roger federer
Federer-Methode: Was uns Tennis fürs Leben lehrt
Die Tennis-Legende wurde Ehrendoktor am Dartmouth College in New Hampshire – und hielt zum Dank die Abschlussrede für den Jahrgang 2024. Mit verblüffenden Erkenntnissen.
Die wirklich Großen ihres Fachs erkennt man immer an den selben Eigenschaften: Bescheidenheit, Gelassenheit, Humor, Selbstironie. Ebenfalls ganz oben in dieser Hitliste: Demut, vor allem wenn man neues Terrain betritt. So wie Roger Federer, als er dieser Tage die Abschlussrede für den Jahrgang 2024 am berühmten Dartmouth College in Hanover, US-Bundesstaat New Hampshire, halten durfte.
Tennisgott goes Ivy League Der Schweizer Roger Federer, der 2022 vom Profisport zurücktrat und als einer der besten und komplettesten Tennisspieler aller Zeiten gilt, wurde von der 1769 gegründeten Eliteuniversität (Studiengebühr ab ca. 63.000 Dollar pro Jahr), die zur so genannten "Ivy League" der acht exklusivsten Hochschulen der USA gehört, eingeladen, um vor den Absolventinnen und Absolventen des Jahrgangs 2024 zu sprechen. In den USA sind diese Abschlussveranstaltungen immer eine große Sache, und die Unis schmücken sich gerne mit prominenten und / oder einflussreichen Gastrednern – die vielfach aus dem Umfeld der Hochschule kommen.
"Zum zweiten Mal auf einer Uni" Bei Federer lag die Sache indes etwas anders. Der 1981 in Basel geborene Tennis-Superstar gab gleich zu Beginn seiner Rede freimütig zu, gerade erst zum zweiten Mal überhaupt einen College-Campus zu betreten. "Ich bin eigentlich nur hierher gekommen, um eine Rede zu halten, aber aus irgendeinem Grund verleihen sie mir einen Doktortitel", so Federer am Beginn seiner knapp 25-minütigen Ansprache. "Nun bin ich also Doktor Roger – das ist der unerwartetste Sieg meiner ganzen Karriere."
Was Federer nach Dartmouth führte Dann ließ der Schweizer die Katze aus dem Sack, weshalb er überhaupt vor den Studenten stand: "Tony Godsick ist mein Geschäftspartner, mein langjähriger Agent, einer meiner engsten Freunde und am wichtigsten … der stolze Vater von Isabella, Abschlussklasse 2024", erläuterte "Doc Roger" seine Verbindung mit dem Elite-College.
Schulabgänger mit 16 Dann erzählte Federer ein wenig von seinem eigenen Werdegang. Dass er die Schule mit 16 verlassen hat, um professionell Tennis zu spielen. Über seine sportlichen Erfolge schwieg er – Bescheidenheit. Etwa dass er insgesamt 20 Grand-Slam-Titel erobert hat, davon alleine acht Mal Wimbledon gewann (Rekord). Dass er insgesamt 310 Wochen an der Spitze der Tennis-Weltrangliste stand, davon 237 Wochen (= vier Jahre und sieben Monate) durchgehend (nächster Rekord). Oder dass er einer von nur zwei Spielern auf der Welt ist, der drei Jahre hintereinander in jedem Jahr zehn oder mehr Turniere gewonnen hat (der andere Spieler ist Rod Laver).
Rückzug - und wie weiter? Er sprach auch über seinen Rücktritt vom Profisport im Herbst 2022 – "ich weiß, das Wort dafür ist 'zurückgetreten' – aber das Wort ist furchtbar. Ich habe eine große Sache erledigt und wende mich nun der nächsten zu – so wie Sie", leitete Federer schließlich auf das eigentliche Thema seiner Rede über – die Zukunft der Absolventen des Dartmouth-Jahrgangs 2024. "Und so wie Sie bin ich gerade dabei herauszufinden, was die nächste große Sache sein wird."
"Ich weiß es nicht" Dass dieser Weg oft schmerzhaft ist, bestreitet der Sportstar a.D. gar nicht: "Ich weiß, wie es ist, wenn die Leute einen ständig fragen, was man für den Rest seines Lebens vorhat. 'Was machen Sie jetzt, da Sie kein professioneller Tennisspieler mehr sind?' Nun – ich weiß es nicht … und es ist okay, es nicht zu wissen." Aber, so Federer weiter, er habe aus den Jahren im professionellen Tennis einige Lektionen mitnehmen können, die sich auch im echten Leben als tragfähig erwiesen hätten. Und er gebe diese nun an die Abschlussklasse des Jahrgangs weiter, in der Hoffnung, dass die Lektionen auch den Dartmouth-Absolventen von Nutzen sein werden.
