Wahlkrampf

Kopfnüsse: Österreichs Leidenstour zur Leitkultur

In der Karwoche schickte die ÖVP das Land auf einen Identitäts-Kreuzweg. Nicht alle wollen sich darauf festnageln lassen.

Integrationsministerin Susanne Raab nach dem Expertengipfel am 28. März 2024 im Kanzleramt
Integrationsministerin Susanne Raab nach dem Expertengipfel am 28. März 2024 im Kanzleramt
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Am Karsamstag war ich zu Mittag einen Happen essen. Ich saß in einem Gastgarten in Wien, das Paar im mittleren Alter am Nebentisch bestellte eine Pizza Funghi und eine Pizza Tonno, nichts davon in der Ausführung Micky Maus-Teller. Dazu ließen sich die beiden zwei Spiegeleier kommen, die der Mann schwesterlich in der Mitte teilte. Danach legte er ein Ei in der Mitte seiner Pizza ab, die Frau ein Ei in der Mitte ihrer Pizza. Das sah sehr hübsch aus, hatte auch etwas Österliches an sich. Es schloss mutmaßlich eine Fastenzeit ab, die es nie gegeben hatte.

Als der Mann seine Pizza con uovo etwa zur Hälfte aufgefuttert hatte und ein Stück auf seiner Gabel gerade dem Verzehr entgegenbibberte, dreht er den Kopf zu seiner Frau hin und sagte, das Vorgängerstück immer noch kauend: "Was werden wir eigentlich heute am Abend essen?" Momentan kannst du in Österreich wirklich nirgendwo mehr hingehen, ohne dass du unmittelbar mit Fragen der Leitkultur konfrontiert bist.

Wenn Reptilien eine Kleinigkeit zu sich nehmen, dann brauchen sie ein paar Tage lang nichts. Sie liegen irgendwo herum und verdauen. Das kann der Österreicher nicht gut. Nun ließe sich einwenden, dass Schlangen ihre Nahrung eher runterwürgen, also dieser ernährungsberaterischen Empfehlung, vor dem Schlucken 40 Mal zu kauen, eher nicht Folge leisten, sondern den Vorgang auf einmal kauen verkürzen. Höchstens. Aber aus diesem Umstand heraus ergibt sich der erste Satz unserer künftigen Leitkultur-Verfassung fast von selbst: Ein echter Österreicher ist stets gut bei Appetit.

Expertenrunde mit dem Thema "Österreichische Identität und Leitkultur" am 28. März 2024 im Kanzleramt
Expertenrunde mit dem Thema "Österreichische Identität und Leitkultur" am 28. März 2024 im Kanzleramt
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Es gab in vergangenen Regierungen immer wieder bemühte Politiker, die sich mit dem Thema Medien auseinandersetzten. Die meisten hatten zu Beginn ihrer Tätigkeit recht wenig Ahnung von der Materie, sie wussten also nur ungefähr, wie die Buchstaben in die Seiten hüpfen und warum. Aber als sie ein paar Jahre später aus dem Amt ausschieden, kannte sich der Großteil ganz gut aus. Susanne Raab wird nicht unter diesen Verdacht geraten.

Sie hinterlässt medial ein ziemliches Scherbenfeld, das sich erst nach dem Ende ihres politischen Wirkens so richtig offenbaren wird. Vielen ist das vermutlich gar nicht so richtig bewusst, Raab am allerwenigsten. Ich gebe zu, es gibt genügsamere Themenfelder, die einer Ministerin zugewiesen werden können. Viele Medienschöpfer in diesem Land verfügen über eine recht gute Spürnase, sie erschnuppern, wenn es anderswo streng riecht. Die Fährte führt sie aber selten ins eigene Haus. Dieser Bedürfnismangel an persönlicher Einkehr wird oft mit forschem Auftreten kompensiert. Vor allem einer Ministerin gegenüber, die vom Fach ist, allerdings vom falschen.

Susanne Raab ist in ihrer Zeit im Amt nie zur Politikerin gereift. Sie ist ins Ministeramt gestolpert, weil Sebastian Kurz Zuspruch, Berechenbarkeit und Loyalität suchte und nichts Visionäres, schon gar nicht, wenn es nicht zu seinem eigenen Fortkommen nutzbar gemacht werden konnte. Raab blieb Zeit ihres politischen Lebens eine Verwalterin, nicht mehr, nicht weniger. Aufträge, die ihr zugeteilt worden waren, arbeitete sie so gut ab, wie sie ihr eben von der Hand gingen, und das hält sie nun auch bei der letzten großen Aufgabe so, die ihr der Kanzler übertragen hat: Österreich eine neue Leitkultur zu stiften.

