade darüber, ob der Neunjährige Begleitung auf dem Schulweg benötigt oder nicht, als er einfach an ihnen vorbei und zur Schule geht – dort aber nie ankommt.
Geisterbahnfahrt durch New York City Was danach folgt, die Suche nach dem Buben in einem New York, das noch weit weg ist von jener glattgespülten Touristenmetropole, als die sich die Stadt heute präsentiert, gleicht einer Geisterbahnfahrt durch die verschiedenen Kreise der Hölle, wie Dante sie in seiner "Göttlichen Komödie" entworfen hat. Die Stadtverwaltung erscheint durch und durch korrupt, es geht nur um Gewinn und den persönlichen Vorteil. Eine vom Rathaus kontrollierte Müll-Mafia hat die City im Würgegriff. Im Untergrund der Stadt leben tausende Obdachlose in den Tunneln der U-Bahn und der Kanalisation und steigen, wie Zombies, nur kurzzeitig durch Lüftungsgitter an die Oberfläche, um sich mit Drogen zu versorgen.
Wie buchstabiert man Rassist? N. Y. P. D. Aber vor allem die Polizei kommt in der Serie gar nicht gut weg. Die Beamten sind bestechlich, die Vorgesetzten sind entweder korrumpiert oder haben längst aufgegeben. Und zu alldem gilt die Behörde auch als durch und durch rassistisch, immer wieder zum Ausdruck gebracht durch die Ungleichbehandlung weißer und schwarzer Eltern, die jeweils ein Kind vermissen.
Schwarz und schwul Dass der einzige scheinbar integre Beamte, der mit dem Fall des verschwundenen Edgar betraut ist, Detective Michael Ledroit (McKinley Belcher III), schwarz und auch noch dazu homosexuell ist – eine Tatsache, die einem Beamten beim NYPD damals das Leben keinesfalls leichter gemacht hat – erscheint da fast ein bisschen zu aufgesetzt. Andererseits passt es zum Sound der Serie, die sich nicht mit Zwischentönen aufhält. Hier werden die Botschaften an die Zuseher so platziert, dass sie auch gesehen werden.
"Gamechanger" Eric Doch so sehr die Polizei auch in den verschiedenen einschlägigen Subkulturen der Stadt herumstochert, der Bub bleibt verschwunden. Und Vater Vincent droht langsam aber sicher vollkommen den Verstand zu verlieren, kippt Unmengen Alkohol und wandelt permanent am Rande des Zusammenbruchs. Bis ihm Eric wieder einfällt, jene Monsterfigur, die sich sein Sohn Edgar für ihn ausgedacht hat. Er beschließt, Eric zu bauen – schließlich arbeitet er ja bei einem Puppentheater – und in seiner Show unterzubringen. Würde Edgar die blaue Riesenfigur erst einmal am Bildschirm sehen, wüsste er, dass er vermisst wird, so die Überlegung Vincents.
Selbsttherapie 2.0 Und ab diesem Moment beginnen sich die Dinge zu wandeln. Die blitzblaue Plüschpuppe wird Vincents ständiger Begleiter, die sich in mehr oder weniger passenden Momenten mit Ratschlägen und Kommentaren an ihn wendet und ihm hilft, einen Weg aus dem Irrgarten, zu dem sich sein Geist verwandelt hat, zu suchen – und eine Möglichkeit, wie er seinen Sohn wiederfinden kann.
Cumberbatch spielt groß auf Der Darsteller des verzweifelten Vaters, der 47-jährige Brite Benedict Cumberbatch, spielt in "Eric" einmal mehr groß auf, auch wenn er dabei permanent am Rand zur Parodie balanciert. Der Schauspieler, der als moderner Holmes in der Serie "Sherlock" zu Weltruhm gelangt ist und auch in Filmen wie "The Imitation Game", "Dame, König, As, Spion" oder "12 Years A Slave" schwierige Charaktere darzustellen wusste, stellt Vincent anfangs so dermaßen unsympathisch dar, dass man sich leicht tut, ihn zu hassen. Erfährt man aber mit der Zeit, wie dieser Mann so geworden ist, wie er jetzt ist, bekommt man Mitgefühl mit ihm und versteht, weshalb es ihm kaum möglich ist, seinen Panzer aus Zynismus und Selbsthass aufzubrechen. Groß!
Tolles Ensemble, mega Metropole Ihm zur Seite steht ein durchwegs tolles Ensemble, das seine Arbeit zuverlässig und routiniert abspult. Aber der wahre Star der Show ist das New York des Jahres 1985. Den Serienmachern ist es gelungen, den Schmutz, die Hoffnungslosigkeit und die Verderbtheit der Metropole, die diese zu jener Zeit noch massiv prägten, sehr authentisch und plausibel auf den Bildschirm zu bringen. Man bekommt einen Eindruck davon, wie es damals gewesen sein könnte, als die "Hauptstadt der Welt" noch jenes Sündenbabel war, als das es von Zeitzeugen heute beschrieben wird.
Fazit: "Eric" ist klassische Serienkost vom Besten. Drehbuchautorin Abi Morgan (u.a. "Die eiserne Lady" über Margaret Thatcher und die Serie "The Hour" über eine Nachrichtensendung der BBC in den 1950ern) hat eine schwungvolle, spannende Serie geschrieben, die niemals langweilt und vielen fein ausgearbeiteten Charakteren besticht. Und Regisseurin Lucy Forbes inszeniert das alles sehr auf Zug, unterlegt von einem interessanten 80er-Jahre-Popscore. In jedem Fall bereits jetzt eine der Top-Serien des Jahres.
"Eric", Großbritannien 2024, 6 Folgen à ca. 50 Minuten, ab sofort auf Netflix