"Bürgerkrieg"
Rassistische Krawalle: Ist Großbritannien nur der Auftakt?
Ein Messermann ersticht drei Mädchen, 6, 7, 9 Jahre alt. Seither toben Straßenschlachten in 30 Städten, es gibt Plünderungen, hunderte Festnahmen. Das ist neu an den Unruhen, so werden sie organisiert. Und: Kann es das auch bei uns geben?
Es sind teils apokalyptische Bilder. Wer die aktuellen Nachrichten aus Großbritannien verfolgt, könnte meinen, das Land befinde sich kurz vor einem Bürgerkrieg – oder vielleicht sogar bereits mitten drinnen. In mehr als 30 Städten des Landes kam es in den vergangenen Tagen zu teils massiven Ausschreitungen und Auseinandersetzungen eines großteils rechtsextremen Mobs mit der Polizei.
Szenen wie aus einem Film Autos – auch Polizeiwagen – wurden angezündet, Moscheen, Geschäfte von Zuwanderern und Hotels, die angeblich als Unterkünfte für Asylwerber dienen, von hunderten Randalierern belagert und gestürmt. In vielen Vierteln herrscht Ausnahmezustand, die Polizei hat 4.000 zusätzliche Beamte abgestellte, mehrere Dutzend wurden bereits verletzt.
Was die Situation zusätzlich brisant macht: Gleichzeitig organisieren sich auch immer mehr Zuwanderer, gehen ebenfalls auf die Straße oder verteidigen ihr Hab und Gut, ihre Moschee, teils mit Waffengewalt. Für die gerade erst neu gewählte Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer stellen die Ausschreitungen eine schwere Belastungsprobe dar, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist. "Diejenigen, die bei dieser Gewalt mitgemacht haben, werden mit der vollen Härte des Gesetzes konfrontiert", sagte Starmer. Aber viele bezweifeln, dass die Regierung – auch wegen der schon hoffnungslos überfüllten Gefängnisse – zu Härte überhaupt in der Lage ist.
Attentat auf Kinder als Auslöser Ausgangspunkt für die Unruhen war der grausame Mordanschlag eines 17-Jährigen auf einen Tanzkurz von sechs- bis zwölfjährigen Mädchen in der nordwestenglischen Stadt Southport am Montag, dem 29. Juli, bei dem drei Mädchen starben. Rasend schnell verbreitete sich in der Folge das Gerücht, der Täter sei ein illegal eingewanderter Muslim gewesen. Es stellte sich bald als falsch heraus, aber da war der Mob nicht mehr aufzuhalten. Es kam es zu den ersten gewalttätigen Protesten und sie bekamen rasch Zulauf.
Was steht Großbritannien noch bevor? Aktuell deutet nichts auf eine Entspannung hin, es sieht eher danach aus, als würde sich die Situation weiter aufschaukeln. Nicht allein die Intensität der Gewalt auf den Straßen nimmt laufend zu, auch einige Meinungsführer auf Social Media gießen weiter Öl ins Feuer. Auch Elon Musk, Eigentümer von Tesla, vor allem aber von "X", mengt sich ein, spricht von einem Bürgerkrieg, der "unvermeidlich" sei.
Social Media als Brandbeschleuniger Manches ist neu an diesen Protesten. Etwa: Der Grad der Organisierung ist gering. Es gibt, soweit derzeit erkennbar, keinen zentralen "Veranstalter", sondern einzelne Gruppen oder Einzelpersonen verabreden sich über die sozialen Medien, die eine zentrale Rolle in dem Konflikt einnehmen. Über sie wird die Menge aufgepeitscht.
Kann das auch bei uns passieren? Der deutsche Politikwissenschafter und Publizist Peter Neumann leitet am Londoner King's College das "Internationale Zentrum zur Erforschung von Radikalisierung". Er beleuchtet in einer aktuellen Publikation die Ursachen für die gegenwärtige Situation und analysiert, wie groß die Gefahr ist, dass der Funke auch auf Kontinentaleuropa überspringt. Was sind nun die Hintergründe der Unruhen und welche Gefahr geht von ihnen für ganz Europa aus:
Was geschieht gerade in Großbritannien?
Seit knapp einer Woche, konkret seit Dienstag, dem 30. Juli, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen zumeist Rechtsextremen und der Polizei. Bisher waren mehr als 30 Städte Schauplätze der Proteste, darunter Metropolen wie Liverpool, Manchester, Bristol, Belfast, Sunderland, Leeds, Hull oder Middlesbrough. In den meisten Fällen werden Moscheen oder Einrichtungen attackiert, die mit Immigranten in Verbindung gebracht werden, etwa Geschäfte oder soziale Einrichtungen.
