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Expertenrunde für Leitkultur: "Warum ich nicht dabei bin"
Österreich begibt sich auf die Suche nach einer neuen Identität – Soziologe Kenan Güngör über Leitkultur, die "unsägliche Kampagne" der ÖVP und warum er Ministerin Raab absagte.
Kenan Güngör ist diplomierter Sozialwissenschaftlern und betreibt in Wien das Beratungs- und Forschungsbüro think.difference. Der alevitische Kurde aus der Türkei kam im Alter von sieben Jahren nach Deutschland, seit 2007 lebt er in Österreich. Güngör gilt als einer der besten Integrations-Experten des Landes, er hat eine Vielzahl von Studien zum Thema durchgeführt, berät Regierungen in Bund und Land.
Vergangene Woche rief Integrationsministerin Susanne Raab einen Expertenrat für Leitkultur ins Leben. Er soll eine Diskussion über eine neue Identität für Österreich antreiben. Kenan Güngör war bei der ersten Sitzung der Runde dabei, hat sich nun aber entschlossen, nicht mehr weiter daran mitzuwirken. Warum, das erklärt er im neuen Newsflix-Podcast. Und er erzählt über seine eigenen Integrationserfahrungen, welche Rolle der Heimatbegriff hat, warum er Ostern und Weihnachten mit seinen Kindern feiert. Die wichtigsten Passagen:
Seine Mitgliedschaft beim Expertenrat
Ich bin als Experte zu einer ersten Austauschrunde eingeladen worden. Ich habe es mir aber vorbehalten, zu sagen, ob ich wirklich Mitglied werden will. Das war immer davon abhängig, wie dieser Prozess aufgesetzt wird.
Wie er die Austauschrunde mit Susanne Raab erlebt hat
Es war ein sehr offenes Gespräch mit der Ministerin, in dem Überlegungen angestellt, aber auch kritische Punkte genannt wurden, die man zu reflektieren hatte. Die Ministerin hat durchaus ein offenes Ohr gehabt und sie hat ein Gespür.
Was er danach mit der ÖVP erlebt hat
Der Begriff Leitkultur ist an sich schon problematisch genug. Aber das, was die ÖVP mit der Kampagne daraus gemacht hat, mit diesen unsäglichen Sujets, die eher mehr polarisieren, als dass sie zusammenführen, die folkloristisch verkitschen …
Was die Konsequenz daraus ist
Ich habe gemerkt, das es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, einen sinnvollen Diskurs und einen sinnvollen Beitrag zu leisten, und deshalb habe ich gesagt, dass ich unter diesen Bedingungen nicht bereit bin, daran weiter mitzuwirken.
Ob das bedeutet, dass er nach der ersten Runde ausgeschieden ist
Genau, aber es war von meiner Seite sowieso erst einmal eine erste Austauschrunde, damit ich überhaupt sehen kann, was die Themen sind und wohin man gehen will. Als Experte und Berater werde ich oft zu Veranstaltungen oder Sitzungen eingeladen. Da bin ich in einem Gedankenaustausch und erst danach stellt sich die Frage, ob es Sinn ergibt, hier weiterzumachen.
Warum er keinen Sinn im Weitermachen sieht
Das Themenfeld ist in zweierlei Hinsicht sehr problematisch. Das eine ist, wir haben einen Wahlkampf und das Thema ist von der ÖVP besetzt worden. Die Frage ist, handelt es sich um eine Parteistrategie, in der es um den Wahlkampf geht, oder gibt es dahinter ein Thema, das relevant genug ist, um eigenständig betrachten zu werden. Und ich interessiere mich natürlich für das Zweitere. Ist da eine Substanz dahinter? Aber wenn das parteipolitisch so sehr stark im Wahlkampf kommuniziert wird: wir sind keine Wahlkampfberater. Das ist nicht unser Job, da sehe ich mich auch nicht drinnen.
Was der zweite Problemkreis ist
Der Begriff der Leitkultur, weil er so nebulös ist und die verschiedensten Interpretationen zulässt. Wir hatten also eine Kumulierung von zwei Problemlagen. Deshalb konnte ich das nicht von Anfang an entscheiden. Ich musste mir das einmal anschauen, um dann meine Schlüsse daraus zu ziehen.