Lektion 1: "Mühelos ist ein Mythos"
"Die Leute sagten oft, mein Spiel sei mühelos. Meistens war das als Kompliment gemeint. Aber es frustrierte mich, wenn sie sagten: 'Er hat kaum geschwitzt!' Denn die Wahrheit ist, ich musste sehr hart dafür arbeiten, damit es einfach aussah. Ich habe jahrelang gejammert, geflucht, mit meinem Schläger geworfen, bevor ich gelernt habe, ruhig zu bleiben.
Der Weckruf kam zu Beginn meiner Karriere, als ein Gegner bei den Italian Open öffentlich meine mentale Disziplin in Frage stellte. Er sagte: 'Roger wird in den ersten zwei Stunden der Favorit sein, und danach bin ich der Favorit.' Zuerst war ich verwirrt. Aber irgendwann verstand ich, was er sagen wollte. Jeder kann die ersten zwei Stunden gut spielen. Du bist fit, du bist schnell, du bist klar. Aber nach zwei Stunden werden deine Beine wackelig, deine Gedanken beginnen abzuschweifen und deine Disziplin beginnt zu schwinden.
Dadurch wurde mir klar, dass noch viel Arbeit vor mir liegt. Meine Eltern, meine Trainer, alle hatten mich wirklich herausgefordert – und jetzt taten es sogar meine Rivalen. Ich sage danke! Ich bin ewig dankbar für das, was ihr getan habt. Also begann ich härter zu trainieren. Viel härter. Doch dann wurde mir klar: Die größte Leistung besteht darin, mühelos zu gewinnen.
Diesen Ruf habe ich mir dadurch verdient, weil mein Aufwärmtraining bei den Turnieren so locker war, dass die Leute nicht dachten, ich hätte hart trainiert. Aber ich habe hart gearbeitet ... vor dem Turnier, als niemand zusah. Ich habe es nicht nur durch mein Talent geschafft, dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin. Ich habe es geschafft, weil ich mehr gearbeitet habe als meine Gegner.
Wenn ein Spieler eine starke Vorhand hatte, habe ich versucht, seine Vorhand anzugreifen. Ich habe versucht, die Grundlinienspieler von der Grundlinie aus zu schlagen. Ich habe versucht, die Angreifer durch Angriffe zu schlagen. Ich habe versucht, die Netzstürmer vom Netz aus zu schlagen. Damit bin ich ein Risiko eingegangen. Aber ich habe es getan, um mein Spiel zu verbessern und meine Möglichkeiten zu erweitern.
Ja, Talent ist wichtig. Doch der Begriff 'Talent' ist weit gefasst. Meistens kommt es nicht darauf an, eine Gabe zu haben. Es geht darum, Courage zu haben. Disziplin. Und Geduld. Sich selbst zu vertrauen ist ein Talent. Das eigene Leben und sich selbst zu managen, kann auch ein Talent sein. Manche Menschen werden damit geboren. Jeder muss daran arbeiten.
Von heute an werden manche Leute annehmen, dass Ihnen alles leicht fällt, weil Sie Ihren Abschluss in Dartmouth gemacht haben. Und wissen Sie was? Lassen Sie sie das glauben."
Lektion 2: "Es ist nur ein Punkt"
"Sie können härter arbeiten, als Sie für möglich gehalten haben und trotzdem verlieren. Das habe ich getan. Tennis ist brutal. Es führt kein Weg daran vorbei, dass jedes Turnier auf die gleiche Weise endet. Ein Spieler bekommt einen Pokal. Alle anderen Spieler steigen wieder ins Flugzeug, starren aus dem Fenster und denken: 'Wie zum Teufel konnte ich diesen Schlag verfehlen?'
Auch ich habe verloren, manchmal sogar hoch. Eines der größten Spiele war für mich das Finale in Wimbledon 2008. Ich gegen Nadal. Manche nennen es das großartigste Match aller Zeiten. Es wäre noch viel, viel besser gewesen, wenn ich gewonnen hätte. Aber die Niederlage in Wimbledon war eine große Sache – denn ein Sieg bedeutet hier alles. Es gibt nichts Vergleichbares.
2008 strebte ich den sechsten Titel in Folge an und damit einen neuen Rekord. Ich spielte um Geschichte. Fast fünf Stunden, um genau zu sein. Es kam zu Regenverzögerungen, die Sonne ging unter. Rafa gewann zwei Sätze, ich gewann die nächsten beiden Sätze im Tiebreak und im fünften stand es 7:7. Die letzten Minuten war es schon so dunkel, dass ich kaum die Kreide auf dem Rasen sehen konnte. Rückblickend habe ich heute das Gefühl, dass ich schon beim ersten Punkt des Spiels verloren hatte.