Auch zu Plünderungen soll es gekommen sein. In mehreren Städten wurden zudem Hotels Ziel des Mobs, in denen angeblich Asylwerber untergebracht sind. Dabei wurden Scheiben eingeschlagen, Steine auf die Polizei geschleudert, Brandsätze geworfen und Autos angezündet. Teilweise kommt es zu regelrechten Straßenschlachten, bei denen Polizeieinheiten zu Pferd oder mit Hunden gegen die Demonstranten vorgehen.
Was ist das Ziel der Demonstranten?
Es geht immer um das Thema Einwanderung. Die Randalierer wollen einen harten Umgang mit illegalen Einwanderern, fordern Abschiebungen und sie nehmen dafür das Gesetz in die eigene Hand. Großbritannien hat eine Vergangenheit als Kolonialmacht, das Vereinigte Königreich hat über viele Jahrzehnte Einwanderern aus ehemaligen Kolonien den Zuzug ins "Mutterland" leicht gemacht. Dazu kam die Migrationsbewegung nach 2015, vor allem über den Ärmelkanal.
Die aktuellsten Zahlen stammen aus 2022. Da wanderten über 1,1 Millionen Menschen nach Großbritannien ein, gleichzeitig verließen etwa 550.000 Menschen das Land wieder. Somit stieg die Netto-Zahl der Zugezogenen um mehr als 550.000 Menschen und das in einem einzigen Jahr.
Wer beteiligt sich nun an den Randalen?
Nach Beobachtungen der britischen "Times" ist es eine sehr inhomogene Mischung an Menschen, die hier zusammengefunden hat. Es seien demnach einerseits rechtsextreme Aktivisten und Schläger ("Hooligans") auf der Suche nach Kämpfen, andererseits aber auch lokale Bevölkerung, die wütend über die zunehmendn Einwanderung in ihre Wohnviertel ist. Dazu würden laut "Times" zahlreiche Schaulustige, Mitläufer stoßen, aber auch Schüler, die während der Schulferien auf der Suche nach "Entertainment" seien.
Der Oberbürgermeister von Liverpool, Richard Kemp, machte im Sender "Sky News" drei Motive bei den Demonstranten aus: "Manche Leute sind verärgert – nicht aus den richtigen Gründen, aber sie sind es –, manche wollen sich einfach nur prügeln und einige wollen lediglich Zigaretten und Geld aus der Kasse klauen."
Was war der ursprüngliche Auslöser für die Ausschreitungen?
Der Mord an drei kleinen Mädchen in der 97.000 Einwohner zählenden nordwestenglischen Küstenstadt Southport am Montag, dem 29. Juli. In dem Tanzstudio "Hart Place" fand ein Sommerkurs für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren statt. Es wurde zur Musik von Superstar Taylor Swift getanzt, zwei Tanzlehrerinnen leiteten den Kurs.
Ein 17-jähriger junger Mann stürmte mit einem Messer bewaffnet das Tanzstudio und stach scheinbar wahllos auf die Kinder ein. Drei Mädchen – Bebe (6), Elsie (7), und Alice (9) starben dabei. Acht weitere Mädchen sowie zwei junge Frauen, die sich dem Angreifer entgegenstellten, wurden verletzt, einige lebensgefährlich. Zwei der verletzten Mädchen konnten mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen werden.
Was hat dieses Verbrechen mit Asylwerbern zu tun?
Direkt gar nichts, wie sich rasch herausstellte. Aber auf Social Media verbreitete sich die Falschmeldung nach dem unfassbaren Anschlag auf die Kinder wie ein Lauffeuer, wurde größer und größer. Der Täter sei ein muslimische Aslywerber, der illegal ins Land gelangt sei, diese Botschaft wurde Tausendfach geteilt.
Es wurden auch – falsche – Namen verbreitet, sowie das Gerücht geschürt, dass der britische Auslandsgeheimdienst MI6 den Täter unter Beobachtung gehabt hätte. Alles Falschinformationen, wie später bekannt wurde. Doch die Fake News waren der sprichwörtliche Funke, der ein Pulverfass entzündete. Auf rechtsextremen Social-Media-Accounts werden die getöteten Mädchen nach wie vor als Opfer einen Zugewanderten inszeniert.
Wer ist der mutmaßliche Täter?