Ob die Ministerin über den Entschluss Bescheid weiß
Wir haben das von Anfang an so beredet, dass das für mich erst einmal nur eine erste Sitzung ist. Also es ist nicht eine Zusage gewesen, ich ziehe mich aus dem Gremium nicht zurück, diese Sicht wäre falsch. Es gab ein erstes Austauschgespräch, um dann zu schauen, ob und wie man da eventuell weitermachen kann. Oder aber auch nicht.
Ob er sich politisch missbraucht gefühlt hat
Die Gefahr haben sie immer, gerade vor Wahlkämpfen, egal von welcher Partei. Ich bin Systemtheoretiker, ich verstehe, dass Parteien eine eigene Logik haben. Die ÖVP muss sich die Frage stellen, wie Sie es schafft, Ihre Wählerschaft von der FPÖ zurückzuholen. Da werden sie sich Strategien überlegen. Aber ich als Experte für gesellschaftspolitische Anliegen bin nicht jemand, der dafür zur Verfügung stehen kann.
Tradition statt Multikulti: Ob ihn die ÖVP-Werbung erschrocken hat
Ja, da ist wirklich für mich eine Grenze überschritten worden. Ich finde, man merkt auch die Widersprüche in der ÖVP darüber. Also wir hatten eine sehr gute Sitzung mit der Ministerin, die sehr, sehr bedacht über das Thema gesprochen hat, und dann merken sie eine sehr stark rechtspopulistische Kampagne der ÖVP, die gefahren wird. Das passt nicht zusammen.
Was da in der ÖVP nicht zusammenpasst
Es widerspricht der Kampagne "Wir sind die neue Mitte", die ist bürgerlich konservativ, zum Teil auch liberal. Dieser Spruch, "Leitkultur statt Multikulti", ist von der AfD entlehnt aus Nordrhein-Westfalen. Das ist ein rechtspopulistischer Ansatz und realitätsfremd. Wenn sie die Migranten wegrechnen, würde sich selbst ein Großteil der Österreicher nicht mit dem Maibaumaufstellen 1:1 identifizieren. Wenn sie also einen eher ländlichen Traditionalismus nehmen und sagen, das ist Leitkultur, dann würde vermutlich die Hälfte der Österreicher dagegen sein.
Ob die ÖVP damit politisch erfolgreich sein kann
Das Bemühen der ÖVP, als konservative, bürgerliche Partei zu sagen, wir müssen ein bisschen mehr ordnungspolitisch und sicherheitspolitisch stärker werden, uns nach rechts abgrenzen, ohne in den Rechtspopulismus zu verfallen, das ist eine Gratwanderung. Aber das müssen sie hinbekommen, da sind ihre Strategen gefragt. So wie das jetzt gemacht wird, ist das eher eine Form von Wankelmütigkeit. Man weiß nicht genau, was das eigentliche Anliegen ist.
Was das Problem ist
Es ist weltfremd. Also ich gehe mit meinen Kindern Ostereier sammeln, wir feiern auch Weihnachten. Ich schätze es, wenn man Dinge verbindet und das ist so viel mehr die Lebensrealität.
Ob der Begriff Leitkultur toxisch ist
Nein, ich finde eher problematisch, wenn man Begriffe zu schnell hochhypt und dann zu schnell verdammt.
Was seine Sorge ist
Meinungsfreiheit, Antirassismus, das sind für mich Teile einer Leitkultur. Was mir gegenwärtig eine bisschen Sorge macht: Wir leben zwar größtenteils im Wohlstand, in einer funktionierenden Demokratie, aber für sie einstehen tun wir schon längst nicht mehr. Das ist der Unterschied zwischen erkämpften Demokratien und eher sozusagen geerbten Demokratien. Das ist für uns viel zu selbstverständlich. Es ist gut, dass es selbstverständlich ist, aber das Bewusstsein, dass es hoch fragil ist und wir dafür Verantwortung tragen müssen, dafür braucht es ein demokratiepolitisches Ethos, das vermisse ich stark.
Wie ihn seine eigene Biographie diesbezüglich geprägt hat
Ich komme aus der Türkei, ich bin Kurde. Ich weiß, wie es ist, wenn Minderheiten wirklich für Rechte kämpfen und dass es nicht selbstverständlich ist. Ich habe das Gefühl, das verliert an Bedeutsamkeit, weil der Laden läuft auch ohne uns.