Start der ÖVP Sommertour 2022 in Oberösterreich: Landeshauptmann Thomas Stelzer, Bundeskanzler, Karl Nehammer, Ministerin Susanne Raab
Start der ÖVP Sommertour 2022 in Oberösterreich: Landeshauptmann Thomas Stelzer, Bundeskanzler, Karl Nehammer, Ministerin Susanne Raab
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Es ist grundsätzlich keine abwegige Idee, sich über die eigene Identität Gedanken zu machen, vor allem wenn Identität und Gedanken zum Teufel gegangen sind. Die vergangenen 50 Jahre haben Österreich ohne Zweifel gravierend verändert, der Vorgang erfolgte schubweise, die Schübe in immer kürzeren Zyklen. Das Österreich von heute hat mit dem Österreich von früher immer weniger gemein, das Schauspiel findet noch immer in derselben Kulisse statt, aber Inhalt, Besetzung und Regie haben gewechselt.

Es ist kein Zufall, dass mittlerweile so gut wie alle Parteien im Land in ihrem Tun auf Bruno Kreisky Bezug nehmen. In den Siebziger Jahren, als Österreich letztmalig eine neue Leitkultur bekam, ohne dass sie so hieß, war vieles noch überschaubarer, die Politik, die Gesellschaft, das Leben. Einem solchen Staat eine neue Leitkultur zu zimmern, war ein einfacheres Gesellenstück. Das lag aber auch daran, dass eine andere Generation von Handwerkern in Verantwortung stand. Sie war aus anderem Holz geschnitzt.

Bei aller Glorifizierung der Sonnenkönig-Epoche muss einschränkend festgehalten werden: Politiker hatten natürlich auch schon damals vorrangig das eigene Wohlbefinden im Auge. Darüber hinaus hatten nicht wenige aber ein persönliches gesellschaftspolitisches Interesse an Veränderung, das sich mit dem parteipolitischen Interesse einmal besser, einmal schlechter vertrug. Debatten in diesem Spannungsfeld, innerhalb der Parteien, aber auch zwischen den Parteien, ergaben noch Sinn. Heute sind sie toxisch.

Jede Diskussion, die sich eine Partei unter den Nagel reißt, ist von diesem Zeitpunkt an kaputt. Ihr Ziel ist nicht mehr die Suche nach einer Lösung, sondern die Maximierung von Wählerstimmen, ein Erlös also. Diesen Job erledigen die Politiker selbst oder ihre Lager. Wann immer also eine Debatte aus der Gesellschaft hinein in die Politik getragen wird, hat sie damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben und so wird es auch diesmal sein.

Am Donnerstag dieser Woche lud die neue Leitkultur-Ministerin Susanne Raab zu einer ersten "Expertinnen- und Expertenrunde" ins Bundeskanzleramt. Zehn Personen, sieben Männer, drei Frauen, kamen, um über "Österreichs Identität und Leitkultur" zu sprechen. Die Runde war bunt zusammengewürfelt, sechs Personen gehörten einem "Expertenrat" an, dessen Gründung der Öffentlichkeit bisher entgangen war. Einer Expertin des geheimen "Expertenrates" war die Funktion "Leitung Bereich Werte und Orientierung" übertragen worden, offenbar verfügt der geheime "Expertenrat" schon über Untergruppen. Zumindest über eine.

Die Vorsitzende des geheimen "Expertenrates" ist die Juristin Katharina Pabel, Professorin an der WU Wien und Vorsitzende des Universitätsrates der Johannes Kepler Universität Linz, die SPÖ sieht in ihr eine "erzkonservative Abtreibungsgegnerin".

Drei Experten der ersten "Expertinnen- und Expertenrunde" sind offenbar keine Mitglieder des geheimen "Expertenrates", sie waren einfach so da. Ihre Expertise wurde einmal mit "Stellvertretender Direktor des Österreichischen Integrationsfonds" angegeben, in den beiden anderen Fällen allerdings musste schlicht "Professor" und "Universitätsprofessor" reichen.

Der "Spinatgipfel" am Gründonnerstag dauerte eine Stunde, dann war festgelegt, was nun passieren soll. Ich weiß natürlich, dass Spinat und Gründonnerstag nichts miteinander zu tun haben, aber das wäre doch eine lohnende erste Aufgabe für den geheimen "Expertenrat", in der Leitkultur-Verfassung nämlich festzulegen: Am Gründonnerstag isst der echte Österreicher Spinat. Die Untergruppe "Werte und Orientierung" könnte dann die Details festlegen, also Cremespinat oder Blattspinat.

Der geheime "Expertenrat" will nun einmal "bereits vorhandene Studien und Befragungen analysieren", es sollen "Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern aus der Praxis" geführt, eine "repräsentative Umfrage" in Auftrag geben werden und es soll weitere "Runde Tische" geben. Da ist gar nichts dagegen zu sagen, außer: es ist Wahlkampf.

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Und deshalb wartete die ÖVP die "Studien" und die "Gespräche" und die "Umfrage" und die weiteren "Runden Tische" erst gar nicht ab, sondern pflasterte das Internet schon die Karwoche über mit Sujets voll, um ihre Vorstellungen einer Leitkultur zu präzisieren. Das gelang nur in Teilen gut, einige Werbemittel wurden nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen, einige blieben, es kamen ein paar Satirestücke dazu, am Ende wusste niemand mehr so recht, was stammt eigentlich von der Volkspartei und was von der Tagespresse. Vielleicht ist das auch so ein Satz, der in die Leitkultur-Verfassung gehört: Österreich ist ein Land der Satire, ob es will oder nicht.

