podcast-interview

"Es ist im Moment nicht sehr angenehm, Jude zu sein"

Harry Bergmann ist in Haifa geboren und in Wien aufgewachsen. Der Ex-Werber über "sein" Israel, einen eigenen Staat Palästina, Hamas-Demos an den Unis und woken Antisemitismus.

Harry Bergmann, früher Werbeagentur-Chef, nun Kolumnist, er lebt halb in Israel, halb in Österreich
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Christian Nusser
Akt. Uhr
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Vor 73 Jahren kam Harry Bergmann in Haifa auf die Welt. Heute hat er zwei Staatsbürgerschaften, die israelische und die österreichische, sein Geburtsland kennt er wie seine Westentasche, auch dessen Herz und Seele. 40 Jahre lang war Bergmann einer der besten Werber des Landes, viele Slogans, von "Ihre Sorgen möchten wir haben" bis zu "Das Leben ist ein Hit" gehen auf die Agentur "Demner, Merlicek & Bergmann" zurück.

2019 stieg Bergmann aus, schreibt seither mit großer Leidenschaft und feinsinnigem Können auch sehr viel Tiefgründiges zum aktuellen Konflikt im Nahen Osten. Im Podcast-Interview sagt Bergmann über:

Ob derzeit ein Podcast ohne Lena Schilling möglich, aber sinnlos ist
Wir können über Lena Schilling reden. Ich weiß, es ist ein Thema, wo man nicht viel zu gewinnen und alles zu verlieren hat. Ich finde das ganze Theater eigentlich entwürdigend von allen Beteiligten.

Ob er es gut findet, dass mehrere Staaten (etwa Spanien, Norwegen) Palästina als Staat anerkennen wollen
Die Zweistaatenlösung ist meiner Ansicht nach die einzig denkbare Lösung, wenn es überhaupt eine Lösung gibt in dieser Region. Man muss dazusagen, dass ich ein vehementer Gegner der derzeitigen israelischen Regierung bin und ein vehementer Befürworter einer Zweistaatenlösung. Was mir fehlt an der ganzen Geschichte ist der Halbsatz: Es kann nur dann eine Zweistaatenlösung geben, wenn es einen Frieden gibt zwischen den beiden Teilen.

Warum Friede die Voraussetzung ist
Wenn ein palästinensischer Staat entsteht, wie immer er ausschauen wird, nur um die Feindschaft zwischen den Palästinensern und den Israelis zu verlängern, dann wird das nicht viel bringen.

Was vorab geklärt werden muss
Die erste Frage ist, wer regiert in diesem Staat Palästina? Im Moment liegen zwei Möglichkeiten am Tisch. Das eine ist die Hamas in Gaza und das andere ist die Nachfolgeorganisation der PLO im Westjordanland. Da  sind wir einmal beim ersten Problem, weil das zwei Fleckerln Land  sind, die nicht zusammen gehören. Da muss man sich überlegen, wie schaut ein Korridor aus vom einen Teil zum anderen. Was Israel nach dem 7. Oktober erst recht braucht, ist eine Sicherheitsgarantie.

Was er von Omri Boehm hält, der am Wiener Judenplatz eine umstrittene Rede gehalten hat
Das muss man aushalten, aber er ist für eine Einstaatenlösung und die sehe ich schon gar nicht.

Proteste gegen Benjamin Netanjahu, der Antrag auf einen internationalen Haftbefehl wird Israels Premierminister einbetonieren
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Sollte Österreich Palästina ebenfalls anerkennen?
Ich finde eine aus der Luft gegriffene Anerkennung eines Staates, den es noch gar nicht gibt, nicht okay. Es ist kein Affront, aber nicht okay.

Warum Israel der Terrorangriff am 7. Oktober überrascht hat
Es ist absolut unerklärlich, wie man diesen 7. Oktober nicht sehen konnte. Es gibt Erklärungen, die natürlich auch wieder zu Regierungschef Benjamin Netanyahu zurückführen und zu dieser Regierung. Die heißen: Naja, die Hamas, schießen zwar hie und da Raketen rüber, aber mit denen haben wir kein Problem. Wir schauen jetzt nur ins Westjordanland.

Was die Ursache davon war
Weil es der Regierungslinie entspricht, dort nicht hinzuschauen, hat auch der Geheimdienst nicht hingeschaut und auch der Militärgeheimdienst nicht. Die bekanntermaßen gut sind oder jetzt bekanntermaßen doch nicht so gut.

Wie die Situation Netanjahu nützt
Es wird jetzt alles nach hinten geschoben. Weil Netanyahu sagt, jetzt ist Krieg. Und wenn wir Krieg haben, braucht man keinen Wechsel in der Regierung. Und wenn man keinen Wechsel in der Regierung braucht, bleibe ich Premierminister. Und weil ich Premierminister bleibe, gibt es keinen Plan für den Tag nach dem Sieg, wobei wir über Sieg und Nichtsieg auch noch reden könnten.