Ich dachte damals: 'Der Typ ist vielleicht hungriger als ich.' Erst im dritten Satz fiel mir wieder ein: 'Hey, du bist der fünffache Titelverteidiger! Und du spielst auf Rasen. Du weißt, wie das geht.' Aber das kam zu spät und Rafa gewann. Manche Niederlagen tun mehr weh als andere. Ich wusste, dass ich nie wieder die Chance auf sechs Siege in Folge bekommen würde. Aber ich wusste, was ich tun musste: weiterarbeiten.
Von den 1.526 Einzelspielen, die ich im Laufe meiner Karriere gespielt habe, habe ich fast 80 Prozent gewonnen. Aber wie viele Prozent der Punkte habe ich in diesen Spielen gewonnen? Nur 54 Prozent. Mit anderen Worten: Selbst Tennisspieler der Spitzenklasse gewinnen kaum mehr als die Hälfte der Punkte, die sie spielen. Wenn man im Schnitt jeden zweiten Punkt verliert, lernt man, nicht über jeden Schlag nachzudenken. Man bringt sich selbst bei, zu denken: 'Es ist nur ein Punkt.'
Diese Einstellung ist entscheidend, denn sie gibt Ihnen die Freiheit, sich voll und ganz dem nächsten Punkt zu widmen, und dem darauffolgenden. Die Wahrheit ist, egal welches Spiel Sie im Leben spielen, manchmal werden Sie verlieren. Ein Punkt, ein Spiel, eine Saison, ein Job. Es ist eine Achterbahnfahrt mit vielen Höhen und Tiefen. Und es ist ganz natürlich, an sich selbst zu zweifeln, wenn es einem schlecht geht. Übrigens: Auch Ihre Gegner haben Selbstzweifel. Vergessen Sie das nie.
Aber negative Energie ist verschwendete Energie. Die Besten der Welt sind nicht die Besten, weil sie jeden Punkt gewinnen. Sondern weil sie wissen, dass sie verlieren werden, immer und immer wieder – und gelernt haben, damit umzugehen."
Lektion 3: "Das Leben ist größer als der Tennisplatz"
"Ein Tennisplatz ist eine kleine Fläche. 200 Quadratmeter, um genau zu sein. Ich habe viel gearbeitet, viel gelernt und bin auf diesem kleinen Raum viele Kilometer gelaufen. Aber die Welt ist viel größer. Schon als ich gerade anfing, wusste ich, dass Tennis mir die Welt zeigen könnte – aber Tennis könnte nie die Welt sein.
Selbst als ich unter den ersten Fünf war, war es mir wichtig, ein Leben zu haben, ein lohnendes Leben voller Reisen, Kultur, Freundschaften und vor allem Familie. Ich habe meine Wurzeln nie aufgegeben und nie vergessen, woher ich komme. Aber ich habe auch nie die Lust verloren, diese große, weite Welt zu sehen.
Ich war begeistert, die Welt zu bereisen. Schon früh wurde mir klar, dass ich anderen Menschen in anderen Ländern helfen wollte. Motiviert von meiner südafrikanischen Mutter gründete ich eine Stiftung, die Kindern durch Bildung hilft. Bislang haben wir fast drei Millionen Kindern zu einer guten Ausbildung verholfen und über 55.000 Lehrer ausgebildet. Es war eine aufregende Reise und ich habe das Gefühl, dass wir erst am Anfang stehen und noch so viel zu lernen haben.
Tennis hat mir so viele Erinnerungen beschert. Aber auch meine Erfahrungen abseits des Tennisplatzes trage ich mit mir. Die Orte, die ich bereisen durfte, die Plattform, die es mir ermöglicht, etwas zurückzugeben. Und vor allem die Menschen, die ich auf meinem Weg getroffen habe. Tennis ist wie das Leben ein Mannschaftssport. Ja, Sie stehen allein auf Ihrer Seite des Netzes. Aber Ihr Erfolg hängt von Ihrem Team ab. Ihre Trainer, Ihre Teamkollegen, sogar Ihre Rivalen, diese Einflüsse tragen dazu bei, Sie zu dem zu machen, was Sie sind.
Auch eine Familie ist ein Team. Ich bin so glücklich, dass meine unglaubliche Frau Mirka, die jede Freude in meinem Leben noch schöner macht, und unsere vier wunderbaren Kinder Myla, Charlene, Leo und Lenny heute hier bei mir sind. Und was noch wichtiger ist: Wir sind jeden Tag füreinander da.
Als ich mit dem Tennis aufgehört habe, wurde ich ein ehemaliger Tennisspieler. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass es unglaublich, tief und wunderbar aufregend ist, eine vertraute Welt hinter sich zu lassen und eine neue zu entdecken. Egal für welches Spiel Sie sich entscheiden, geben Sie Ihr Bestes. Machen Sie Ihre Aufnahmen. Spielen Sie frei. Probieren Sie alles aus. Und vor allem: Seien Sie nett zueinander und haben Sie Spaß da draußen."