Unmittelbar nach dem Angriff wurde von der Polizei ein 17-Jähriger festgenommen, der in einer Ortschaft etwa acht Kilometer von Southport entfernt wohnt. Zeugenaussagen zufolge sei er direkt vor dem Tanzstudio aus einem Taxi gestiegen und in das Gebäude gegangen. Zu den möglichen Motiven des 17-Jährigen machte die Polizei zunächst keine Angaben, sie schloss aber einen terroristischen Hintergrund rasch aus. Mittlerweile ist bekannt, dass es sich bei dem jungen Mann um Axel R. handelt. Seine Eltern stammen aus Ruanda und waren vor seiner Geburt nach Großbritannien eingewandert, der mittlerweile 17-Jährige kam in Wales zur Welt.
Wie geht es mit Axel R. weiter?
Am Donnerstag, dem 1. August, wurde er in Liverpool unter massiven Sicherheitsvorkehrungen erstmals dem Gericht vorgeführt. Dem 17-Jährigen werden dreifacher Mord und zehnfacher versuchter Mord vorgeworfen. Die Anhörung dauerte nur fünf Minuten, der Verdächtige sagte dabei kein Wort, versuchte nur, sein Gesicht mit dem Pulli seines Jogginganzuges so gut wie möglich zu verdecken.
Weshalb ist sein Name überhaupt bekannt?
Weil das britische Recht anders ist. Da Axel R. noch minderjährig ist, müsste er eigentlich volle Anonymität genießen. Doch der Richter hob diese Bestimmung explizit auf und erlaubte, seinen kompletten Namen (den Newsflix nicht veröffentlicht) zu nennen. Er begründete den Entschluss damit, dass auf diese Art weitere Fehlinformationen und Falschmeldungen vermieden werden sollen.
"Eine vollständige Berichterstattung zu diesem Zeitpunkt weiterhin zu verhindern", habe den Nachteil, dass es dadurch anderen ermöglicht werde, "Unfug zu treiben und weiterhin im Vakuum Fehlinformationen zu verbreiten", so der zuständige Richter in Anspielung auf die zahlreichen Social-Media-Gerüchte unmittelbar nach der Tat. An der Eskalation der Situation konnte das allerdings nichts ändern.
Gibt es ein mögliches Motiv für die Tat?
Laut Staatsanwaltschaft sei bei Axel R. eine "Störung aus dem autistischen Spektrum" diagnostiziert worden, wie die BBC meldete. Der 17-Jährige sei in der Vergangenheit "über einen gewissen Zeitraum nicht bereit gewesen, das Haus zu verlassen und mit seiner Familie zu kommunizieren". Nach der Anhörung am 1. August wurde der Verdächtige zunächst in einer Jugendeinrichtung untergebracht. Am 25. Oktober soll danndie nächste Anhörung stattfinden. Sollte sich 17-Jährige dabei schuldig bekennen, gäbe es keinen Prozess und das Gericht könnte sofort eine Strafe aussprechen – bei Mord wäre das nach britischem Recht zwingend lebenslange Haft.
Aber wieso ebben die Proteste dann nicht ab?
Weil sie offenbar sehr geschickt immer wieder neu angefacht werden, und zwar primär von einer bestens organisierten und vernetzten Gruppe von rechtsradikalen Online-Influencern, die ihre Anhänger vor allem auf der Social-Media-Plattform "X" mobilisieren.
Wer sind diese rechten Influencer?
Immer wieder genannt wird der Brite Tommy Robinson, der eigentlich Stephen Yaxley-Lennon heißt. Er ist einer der Gründer der "English Defence League", einer rechtsextremen und islamfeindlichen Gruppierung. Robinson kommuniziert mit seinen hunderttausenden Followern primär über "X" und schaffte es dort, binnen kürzester Zeit tausende Demonstranten zu mobilisieren. Robinson lebt derzeit im Ausland, angeblich aus Furcht vor Strafverfolgung.
Ebenfalls über zigtausende Follower verfügt der bekannte Schauspieler Laurence Fox, der ebenso vor allem "X" als Plattform für seine immer wieder fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Einlassungen nützt. Fox stammt aus einer der bekanntesten Schauspiel-Dynastien der Insel, sein Vater ist James Fox (85, u.a. "Die Stunde der Patrioten", "Mickey Blue Eyes"), sein Onkel Edward Fox (87, u.a. "Der Schakal", "Mord im Spiegel"), er selbst wurde mit der Krimi-Serie "Lewis – Der Oxford-Krimi" bekannt.
Auch der amerikanische Influencer und Unternehmer Andrew Tate, dem in Rumänien wegen Menschenhandel und sexueller Ausbeutung von Frauen der Prozess gemacht werden soll, gilt als Multiplikator rechter Ideen. Er gehört zu den bekanntesten Figuren auf Social Media und bekam vor allem durch seine offen frauenfeindlichen Statements Millionen Fans.