Auf einem der Werbemittel waren Männer in Tracht zu sehen, die einen Maibaum in die Höhe hoben, der Text dazu lautete: "Tradition statt Multikulti". Auf einem anderen ist eine Trachtenmusikkapelle abgebildet, darunter steht: "Das ist für die Leit-Kultur". Ein Sickerwitz, ich kläre das jetzt nicht auf, das Sujet wurde inzwischen zurückgezogen. Oder auch nicht. Den etwas windschiefen Satz "Wer glaubt, einer Frau nicht die Hand zu geben, weil sie 'unrein' ist, der muss gehen", hat die ÖVP auf ihre Instagramseite gestellt. Sprachliche Unreinheiten sollen offenbar keine Abschiebungen nach sich ziehen, ich nehme das mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis.

Die ÖVP gehört zu den vielen Rätseln, die Österreich seiner Bevölkerung momentan aufgibt. Über viele Jahrzehnte eine berechenbare, wertkonservative, aber nicht wertdogmatische Partei, wirtschaftsfreundlich, europaorientiert, in gewisser Weise weltläufig, religiös, aber durchaus tolerant, mittig eben. Nun nennt sie sich mittig, hält aber das Werkzeug der FPÖ in der Hand. Welchen Gewinn sie sich davon verspricht, nun erneut auf dieselbe Wand einzuhämmern, erschließt sich nicht ganz.

Die Freiheitlichen wollten sich das Thema Leitkultur nicht wegnehmen lassen. Der steirische Ex-Verteidigungsminister Mario Kunasek konterte mit dem Bild einer Osterjause, an der mein Pizza-Paar vom Nebentisch seine helle Freude gehabt hätte, vielleicht weil es auch die offene Frage, was man am Abend essen werde, geklärt hätte. Wurst, Schinken, Eier, Kren, Käse, ein aufgeschnittener Reindling, dazu der Text: "Karsamstag: Unsere Werte, unsere Feiertage". Der Spinatgipfel vom Gründonnerstag endete am Karsamstag in einer Schlachtplatte. Besser wurde die Auferstehung noch nie versinnbildlicht.

Bis zum Sommer soll die neue Leitbild-Verfassung fertig sein, versprach ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Das klingt ambitioniert, aber vielleicht hat die Volkspartei das Schriftgut in groben Zügen auch schon fertig und die "Studien" und die "Gespräche" und die "Umfrage" und die weiteren "Runden Tische" malen das Bild nur noch aus wie eine Mandala.

Margarete Schramböck, Karoline Edtstadler, ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Susanne Raab am 3. Jänner 2020 am ÖVP-Bundesparteivorstand in Wien
Margarete Schramböck, Karoline Edtstadler, ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Susanne Raab am 3. Jänner 2020 am ÖVP-Bundesparteivorstand in Wien
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Auch die Tiroler wollten nicht darauf warten, was aus Wien kommt, sie hatten schon während der Pandemie nicht die besten Erfahrungen damit gemacht. Die Tirol Werbung bat ein paar Agenturen, sich über ein neues Tourismus-Leitbild Gedanken zu machen, eine der Ideen tauchte diese Woche auf Social Media auf, zufällig, wurde versichert, ich habe da so meine Zweifel. Vielleicht wollte das listige Bergvolk den Erfolg von vor zwei Jahren wiederholen, da wurde in einem Video ein Krampus gezeigt, der auf einer Almhütte in seinen Latte Macchiato statt Kuhmilch Hafermilch wollte. Die gespielte Aufregung darüber war vom Werbewert her unbezahlbar.

Diesmal steht eine vierköpfige Familie in einer malerischen Berglandschaft, die Tochter gibt plötzlich einen kräftigen Rülpser von sich. Ihre Mutter schaut erst streng, rülpst dann auch ihrerseits, am Ende der Vater, der so laut und lang wie ein Vierzehnender am Ellmauer Tor. Auch diesmal ging in Tirol die Welt unter, die macht das dort oft. Ein Irrtum sei das alles gewesen, betonten die Verantwortlichen, das Video sei nur ein paar Sekündchen online gestanden. Wohl, wohl!

Wenn Susanne Raab jetzt gescheit ist, dann lässt sie sich das Video kommen und die Familie obendrein. Sie lädt zur Leitkultur-Pressekonferenz, auf der erst die Tochter, dann die Mutter, schließlich der Vater und wenn es sein muss auch die Ministerin selbst rülpst. "Ich habe das Verfahren etwas abgekürzt", könnte Raab danach sagen. "Das ist unsere neue Leitkultur. Sie spricht eine Sprache, die jeder versteht."

Ich wünsche einen wunderbaren Ostersonntag, ungerülpst, aber von Herzen!

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