Song Contest 2024: In der Nähe der Malmö Arena wurde gegen die Teilnahme Israels demonstriert
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Was nach dem Krieg passiert
In dem Moment, wo dort Gott behüte Frieden wäre oder irgendetwas ähnliches wie Frieden, gibt es Neuwahlen. Und wenn es Neuwahlen gibt, schaut es mit Netanyahu ungefähr so aus wie hier mit der schwarz-grünen Koalition.

Was der Haftantrag gegen Netanjahu nun auslöst
Ich befürchte, dass er nach hinten losgeht. Das heißt für mich Folgendes: Der Herr Netanyahu wird mehr oder weniger, zumindest für Laien, auf eine Stufe gestellt mit Hamas-Chef Jechije Sinwar. Und was jetzt passiert in Israel, und das weiß ich von Freunden, die Netanyahu verachten, ist, dass es Solidarität gibt. Weil jetzt sagt man: Das geht wirklich nicht. Der Haftbefehl hält ihn an der Macht.

Wann er das letzte Mal in Israel war
Vor drei Wochen.

Wie die Stimmungslage im Land war
Es ist so ein Schlagwort, aber es ist ein wirkliches Trauma, das über diesem Land liegt.

Woran er das festmacht
Ich habe über Freunde von mir mit einer Familie gesprochen, die als Geiseln in Gaza waren. Das war eine Großmutter, eine Mutter und zwei Töchter. Die waren in der ersten Tranche, die freigekommen ist. Die Großmutter ist Mitte 70. Sehr bei sich. Wissenschaftlerin und so. Ihr Mann ist gleich am 7. Oktober umgekommen. Der Schwiegersohn ist umgekommen. Die Kinder sind völlig verstört, ich glaube, die sind so sieben und acht oder acht und neun. Also natürlich sieht man nur die eine Seite. Aber wenn man diese Gespräche führt, dann merkst du, das Land ist so klein, jeder hat irgendjemanden, der jemanden kennt oder mit dem er verwandt ist oder mit dem ein Freund verwandt ist.

Anfang Mai gab es auch am Campus der Universität Wien ein Zeltlager gegen Israel
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Sabine Hertel

Was Israel fühlt
Die ganze Welt lässt uns allein. Und alles, was wir machen, ist immer das Böse. Gibt es Haftbefehle gegen das gesamte iranische Regime? Gegen Assad? Auch kein großer Sympathieträger.

Wie er als früherer Werber die Demos an den US-Unis sieht
Antisemitismus hat viele Gesichter. Es gibt den rechten Antisemitismus, den linksextremen Antisemitismus, den muslimischen Antisemitismus. Und jetzt ist noch einer dazugekommen und der hat sehr viel zu tun, glaube ich, mit dem, was auf den Universitäten passiert. Ich nenne ihn den "woken" Antisemitismus.

Was er unter dem "woken" Antisemitismus versteht
Der Begriff "wokeness" umschreibt ja angeblich auch eine besondere Wachsamkeit. Man muss jetzt ganz genau wissen, wie man wen anspricht, also mit they, them, she, they. Aber wenn es darum geht, wachsam zu sein gegen zum Beispiel Antisemitismus, dann ist man auf einem Auge blind. Und deshalb kommt es relativ leicht zu Allianzen etwa zwischen dem "woken" und muslimischen Antisemitismus.

Was die Folge ist
Dass es unheilige Allianzen gibt. Da gibt es ein paar, die das hineintragen, auch in die Unis. Ich würde ja nicht sagen, dass jeder dort ein Judenhasser ist. Zum Teil wissen sie ja nicht einmal, was sie reden. Es ist eine Geschichtslosigkeit.

Israel-Experte Harry Bergmann im Podcast-Gespräch mit Christian Nusser (Newsflix)
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Privat

Ob die Palästinenser den Kommunikationskrieg gewonnen haben
Das ist überhaupt keine Frage. Mit Sicherheit hat die Hamas diesen Informations- oder Desinformationskrieg mit großem Abstand gewonnen.

Warum?
Vielleicht hat man es unterschätzt. Vielleicht hat auch Israel nicht verstanden, dass Kriege heute auch auf TikTok stattfinden und nicht nur am Boden oder in der Luft. Vielleicht aus einer Art Überheblichkeit heraus, die haben wir schon irgendwie im Griff, das machen wir schon.

Was die Hamas am meisten fürchtet
Auch die Hamas ist gegen eine Zweistaatenlösung. Es gibt eine Sache, vor der sich die Hamas mehr fürchtet als vor der israelischen Armee, und das ist Frieden. Im Frieden braucht keiner die Hamas.

Ob in Wien jüdisches Leben nach und nach unsichtbar wird
Es wird schon so sein. Es ist im Moment nicht sehr angenehm, Jude zu sein.

Ob ihn das auch betrifft
Ja, eigentlich schon. Ich fühle mich jetzt nicht physisch bedroht, aber natürlich ist mein Themenkreis, mein laienhaft-publizistischer,  durch die Ereignisse sehr eingeengt. Und was ich da an Mails, an Posts erlebe, also, wo ich mir manchmal denke, no dem würde ich jetzt ungern in der Nacht auf der Straße begegnen.

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