Ob eine Debatte über Leitkultur in Österreich durchführbar ist
Wenn wir es wirklich klug und vernünftig machen … der Begriff Heimat zum Beispiel. Vor allem dem ländlichen Teil bedeutet Heimat sehr viel. Die Frage ist aber, ob wir Heimat im Sinne eines protektionistischen Gedankens verstehen. Also sagen, Heimat ist, wo Fremde nicht da sind. Oder sagen, der Heimatbegriff hat gar keine Bedeutung. Das sind so zwei unterschiedliche Positionen. Oder man sucht einen dritten Weg, wir formulieren den Heimatbegriff im 21. Jahrhundert neu. Nicht exklusiv, also ausschließend, sondern auch neuen Menschen Räumen gebend, dass sie sich beheimaten können.
Was die Angst der autochthonen Bevölkerung dabei ist
Eine latente Angst vor Verdrängung. Was ist denn unsere Heimat noch? Und dann gibt es die Rechtspopulisten, die das ausnutzen. Ich finde, diese Leerstelle kann man vernünftig besetzen. Das wäre ein Thema.
Wie er den Streit über die Ramadan-Beleuchtung sieht
Es ist eine Frage, wie wir damit umgehen. Wie stark nehmen wir kulturell andere Bürger dieser Stadt mit in den öffentlichen Raum? Es gibt aber auch viele Menschen mit muslimischem Glauben, die das selber nicht wollen, weil sie sagen, das ist für mich eine zu starke religiöse Imprägnierung. Ich selbst feiere mit meinen Kindern Weihnachten. Das heißt, sie haben unterschiedlichste Gruppen, die Antworten suchen, aber wir umschiffen entweder diese Antworten, oder wir nutzen sie sehr stark rechtspopulistisch aus. Das zeigt einfach, dass wir uns nie mit diesen Fragen ernsthaft auseinandergesetzt haben. Unsere Reaktionen sind eigentlich noch sehr infantil.
Wie man Menschen die Angst nimmt
Man muss die Sorgen ernst nehmen, wirklich ernst, sehr oft versteht die Politik leider darunter eher nachplappern. Ich spüre etwa die Verdrängungsangst. Zum Beispiel Favoriten, das betrifft nicht nur die alte österreichische Bevölkerung, sondern sie können Migranten der ersten Generation fragen, die sagen ihnen auch, "das ist nicht mehr mein Favoriten". Wir haben manchmal eine zu starke symbolische Aufgeladenheit, das verunsichert.
Warum sich Zuwanderer mit ihrer neuen Heimat nicht verbunden fühlen
Wir machen sehr viele Workshops in Schulen. Vor drei Wochen hatten wir es mit Klassen in einer sehr guten Schule zu tun. 80 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund, fitte, aufgeweckte, feine junge Menschen. Die hatten zum Teil Leadership-Potential. 90 Prozent von denen sind hier geboren. Aber 80 Prozent fühlen sich eher mit dem Heimatland der Eltern verbunden. Obwohl sie hier geboren sind und obwohl sie Aufsteiger sind.
Was der Grund dafür ist
Wichtig ist, dass wir erkennen müssen: Wenn ich sage, sie müssen mich lieben, dann werden sie das nicht tun. Wir haben in Österreich so eine ausladende Integrationspolitik. Wenn ich Zugewanderte permanent wie Aussätzige anspreche, fühlen sie sich so. Die denken sich, die wollen mich doch nicht wirklich. Was dazu schon noch eine Rolle spielt, ist, dass Kinder durch die Erzählungen der Eltern deren Heimatland verklären.
Ob das Ziel von Integration nicht Lösung, sondern Verbesserung ist
Das ist eine sehr kluge Unterscheidung. Aber das sind auch Lernprozesse. Also wenn ich mich erinnere, mein Vater, meine Mutter. Wir sind aus den kurdischen Highlands zugewandert. Es war die Zeit der Hippies und der Miniröcke. Meine Mutter hat sich zwei, drei Tage nicht aus der Wohnung getraut, weil sie zum ersten Mal eine Frau mit Minirock gesehen hatte, die Fahrrad fährt. Das war für sie undenkbar. Als sich meine Mutter eine Hose gekauft hat, war mein Vater so entsetzt, dass er ein paar Tage mit meiner Mutter nicht gesprochen hat. Zehn Jahre später haben sie darüber gelacht.