Was hat Elon Musk mit der Sache zu tun?
Der "X"-Eigentümer und Multimilliardär tut sich immer wieder durch fragwürdige Postings hervor. Erst am vergangenen Sonntag postete er mit Bezug auf die Ausschreitungen in Großbritannien, dass ein Bürgerkrieg "unvermeidlich" sei. Zudem hat er nach der Übernahme von X die Social-Media-Plattform wieder für zahlreiche rechte und rechtsextreme Poster geöffnet, die von den früheren Eigentümern verbannt worden war Etwa der "English Defense League"-Gründer Tommy Robinson.
Was macht die britische Regierung?
Der neue Premierminister Keir Starmer kündigte am Montagnachmittag ein hartes Durchgreifen gegen die Randalierer an. Ausdrücklich sprach er nicht nur den Mob auf der Straße an, sondern auch alle Aktivisten, die online agieren und zu Gewalt aufrufen – sie würden ebenfalls die volle Härte des Gesetzes erfahren. Er sprach von einem "stehenden Heer von 4.000 spezialisierten Beamten", die eingesetzt werden sollen.
Und die Justiz?
Der Premierminister kündigte auch an, dass die Strafverfahren beschleunigt würden. Es habe bereits Hunderte Festnahmen gegeben, einige Straftäter wären bereits den Gerichten vorgeführt worden. Laut Medienberichten sollen Gerichte in Schnellverfahren rund um die Uhr Urteile gegen Protestteilnehmer fällen.
Eine ähnliche Maßnahme hatte die britische Regierung bereits 2011 ergriffen. Damals kam es tagelang zu Ausschreitungen, nachdem ein schwarzer Brite von einem Polizisten erschossen worden war. Laut BBC wurden 3.000 Menschen festgenommen und über 1.900 von ihnen angeklagt oder verwarnt. Für das Vorgehen der Justiz verantwortlich war damals der heutige Premier, Keir Starmer, der seinerzeit als Direktor des Crown Prosecution Service die Strafverfolgung koordinierte.
Wie konnte die Situation derart eskalieren?
Für den deutschen Politikwissenschafter und Publizisten Peter Neumann vom "Internationalen Zentrum zur Erforschung von Radikalisierung" am Londoner King's College ist die Qualität der aktuellen Proteste neu, was an mehreren Faktoren liege, wie er in einem Online-Essay ausführt. Demnach würde das Zusammenspiel zwischen maßgeblichen Influencern, einem geschickten "Content Creating" auf Social Media (vor allem TikTok, Telegram und X) sowie einer großen Zahl an protestbereiten Menschen den Nährboden schaffen, auf dem die Proteste gedeihen könnten. Neumann: "Bemerkenswert ist nach Expertenmeinung außerdem die hohe Beteiligung von Frauen und älteren Menschen."
Gibt es auch eine Spur nach Russland?
Neumann deutet es an: "Noch am Tag der Morde (an den kleinen Mädchen, Anm.) tweetete der Account eines fiktiven Fernsehkanals, dass der Täter ein unter Terrorismusverdacht stehender Asylwerber gewesen sei. Die Falschmeldung verbreitete sich innerhalb weniger Stunden fünf Millionen Mal. Zwei Tage später stellte sich heraus, dass der Account in Russland registriert wurde und bereits während der Pandemie Desinformation verbreitet hatte."
Das würde auch zu Erkenntnissen passen, die bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2024 bekannt wurden. Demnach gebe es eindeutige Hinweise darauf, dass Russland gezielt Migrantenströme aus Afrika und Asien nach Europa leite, um die Länder und Gesellschaften zu destabilisieren.
Könnte das, was in Großbritannien geschieht, auch bei uns geschehen?
Politikwissenschafter Neumann ist sich dessen sicher: "Was sich seit einer Woche in Großbritannien abspielt, ist in vielerlei Hinsicht neu und sollte überall in Europa genau beobachtet werden. Denn im Prinzip lassen sich die (…) Faktoren in allen westlichen Demokratien aktivieren." Und der Forscher weiter: "Aus ihnen könnte eine Art 'Drehbuch' entstehen, mit dem die extreme Rechte auch in anderen Ländern soziale Unruhen mobilisiert. Weder Sicherheitsbehörden noch Zivilgesellschaft haben hierauf bisher eine adäquate Antwort. Und gerade mit den sozialen Medien tun sich viele Extremismusbekämpfer nach wie vor schwer."